Vom Nichtsnutz lernen

Film Italiens Kino, das ist der Autorenfilm! So der Konsens. Doch auch die Komödien der 60er Jahre hatten Wichtiges zu erzählen
Ausgabe 18/2019

Im italienischen Vigevano dreht sich das gesamte Leben um Schuhe. Die Stadt ist ein Zentrum der Schuhindustrie, die zu Beginn der 1960er Jahre floriert. Aber während die Fabrikbesitzer Vermögen anhäufen, fristet die Familie von Antonio Mombelli ein karges Dasein. Er ist nur Volksschullehrer. Selbst nach diversen Beförderungen wird er seiner Frau nie das mondäne Leben bieten können, von dem sie träumt. Die Titelfigur in Elio Petris Il maestro di Vigevano (1963) ist eine Paraderolle für Alberto Sordi, eine Quintessenz des eitlen und opportunistischen Kleinbürgers. Das Tempo seines beschwingten Schritts wird bestimmt von Selbstüberschätzung und Unterwürfigkeit, wacker ringt er mit der eigenen Korrumpierbarkeit – und ist selbst doch stets das zuverlässigste Werkzeug der eigenen öffentlichen Demütigung. Dieser Mombelli ist in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselgestalt der „commedia all’italiana“, des lange unterschätzten und im Vergleich zum italienischen Neorealismus stets herabgewürdigten Genres. Das Berliner Kino Arsenal widmet ihm im Mai eine Retrospektive, die es möglich macht, solch überkommene Sichtweisen zu revidieren.

Zwar setzt die Filmreihe auch die anderen Stars der großen Zeit der italienischen Komödie in ihr Recht: Vittorio Gassman, das Mannsbild in der Krise, sowie Ugo Tognazzi, dessen Figuren sich der eigenen Virilität noch unsicherer sind, der dafür aber eine wehmütige Färbung ins Rollenfach des Komödianten bringt. Aber mit insgesamt acht Filmauftritten ist Sordi der unbestrittene Protagonist der Retrospektive.

Das ist insofern triftig, als er ein echter Volksschauspieler war: zwar Kassenmagnet, aber letztlich ein repräsentativer Charakterdarsteller. Die italienischen Kinogänger nannten ihn vertraulich „unser Albertone“. Er war einer von ihnen, teilte ihre Sorgen. Seine Leinwandfiguren leben in der Furcht, die Achtung ihrer spottenden Ehefrauen zu verlieren. Auch als Erwachsener trägt er noch sein trauriges Lausbubengesicht, ein unerlöstes Kind, das mit dem Kompromiss, dem alltäglichen Verrat an früheren Idealen hadert.

Wie das Schicksal von Sordis Figuren ist auch die Geschichte der „commedia all’italiana“ eine Chronik der fortgesetzten Kränkung. Zwar war sie mehr als zwei Jahrzehnte lang das ökonomische Rückgrat der italienischen Filmindustrie, stand aber stets im Schatten des gefeierten Autorenfilms. Zwischen den Genres herrschte eine sorgfältig gepflegte Feindschaft. So versuchte Luchino Visconti als Jurymitglied in Moskau zu verhindern, dass Luigi Comencini 1960 für Tutti a casa den Großen Preis bekam. Im Gegenzug machte Dino Risi nie einen Hehl aus seinem Argwohn, wie ein vergiftetes Kompliment in Il Sorpasso (1962) belegt: Da preist der Lebemann Bruno (Gassman) Michelangelo Antonioni als großartigen Regisseur – in dessen Filmen man sich stets bei einem Nickerchen erholen könne.

Die „commedia all’italiana“ war gewissermaßen das Übergenre des italienischen Nachkriegsfilms. Sie infizierte alle anderen Gattungen und errichtete eine eigentümliche Fallhöhe, indem sie das Komische jäh ins Tragische umkippen ließ. Als 1958 einer der Einbrecher in I soliti ignoti (Diebe haben’s schwer) ohne dramaturgische Not von einer Straßenbahn überfahren wurde, erweiterte Mario Monicelli die Zuständigkeiten der Komödie radikal. Für ihn war eine Komödie ohne die Präsenz des Todes eine Lüge.

Von der dogmatischen Filmgeschichtsschreibung wurde die „commedia all’italiana“ als burlesker Verrat am Neorealismus verleumdet; namentlich in Westdeutschland, während sie in der DDR durchaus als volkstümliche Alternative zu Hollywood geschätzt wurde. Dabei ist der „neorealismo rosa“ dessen böse lächelnde Fortsetzung und betrachtet die sozialen Widersprüche keineswegs durch eine rosafarbene Brille. Vielmehr summiert sich die „commedia all’italiana“ zu einer Kulturgeschichte vom Kriegsende bis in die 80er. Sie erkundet die falschen Werte einer Gesellschaft, die mit dem Boom heillos materialistischer wird, spürt dem Unbehagen nach, das dem rasanten gesellschaftlichen Wandel innewohnt. Sie geht die sozialen Konflikte mit leichter Hand an: das ökonomische Ungleichgewicht der Regionen, die Verfilzung von Verbrechen und Justiz, von Kirche und Politik. Die Familie zeigt sie als Institution, die den Fortschritt verhindert.

