... auf dem Ku´damm gingen die Lichter aus

Die Kunst zwischen Event und Accident Die 41. Berliner Festwochen zeigten in unruhigen Zeiten eine vergangene Moderne und den allgegenwärtigen Hang zu den Methoden des Kabaretts

So war es. Am 26. April 1933 spielte Artur Schnabel in der Berliner Philharmonie einen Zyklus sämtlicher Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Tags darauf verließ der große Pianist Deutschland, um zu Lebzeiten nicht wieder zurückzukehren. Er starb 1951 in der Schweiz.

Nun aber ist er doch gekommen. Die Familie übergab vor einem Jahr seinen Nachlass der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, und die stellte ihn nun der Öffentlichkeit vor - in einer Ausstellung samt instruktivem Katalog, in einem Symposium und in einer Serie von 15 Konzerten. Für Beethoven und Schönberg, die man diesmal zu den klassischen "Composers in residence" erhoben hatte, bedürfte es in Berlin keines Festivals, man kann sie immer hören. Werner Grünzweig, der Leiter der Akademie-Archive, war der Inspirator der Schnabel-Retrospektive: ein Präsent an Berlin, nicht hoch genug zu würdigen. Daniel Libeskinds Jüdisches Museum öffnete ebenfalls im September seine Pforten. Wer Ohren hatte zu sehen, konnte ein Berlin erleben, wie es einmal war und doch nie existierte - den Reichtum der deutsch-jüdischen Kultur und die frevelhaften Untaten ihrer Vertreibung. Denn neben dem Geist regierte immer auch der Ungeist; der marschierte denn auch am 3. Oktober über die Straßen, und auf dem Ku´damm gingen die Lichter aus.

Nicht als Pianist kehrte Artur Schnabel heim, sondern als Komponist. Die Konzerte präsentierten seine unbekannten Kompositionen. Auftauchend aus dem Dunkel der Zeiten, erschien eine Kunst von tiefem Ernst und grübelnder Einsamkeit. Es mochte am meisten erstaunen, dass dieser deutsche Rachmaninow keine Virtuosenstücke geschrieben hatte, sondern in jenem Idiom der Moderne komponierte, dem er sich als Interpret verweigerte. In der sonderbarsten Weise fielen Schnabels pianistische und kompositorische Bestimmungen auseinander. Paul Dessau, mit dem er befreundet war, beschwor ihn 1941, Schönbergs Klavierkonzert aufzuführen. Das lehnte er ab. Aber das 5. Streichquartett, das er in jenem Jahr schrieb, bewegt sich in Schönbergs Klangwelt - ein zerklüftetes Stück aus Empfindsamkeit und Härte. Wagner und Strauss standen ihm fern, nahe der späte Beethoven und der karge Brahms. Das Freiburger Pellegrini-Quartett brachte vielleicht nicht völlig die Kompromisslosigkeit auf, die Schnabels Musik erfordert. Einige Tage später hörte ich das 3. Streichquartett von 1922 in einer überzeugenderen Interpretation durch das Berliner Petersen-Quartett. Eine versunkene Kultur tönte aus dieser Musik, eine Moderne, die vergangen ist. Der nicht kleine Saal der Akademie am Hanseatenweg war immer gefüllt. Es gibt ein Gespür für Qualitäten beim Berliner Publikum. Aber die akademische Initiative wäre ohne das kostbare Markenschild der Festspiele verpufft.

Man hat darüber gerätselt, ob Schnabel nun ein Vorläufer oder Nachläufer von oder eine Alternative zu Schönberg gewesen sei. Solche Vergleiche hinken. Schnabels Kompositionen sind die vom klassischen Werk gelösten Interpretationen eines genialen Pianisten, eher Anleitung zum Musikverständnis als selbst Musik. Wir treten gleichsam in die Denk-Werkstatt eines Musikers ein. Auch wenn er sie nicht so gemeint hat, sind es kongeniale Interpretationsanleitungen. Was hört man? Kein Furioso, sondern ein komplexes "Bild" ineinander verflochtener Stimmen, einen orchestral gedachten Satz. Die Erinnerung an Liszt oder Rachmaninow liegt fern. Wenn einmal ein Walzer, ein Ländler zitiert wird, dann wirkt es wie eine auf einen Felsen gemalte Blume in zerklüfteter Landschaft. Vielleicht nicht eine große Musik, aber gewiss eine große Kultur tritt uns entgegen. Eine Kultur, die strikt alles meidet, was im modischen Schwange ist und mit dem Wort "Event" insofern falsch umschrieben wird, weil es sich gewöhnlich nicht um Ereignisse handelt. Sie hießen besser "Accident".

Zu diesen muss man ein Stück rechnen, das sich betitelte Ballett h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach, eine "Deutsch-Chinesische Koproduktion" mit dem Ballett des Opernhauses Shanghai, dem Chor Jauna Muzika aus Vilnius und den Bach-Solisten Berlin: "Cross over" der Kulturen. Wenn man das übersetzt als Fähigkeit, mit unzureichenden Mitteln einen Gedanken auszudrücken, den man nicht hat, dann war das ein voller Erfolg. In dem einstigen Hause Erwin Piscators, das heute Haus der Berliner Festspiele heißt, sah man ein ungenießbares Konglomerat von provinzieller Bach-Interpretation und chinesischer Tanz-Akrobatik, dessen treffenderer Titel vielleicht gewesen wäre "Die Händler verjagen Jesus aus dem Tempel". Der in Berlin lebende chinesische Professor Zhou Chun, einst Dolmetscher Mao Tse-Tungs, bemängelte am "China-Fest", das eine Parallelveranstaltung der Festwochen war, dass es nichts vom heutigen China zeigte. Es wäre hinzuzufügen: vom heutigen Deutschland auch nichts.

