Als ich eingeladen wurde, am Kulturprogramm des Deutschen Pavillons auf der EXPO2000 mitzuarbeiten, fielen mir die Chaostage von Hannover ein - randalierende Demonstranten in den Straßen, von der Polizei verknüppelt und geschlagen, und ich dachte, das geht nicht gut. Ein Irrtum. Die Chaoten kamen nicht.
Am Anfang stand die Frage: Was machen wir? Und Peter Baumgardt, an den nach dem Tode von August Everding die Leitung des Kulturprogramms gefallen war, ein agiler Mittvierziger aus dem Süddeutschen, verordnete, wir stellen Deutschland dar vermittels der Kultur, und zwar der modernen, avantgardistischen. Dem Neuen und Unerwarteten sollte der Besucher begegnen. Er berief sich auf Everding, was mich verblüffte, denn der, ein weltläufiger Theatermann der alten Schule, war
chule, war zu seinen Lebzeiten eher ein phantasievoller Parteigänger des allgemein Erwarteten gewesen.Gleichviel, ein solches Programm wurde entworfen. Es war das größte und aberwitzigste Festivalprogramm, das man sich vorstellen kann. Hans Werner Henze und Karlheinz Stockhausen, Werner Fritsch und Durs Grünbein, Udo Zimmermann und Aribert Reimann erschienen dort unvergleichlich viel öfter als Goetheschillerlessing oder Bachbeethovenbrahms. Was die renommierten Festivals selten wagen, das gelang im August- Everding- Saal, denn so nannten wir unsere Veranstaltungsstätte. Vor der Eröffnung machte sich Skepsis breit. Denn es ist eine Sache, einen kühnen Plan zu entwerfen, und eine andere, ihn zu realisieren. Das erste Stück war ein Traumspiel, TagNachtTraumstaub von Annette Schlünz. Ein Mann (der Schauspieler Siemen Rühaak) träumt sein Leben und seine Frauen, und weil er sich nicht entscheiden kann, weigert er sich aufzuwachen, und am Ende gehen die Frauen weg. Das war keine Staatsaktion und kein Dekorationstheater. Die Musik war sanft und heftig, ohne Sentimentalität, die Musiker wanderten um den Saal, die beiden geträumten Frauen (Isolde Siebert und Annette Elster) und die beiden Traum-Ichs des Mannes (Christopher Lincoln und Martin Weichert) fuhren mit sonderbaren Haus-Vehikeln, die Daniel Depoutot aus Strasbourg entworfen hatte, über das Podium, das sich weit in den Saal erstreckte. War so etwas noch Theater? War es realistisch und zukunftsaufgeladen? Entsprach es dem optimistischen Idealismus, den die EXPO-Ideologen verbreiten wollten. Es war nichts von alledem.Es war ein Gegenprogramm zu dem verbreiteten Weltausstellungs-Optimismus, der mit den Problemen ihre technische Lösbarkeit suggerierte. Es war ein Gegenprogramm zur Event-Kultur, zur Fun-Gesellschaft und dem Unterhaltungsdelirium. Aber es gab auf dieser EXPO eben alles - das Unterhaltungsdelirium und das Nachdenken, Globalisierung und Besinnung auf das individuelle Leben, Kommerzialismus und Natürlichkeit. Wir waren, wie sich später zeigte, als auch wir das Riesengelände erwandert hatten, nicht allein. Im Nachhinein erscheint mir, als ob diese Seite der EXPO in den Berichten zu kurz kam. Sie war geradezu ausgeblendet. Heimat, Natur, Individuum waren die Themen in vielen Pavillons, und nicht durch wirkliche oder virtuelle technische Leistungen wollten sich die Nationen darstellen, sondern durch ihre Natur und ihre Kultur. Das war der große Widerspruch der Veranstaltung. Der universelle Technisierungsanspruch wurde unübersehbar konterkariert durch kulturelle Selbstreflexion, und man kann unschwer voraussagen, dass künftige Weltausstellungen diesen Weg weiter verfolgen werden.Die Geschichte der Eröffnungspremiere glich einer theatralischen Odyssee und dass sie zustande kam, war ein Wunder an Diplomatie, Enthusiasmus und Initiative. Die Leipziger Oper und ihr Intendant Udo Zimmermann, der große Traumtänzer des modernen Theaters, waren unsere Kooperationspartner. Aber