Verdammt ewig zu schwimmen

Im Kino Aleksandr Sokurov macht uns zu Balltänzern auf der »Russischen Arche«

Warum besaßen die großen Nostalgiker des Kinos nur ein solches Faible für Plansequenzen, für in einer einzigen Einstellung gedrehte Szenen? Weshalb haben Max Ophüls, Luchino Visconti und Orson Welles stets lange, raumgreifende Kamerabewegungen verwandt, um den Glanz untergegangener Epochen zu beschwören? Vielleicht, weil die reine Bewegung schon das Statische, Abgelegte der Vergangenheit für einen Moment widerlegt, sie zum Leben erweckt. Bestimmt auch, weil die Kamera wie im Rausch alles erfassen, festhalten soll, was sich ihr an Schauwerten bietet. Bei aller Melancholie, allem Wissen um die Vergeblichkeit, liegt zugleich etwas Affirmatives in dieser Geste, ein Vergnügen an Schauspiel, Tanz und Musik. Der Abgesang ist diesen Regisseuren nur als Fest vorstellbar. Nicht von ungefähr kulminieren ihre Filme meist in einer Ballszene; man erinnere sich nur an Viscontis Der Leopard.

In der Plansequenz steckt insgeheim die Sehnsucht, dass sie nie enden möge, sich in die Ewigkeit verlängern ließe. Diese Erzähltradition führt Alexander Sokurov in Russian Ark in ihre vorerst letzte, gewiss für lange Zeit nicht mehr zu überbietende Konsequenz (die endgültige wäre es wohl, eine Einstellung tatsächlich überhaupt nicht mehr enden zu lassen): Sein Film besteht aus einer einzigen, fast 90minütigen Kamerafahrt. Die Dreharbeiten in der Petersburger Eremitage vollzogen sich in einer kaum vorstellbar ausgeklügelten Logistik.

Anderthalb Kilometer soll der deutsche Kameramann Tilman Büttner mit seiner Steadycam zurückgelegt und dabei drei Dutzend Räume durchmessen haben. Behände musste er dabei die Brennweiten verschieben, um jedem eine eigene Aura von Tiefe und Weite zu geben. 200 Lichtquellen wurden zusätzlich installiert. Die Detailgenauigkeit Sokurovs stellte selbst Viscontis legendäre Besessenheit in den Schatten: über 1.000 Statisten mussten in Originalkostüme gekleidet und exakt dirigiert werden. Obendrein stand für die Dreharbeiten nur der kürzeste Tag des Jahres zur Verfügung: lediglich am 23. Dezember war die Museumsleitung bereit, ihre Räume für den Publikumsverkehr zu schließen. Damit ein solches Kunststück akrobatischer Präzision gelingen kann, muss ein Regisseur wohl ein Despot sein.

Es scheint, als wolle Sokurov in der Sphäre des Kunstfilms den Superlativ so ungehemmt suchen, wie es sonst nur die Blockbuster Hollywoods tun. Mit nobler, kunstsinniger Geste führt er das Kino zu seinem Ursprung zurück: als Sensation, die das Publikum der Jahrmärkte in den Bann schlug. Das Drehen in einer Einstellung bedeutet allerdings nicht nur einen technischen Kraftakt, sondern auch einen einzigen, ungeteilten Blick. Er besiegelt den Anspruch einer unbedingten Autorenschaft, zumal sie aus dem Off von einer Erzählerstimme begleitet wird, die man unbesehen mit Instanz und Person des Regisseurs gleichsetzt. Der Erzähler gibt sich anfangs zu erkennen als Überlebender einer rätselhaften, vieldeutigen Katastrophe. Umso kostbarer erscheint uns alles, was wir fortan zu sehen bekommen. Wir müssen es uns als ein Vermächtnis vorstellen.

Gleichviel, ob das Spektakuläre ein ungewollter, in jedem Fall jedoch publicityträchtiger Aspekt seines Unternehmens ist, ragt diese Ausschweifung als ein Solitär aus Sokurovs Werk heraus. Russian Ark wirkt wie ein monumentales Durchatmen, das seine klaustrophobisch-stickige Trilogie über Gewaltherrscher des 20. Jahrhunderts unterbricht, die er mit Moloch (über Hitler und Eva Braun) begann, mit Taurus (über Lenins letzte Tage) fortsetzte und mit einem Film über den japanischen Kaiser Hirohito abschließen will. Umso erstaunlicher mutet es an, wie inbrünstig, geradezu jubilierend die Kamera Prunk und Pracht des Zarenreiches zelebriert; als seien sie für den Regisseur ein unerschöpflicher Quell der Nostalgie. Das Museum wird zu einem Familienalbum, in dem mit jeder Seite, jeder Tür eine weitere Epoche eröffnet wird.