Das Gegenstück dieses Missvergnügens war im gleichen Hause The Noise of Time mit dem Londoner Théatre de la Complicité und dem New Yorker Emerson Quartett. Das 15. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch wurde in einer fulminanten theatralischen Aktion aufgeführt. Radios wirbelten wie in der Laterna magica durch den Raum, aus Stimmen, Gesten, Bewegungen Zitaten, Musikfetzen formte der Regisseur Simon McBurney ein Feature über ein Künstlerleben. Dieses lärmvolle Zeit-Rauschen mündete in absolute Stille und Dunkelheit, aus der sich wie aus dem Nichts der Klagegesang des Quartetts erhob. Die Emersons spielten das ungeheure, sechs Adagio-Sätze umfassende Requiem auswendig, stehend, sitzend, im Raum umherlaufend, in Korrespondenz mit den vier Schauspielern. Man saß wie verzaubert und tief betroffen.

Trotzdem ist ein Trotzdem zu sagen. Die Krise des heutigen Theaters erscheint im Gelungenen mehr noch als im Missglückten. Es grassiert eine Feigheit vor dem Text. Regisseure sind nur noch Versatzstück-Monteure. Assoziation und Symbol ersetzen die Mimesis. Das Schau-Spiel gerät zum Schau-Bild, das Aha-Erlebnis verdrängt die Katharsis. Es ist dies die Methode des Kabaretts; nie geht es ihr ums Kunstwerk, immer um den "Witz". Kent Nagano dirigierte die 9. Sinfonie von Anton Bruckner, vervollständigt durch Schönbergs Monodram Erwartung, das vor dem Adagio eingeschoben wird. Statt einer Sinfonie erlebte man deren Zerstörung. Schauspieler treten nackt auf in einer Budapester Woyzeck-Aufführung, denn wenn sie schon nichts zu sagen haben, brauchen sie auch nichts anzuziehen. Das sind sicher tiefe Gedanken, nur leider von sonst wem statt von Bruckner oder Büchner.

Das Eventhafte bestimmt und verformt heutiges Kunstverständnis. Es wurde zur Genüge geboten. Der Zyklus aller neun Beethoven-Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern unter Simon Rattle war eines - eine überflüssige Inszenierung von "Authentizität"; es wäre besser gewesen, Eulen nach Athen zu tragen. Vielleicht war es aber nur ein Vergeltungsschlag, denn im Frühjahr hatten die Berliner Philharmoniker dem Wiener Publikum die gleichen neun Sinfonien vorgespielt.

Claudio Abbado immerhin begann vor zwölf Jahren mit Neuem. Rattle, der kommende Chef der Berliner Philharmoniker, fährt die Zeit zurück. Mag es Zufall gewesen sein, so setzte es doch auch ein Zeichen, dass im Festwochenprogramm aus Schönbergs umfangreichem Werk an Rattle die romantischen Gurre-Lieder fielen, an Abbado der Überlebende aus Warschau. Freilich erblühten die Gurre-Lieder in einem morbiden opernhaften Glanze, und Thomas Quasthoff, der kleine Mann mit der großen Stimme, gestaltete das Schluss-Melodram Des Sommerwindes wilde Jagd ergreifend. Doch der karge, wilde Klang des Überlebenden trifft ins Herz, er zerreißt den Schleier der bequemen Illusionen. Er ist uns näher. In Dietrich Fischer-Dieskau fand Schönberg einen Anwalt, der vielleicht zu emphatisch sprach, aber uns doch wissen ließ, es geht um das notwendig zu Sagende und nicht den schönen Schein der Deklamation.

In Claudio Abbados Schönberg-Abend, der die Festspiele eröffnete, spielte Peter Serkin dessen Klavierkonzert; hier schloss sich ein Kreis, denn dieser New Yorker Pianist ist der Sohn von Artur Schnabels Berufs- und Exilgefährten Rudolf Serkin. Er spielte es wie ein Schumannsches Konzert, auf der Suche nach der versunkenen Poesie in dem disharmonischen Kosmos Schönbergs. Serkin erlebte ich drei Tage später ein zweites Mal. Es war der 11. September, an dessen Morgen das World Trade Center in New York untergegangen war, und man wusste nicht, ob er überhaupt spielen würde. Aber er spielte. Die Klavierstücke von Schönberg klangen wie eine Trauermusik. In tiefem Schweigen folgte das Publikum der dunklen Musik. Die Zugabe ließ vollends den Atem stocken: das Ricercar aus dem Musikalischen Opfer von Johann Sebastian Bach.

Die Festwochen aber stehen am Scheidewege. Das heutige Berlin ist ein anderes als das jener Zeit, als man in beiden Halbstädten attraktive Festivals einrichtete. Ulrich Eckhardt hat das westliche über Jahrzehnte mit glücklicher Hand geführt. Jetzt werden die alten Dekorationen abgeräumt. Man hört aber auch ein einschneidendes Geräusch, das ist die große Schere, mit der der Staat die betagten Narrenkappen stutzt, und manchmal dringt ein Geheul durch die Nacht, wenn versehentlich ins Fleisch geschnitten wurde. Aber kann man sich so eine Hauptstadt zurechtschneiden und zurechtschnipseln? Da entsteht Flickwerk; der Ehrgeiz, der auf bunte Lappen geht, erntet spöttisches Gelächter. So ist es mit einer anderen Handschrift nicht getan. Berlin muss sich auch künstlerisch erneut beweisen. Man könnte eine Hauptstadt träumen, in der Künste und Künstler gehört werden, weil sie etwas sagen. Eine solche Hauptstadt gab es bisher nicht. Aber diejenigen, die das für ein Accident hielten, sind noch da.

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