nacheinander ging ihnen alles aus - Geld, Orchester, Solisten, Dirigent. Auch die Partitur traf nicht ein. Erst sechs Wochen vor der Premiere hatte sie der Verlag. Und alles traf wieder ein, am Ende sogar ein Dirigent, Eberhard Kloke aus Berlin, der sich als ein ebenso souveräner Musiker wie Organisator erwies. Es gab vier Vorstellungen, und nach jeder diskutierten die Theaterleute mit den Besuchern bis spät in die Nacht. Es war ein Nerv getroffen.Von da an rollten die Premieren und Uraufführungen wie eine Lawine. Was wir erdacht, angeregt und bestellt hatten, kam nun auch wirklich an und wollte um jeden Preis stattfinden. Die Besucher füllten Tag für Tag den Saal. Manche kamen bis zu 50mal, obwohl sie für jeden Abend den EXPO-Eintrittspreis zu entrichten hatten. Es gab in 153 EXPO-Tagen im August-Everding-Saal des Deutschen Pavillons über 120 Uraufführungen, darunter 15 Theaterstücke, das meiste jedoch musikalische Werke. Alicja Mounk, eine Dirigentin und Professorin aus Karlsruhe, entwarf die Konzertreihe "musik20", Prof. Gerd Albrecht aus Hamburg konzipierte ein "Junges Forum" mit 34 Konzerten mit hochtalentierten junge Musikschülern, Preisträgern des Bundeswettbewerbs "Jugend musiziert", Brigitte Landes, eine Autorin und Dramaturgin aus Hamburg, organisierte das Literaturfest "Wörter:Welt", und der Bariton Prof. Yaron Windmüller aus Saarbrücken entwarf zusammen mit dem Berliner Pianisten Axel Bauni ein Festival des modernen Klavierliedes unter dem Titel Lied:Strahl. Ob das Tanzspiel Dornröschen II von Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth aus Saarbrücken, die Performance À l'interieur de la vue des Kölners Johannes S. Sistermanns, elf neue Klavierliederzyklen, die später sogar bei edition zeitklang in einer Serie von drei CDs erschienen, das satirisch-utopische Musiktheaterstück Befreiung aus dem Paradies von Katja Willebrand und Markus Beck mit der Improvisationsmusik des jungen Müncheners Jörg Widmann - all das waren Plädoyers für die Moderne. Nicht Schuberts Erlkönig war der Hit, sondern Die Menschheit von Steffen Schleiermacher oder Herzfalter von Charlotte Seither oder die Neuen Dichter Lieben auf Liebesgedichte 20 zeitgenössischer Autoren von dem jungen Münchener Moritz Eggert. Den Abschluss unseres Programms Ende Oktober bildeten vier Komponistenporträts von Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Hans Werner Henze. Alle großen deutschen Städte waren mit ihren Künstlern in Hannover vertreten.,aber keine Stadt ärger als Leipzig. Es entsandte seine drei größten Komponisten - Steffen Schleiermacher, Bernd Franke und Johann Sebastian Bach. Steffen Schleiermacher brachte ein bescheidenes Klavierlied zu Gehör. Es hieß Die Menschheit, und hinterher kommentierte er gegenüber der verdutzten Moderatorin Margerethe Zander mit den sybillinischen Worten: "Die Gattung hat keine Zukunft." Bernd Franke startete eine gewaltige musikalische Performance für Joseph Beuys unter dem Titel Solo xfach, und für Johann Sebastian Bach gab es anläßlich seines 250. Todestages zwei "Bach-Tage". David Geringas spielte mit seinen Schüler die sechs Solo-Cello-Suiten, der action-Künstler Erwin Stache aus Beucha bei Wurzen ließ seine abstrusen Klangsäulen mit Bach-Fragmenten durch den Saal fahren, und Peter Schreier dirigierte in einer ergreifenden Aufführung die h-Moll-Messe.Dieses Programm war deshalb nebenbei auch ein Plädoyer für die Provinz und den Kunst-Föderalismus. Leider erschienen die Politiker nur selten und nahmen das nicht zur Kenntnis, und ihre getreuen beamteten Paladine ließen nicht selten exponierte Programme durch harmlose Folklore ersetzen, wenn sich Landespolitiker angesagt hatten. Der Begriff von der "Verfassungsfolklore", den der überraschend abhanden gekommene