Die ununterbrochene Plansequenz fingiert dabei eine Einheit von Ort und Zeit, die traumverlorene Führung durch drei Jahrhunderte russischer Geschichte ist von fragiler Realität. Russland scheint alterslos, eine wundersam erhaltene Welt ohne Vergangenheit und Zukunft; die verschiedenen Epochen begegnen und überlagern einander, gehorchen nur vage einer Chronologie. Die schlendernde, sich dem Rausch der Beweglichkeit hingebende Kamera erschließt sich die Geschichte als Folge von tableaux vivants, fasst vorzugsweise das Glanzvolle, Prächtige ins Auge. Die Wahl des Drehortes gibt bereits eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte vor, deren düstere und schwarze Kapitel - man denke an die Pogrome - kann der Film in seiner Erzähllogik aussparen. Die verlustreiche Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg streift er, die große Revolution kommt (selbstverständlich) nicht vor. Ein Strang russischer Mentalitätsgeschichte ist an diesem Ort allerdings trefflich aufgehoben: Peter der Große öffnete das Imperium für europäische Einflüsse, und wollte Petersburg als kosmopolitische Stadt erschaffen. Die ersehnte, aber letztlich stets verfehlte Anbindung an den Westen, mithin der Zweifel an den eigenen Kulturleistungen zieht sich als Motiv durch den gesamten Film. Die russische Arche scheint in Sokurovs Augen dazu verdammt, ewig schwimmen zu müssen, ohne je anlanden zu dürfen.

Der Marquis (Sergei Dreiden), den es als unverhofften Führer in Sokurovs Eskapade verschlagen hat, ist dafür ein heikler Gewährsmann. Dieser verirrte Zeitzeuge geht auf eine verbürgte Gestalt zurück: Marquis de Custine, der als glühender Monarchist aus dem nachrevolutionären Frankreich floh und skandalträchtige Memoiren über seine Zeit in Russland verfasste. Welcher Part ist ihm zugedacht, welches Schauspiel wird hier aufgeführt: Russland erscheint ihm als ein einziges Theater, in dem er rasch seinen Platz einnehmen will. Die Rolle des Führers trägt ihm der Film mit einer Aura überwundenen, in kundiges Staunen verwandelten Fremdseins an. Der Marquis gibt sich als feixender, faszinierter Zeremonienmeister der historischen Miniaturen, in die er hineinplatzt: Er wird verwundert Zeuge, wie Peter der Große einen General auspeitscht und wie Katharina die Zweite dringend eine Toilette sucht. Es liegt stets eine Indiskretion in seinem abschätzigen Schlendern, er ist dünkel- und mitunter rüpelhaft; seine Versuche, sich Tanz und Schauspiel anzuschließen, wirken so lustvoll wie anmaßend. Mit dem Off-Erzähler unterhält er ein mokantes Zwiegespräch; als Außenseiter sind sie aneinander gekettet. Dieser Eindruck des Entrücktseins wird von der rätselhaften deutschen Synchronfassung noch verstärkt: sie übersetzt kaum mehr als die Dialoge der Beiden, belässt die Hintergrundgespräche meist im russischen Original.

Pracht und Schönheit bleiben beiden Zeitreisenden letztlich unfassbar. Ihre Vergänglichkeit ist den Bildern eingeschrieben, wir betrachten eine Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist. Der letzte Ball, den die Zarenfamilie der Romanows 1913 im Winterpalast gab, bildet den Rahmen des Films. Sokurovs und Büttners Kamera hat den Zuschauer zum Tanz eingeladen, nun muss er das Fest gemeinsam mit ihr auch verlassen. Im gedämpften Lärm und Geplauder der riesigen Statistenheere wirken Überschwang und Erregung des Festes noch weiter. Derart von Opulenz umfangen, ist der Gang aus dem Palast ein wehmütiger Abschied, in ihm steckt aber auch ein Hochgefühl. Die Kamera hat uns die Illusion verschafft, Teil einer Gesellschaft zu werden, die wir nie kannten. Die es vielleicht auch nie gab.

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