Das Genre legt eine Galerie nuancenreicher Archetypen an: den egoistischen Nichtsnutz, den faulen Opportunisten, den scheinheiligen Katholiken, den Schürzenjäger, der sich weigert, erwachsen zu werden. Wie die Masken der klassischen Commedia dell’Arte stehen sie für menschliche Schwächen und regionale Eigenheiten. Kaum vorstellbar, dass ein anderes Land bereit wäre, sich mit solcher Inbrunst von seiner schlechtesten Seite zu zeigen.

Sarkastisch, zärtlich, skeptisch

Die Bewegung war zugleich eine Verschwörung der Talente. Sie brachte Regisseure mit unverwechselbarer Handschrift hervor: Luigi Comencini verlieh der Komik eine humanistische Relevanz, in der sich Schadenfreude, Grauen und Scham miteinander mischen; Pietro Germi lancierte mit Divorzio all’italiana (1961) einen Zyklus ätzender Sittenstudien der patriarchalischen Gesellschaft; Monicelli entzauberte die nationalen Mythen und war stolz darauf, nie eine Liebesgeschichte erzählt oder einen sentimentalen Film gedreht zu haben; Antonio Pietrangeli zeichnete mit zärtlichem Sarkasmus einnehmende Frauenfiguren; Dino Risi war der skeptische Chronist des Booms, dem man die Lehrjahre im Dokumentarfilm anmerkt, und das Kino von Ettore Scola schließlich schillert zwischen Kammerspiel und Zeitpanorama.

In der Berliner Retrospektive lässt sich zugleich entdecken, wie entscheidend dieses Kino von seinen Drehbuchautoren geprägt wurde. Sie nahmen die Losung Cesare Zavattinis, des großen Szenaristen und Theoretikers des Neorealismus, beim Wort: „Folgt dem Mann auf der Straße und hört euch seine Geschichte an!“ Gespanne wie Age & Scarpelli oder Scola und Ruggero Maccari suchten ihre Stoffe in den „Vermischten Nachrichten“. Die bevorzugte Erzählstruktur ihrer Komödien ist die Horizontale (im Gegensatz zum Hollywoodkino, das lieber vertikal auf Höhepunkte zusteuert): Sie folgen, als Pikareske oder Roadmovie, allein der Bewegung der Figuren. Dabei gerät das Porträt unweigerlich zum gesellschaftlichen Rundblick.

Wie nebenbei erzählen die Filme von der Entwurzelung der Arbeitsemigranten aus dem Süden, von der Misere der Vorstädte und der Erfahrung der Deklassierung. In den 1950er Jahren spielen sie noch zwischen Ruinen, Brachland und rasant emporwachsenden Wohnsilos. Früh findet die „commedia all’italiana“ ihr zentrales Thema, den maßgeblichen Impuls ihrer Charaktere, der sie in den folgenden Jahrzehnten bestimmen soll: das Überleben. Ihre Grundierung sind Armut, Hunger und Findigkeit. Die Gauner in Diebe haben’s schwer kennen die Paragrafen des Gesetzbuches besser als ihre Anwälte.

Raffinement und Einfallsreichtum dieser Komödien verdanken sich wesentlich dem Umstand, dass sie in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Die langjährige Partnerschaft der Darsteller, Regisseure und Autorengespanne fungierte stets als ein Korrektiv, als fortwährende Überprüfung der Ideen. Das beschert ihren Filmen unverhoffte Wendungen. Der gescheiterte Einbruch in Diebe haben’s schwer mündet nicht etwa in der Flucht vor der Polizei. Die verhinderten Juwelendiebe finden sich stattdessen in einer Küche zusammen und entdecken dort Reste vom Abendessen. Zerknirscht, aber unverzagt fachsimpeln sie über das beste Rezept dafür, Pasta und Bohnen zu kochen.

Eine derart vielstimmige Kreativität eröffnet andere Perspektiven, die Brüche im Erzählton lassen die physische Komik zu existenziellen Erfahrungen werden: Im Leben lauert immer noch ein neuer Hinterhalt. Diese erzählerische Beharrlichkeit, einer Situation nach der Pointe einen weiteren Dreh zu geben, entspricht der sarkastischen Konsequenz der „commedia all’italiana“. Sie kennt keine Tabus, macht vor nichts halt. Ihre Respektlosigkeit ist unbedingt. Sie steckt voller Todesfälle, versuchter oder gelungener Morde und Selbstmorde. Von der Verzweiflung zum Spott braucht es nur einen Atemzug, einen Kameraschwenk.

Info

Commedia all’italiana Kino Arsenal, Berlin, 3. bis 31. Mai 2019

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