Kulturminister Michael Naumann geprägt hatte, erhielt einen realen Inhalt. Es gibt sie wirklich. Der Krieg, den wir mit den Ländervertretern zu führen hatten, betraf vor allem sie. Einige von ihnen verstanden unter Kultur Volkstänze, Delikatess-Würstchen, Wein und Sauerkraut und betrachteten Messer und Gabel als wirksame Waffen gegen die moderne Kunst.Politiker mit anderem Kulturverständnis sind meist keine mehr. Oskar Lafontaine diskutierte mit der Meininger Regisseurin und Theaterdirektorin Christine Mielitz und dem Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka über Wagners Ring-Tetralogie und arbeitete am Beispiel Wagners das heraus, was er die "Grundfrage unserer Zeit" nannte: wie Geld und Demokratie in Übereinstimmung gebracht werden können. Auch Björn Engholm saß auf der Bühne und stritt mit Vytautas Landsbergis und dem litauischen Cellisten David Geringas über die Möglichkeiten der Kultur in der Politik. Das Resultat fiel mager aus, und am Ende resignierte er: "Dass Kultur und Politik zusammengehen können, glauben Sie das ja nicht. Das sind zwei verschiedene Welten.""Was ist deutsch?" war die Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Woche "Grenzgänge" zog. Eigentlich sollte es um künstlerische Grenzüberschreitungen gehen, aber die 55 Künstler, die der Hamburger Fernsehjournalist Roger Willemsen befragte, überschritten die Grenze zur Politik und sprachen von ihrer Liebe zu einem demokratischen und progressiven Deutschland, auf dem aber noch immer die Hitlerschuld lastet, die sich bis heute im Alltag der Menschen zeigt. Der französische Filmemacher André Wilms antwortete auf die Frage: Was repräsentiert für Sie Deutschland? mit einem Dichternamen: "Hölderlin!" Der ungarische Komponist Ferenc Snétberger: "Johann Sebastian Bach - das ist für mich Deutschland." Der argentinische Tänzer und Choreograf Ismail Ivo: "Gustav Mahlers Kindertotenlieder." Und die amerikanische Sängerin Jocelyn B. Smith: "Kurt Weill und Marlene Dietrich" - Das sind deutsche Namen. Sie sollten uns nachdenklich stimmen, denn es sind meist die Namen von Ausgestossenen. Hölderlin. Gustav Mahler. Kurt Weill. Marlene Dietrich. Da atmet man fast auf, wenn da türkisch-deutsche Schauspieler Bülent Kullukcu, der in einem bayrischen Dorf geboren ist, nicht Schiller oder Goethe für besonders deutsch hält, sondern: "Die Maggiflasche. Weil die nur in Deutschland geduldet wird, nirgends woanders." Die australische Tänzerin Jo Ann Endicott aber antwortete: "Ich finde, das Brot. Auch der Spruch: Ich muß erst das Brot verdienen. Das Brot zu machen, das Brot zu kneten, das passt ganz toll zu den Deutschen." Kann man etwas Schöneres über ein Land sagen?Doch vom Brot lesen wir wenig in unseren Geschichtsbüchern, mehr vom großen Brotvertilger, dem Kriege, von der "nationalen Ehre" und neuerdings auch noch von der nationalen Leitkultur der CDU/CSU. Der Thekenwirt im Foyer des August Everding Saals sagte mir treuherzig, die Leitkultur sei schon ganz richtig, die könne er immer gebrauchen. "Leitkultur, das ist doch das Bier und der Wein und der Schnaps. Das ist die einzige Kultur für die Leit, wenn ihnen alles andere fortgenommen worden ist, die Arbeit, der liebe Gott und das Vergnügen."Ende November war ich zum letzten Mal auf dem EXPO-Gelände. Es ist leer. Die Container haben alles abtransportiert. In der Preussag Arena findet jetzt endlich die kommerziellen "Events" statt. Nachts grölen nun auch manchmal Besoffene über das verregnete Gelände. Das hat es ein halbes Jahr lang nicht gegeben. Das alltägliche Chaos ist wieder eingezogen. Lebten wir sechs Monate auf einem fremden Stern? Heute erscheinen mir die EXPO-Tage nur noch als ein schönes Traumspiel. Das Fest ist aus.
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