DIE ZIELFIGUR DES HASSES IST ER SELBST

Der Feuer-Melder Wer die Rezeptionsgeschichte Wagners in Deutschland studiert, der studiert die Geschichte der deutschen kulturellen Identifikation im 20. Jahrhundert

Das ereignete sich am 9. Juli 2001 in Tel Aviv: Daniel Barenboim dirigierte das Tristan-Vorspiel als Zugabe in einem Konzert der Berliner Philharmoniker, und eine Nation hielt sich die Ohren zu. Oder jedenfalls der Teil, der ihren Namen für sich beansprucht. Der Staatspräsident Mosche Katzaw attackierte den israelischen Dirigenten, der Festivaldirektor Yossi Tal-Gan will ihn künftig nicht mehr einladen, der Ex-General Matan Olmert, jetzt Kulturminister, bezichtigte Barenboim der »Überrumpelung«, und der nationalreligiöse Abgeordnete Schaul Yahalom beklagte, Barenboim habe die Erinnerung an die Shoa verletzt und das israelische Volk geohrfeigt. Hier der Holocaust, schreckliche Gipfelleistung der Zivilisation, Entvolkung eines Volkes, dort ein künstlerisches Werk, in dem ein Jahrhundert Menschentum sich spiegelt. Nämlich dessen kommende Entgleisung. Die Entgleisung war deutsch, Wagner war ein Deutscher, also musste seine Prophetie etwas sein, was sie nicht ist - billigende Voraussage, schadenfrohe Ankündigung der Flammen von Auschwitz. Die Vereinigung von Zivilisation und Kultur hat den Schrecken geboren, und besser wäre es gewesen, beide hätten den Rat Oskar Spenglers befolgt und sich nicht zum Zwecke des Untergangs des Abendslandes vereint.

Es gibt jedenfalls wieder Anlass, von Richard Wagner zu reden. Denn es geht natürlich nicht, dass man den Kopf einzieht und sagt, Wagner sei, zugegeben, ein schrecklicher Antisemit gewesen, aber doch auch ein großer Künstler, und so die Kunst rettet auf Kosten des Künstlers. Man lässt seiner Musik den Makel nicht nur, sondern findet ihn auch noch schön. Das ist Heuchelei. Ja, mein Gott auch, der Mann hat seine Frau erstochen, aber haben Sie gesehen, was er für ein schönes Messer hatte, und wie elegant er die Klinge führte. Wer sich über eine solche Argumentation empört, ist natürlich im Recht. Aber Wagner war nicht dieser Mann, und die Gleichung »Wagner = Hitler« ist falsch. Dass Hitler Wagner zur Musikgottheit deutschen Größenwahns erhob und selbst ein besserer Wotan sein und die Welt auf Siegfried-Art erretten wollte und das auch ausgesprochen hat, mag ja stimmen, aber es beweist eben nur, dass er Wagner umarmte, aber doch nicht, dass er ihn verstand.

Die Gelehrteren weisen auf Wagner selbst auf seine antisemitischen Schriften und auf sein Werk. Ein Münchener Germanist, Helmut Zielinsky, hat aus den Bühnenwerken die antisemitischen Konfigurationen herausanalysiert, von Telramund und Ortrud über Melot und Beckmesser bis zu Alberich, Mime, Hagen, Klingsor und Kundry, um zu zeigen, dass Wagners antisemitische Äußerungen keine zufällige Entgleisungen waren, und von da schreitet er zu dem Schluss fort, dass Wagner ein Vordenker Hitlers und Auschwitz-Visionär gewesen sei, wovon das Flammen-Menetekel am Schluss der Götterdämmerung zeuge. Wagner ein Auschwitz-Visionär, Friedrich Nietzsche ein präfaschistischer SS-Ideologe der blonden Bestie. Jeder deutsche Kleinbürger konnte sich freudig auf die Brust schlagen und ausrufen: Nicht ich bin es gewesen, Richard Wagner ist es gewesen. Die Hochschätzung der Kultur gipfelte in der Denunziation.

Nach 1945 war Wagners Werk auch in Deutschland verboten, und Bayreuth wurde geschlossen. Als man ihn wieder spielte, eröffnete sich auf dem Theater allmählich eine andere Welt. Auf dem Musiktheater wurde Wagners Werk jedenfalls das wichtigste Medium der kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit. Die Meinungen und Geister spalteten sich, und die Konservativen, die in Wagner den kulturellen Garanten ihrer vorgestrigen Weltanschauung sahen, wurde der Boden buchstäblich unter den Füssen weggerissen. Die Geschichte Bayreuths ist sehr lehrreich. Den Modernismus Wieland und Wolfgang Wagners goutierten die altdeutschen Wagnerianer noch mit knirschenden Zähnen als modische Erscheinung. Als aber Patrice Chéreau und Pierre Boulez in den 70er Jahren die Ring-Tetralogie auf die aktuelle Geschichte bezogen, drohten sie auf Flugblättern, die vor dem Festspielhaus verteilt wurden, beide Protagonisten und »Wagner-Schänder« auf offener Bühne am Schluss de Vorstellung niederzuschießen. Vielleicht ging der Schuss auch wirklich los und traf nicht und blieb unbemerkt inmitten der Ovationen.

Chéreau hatte einen genialen Vorläufer in Joachim Herz, dem langjährigen Mitarbeiter Walter Felsensteins an Berlins Komischer Oper. Er inszenierte den Ring in Leipzig aus dem Geiste Ludwig Feuerbachs. Feuerbachs Gedanke, dass die Religionen mythische Spiegelungen irdischer Verhältnisse seien, führte er zu der Bühnenkonsequenz, die Handlung in die Realität des 19. und 20. Jahrhunderts zu verlegen und gleichsam eine Thomas-Mannsche Welt aufzubauen. Siegfried Melchinger in Kassel verlegte die Handlung in ein faschistisches Milieu und spielte das Stück als Erzählung vom notwendigen und gerechtfertigten Untergang des Dritten Reiches. Die Parallelen waren vielleicht etwas platt, aber ein kritischer Geist wehte in die hermetische Wagner-Welt. Der italienische Filmregisseur Luchino Visconti erzählte die Geschichte der Familie Krupp mit Wagners Musik in seinem Film Götterdämmerung (Die Verdammten), und ließ den Thomas-Mann-Film Tod in Venedig folgen mit Musik von Gustav Mahler. Für ihn waren Wagners und Mahlers Musik gleichermaßen Ausdruck einer morbiden fin-de-siècle-Stimmung. Schostakowitsch zitierte Wagner in eigentümlicher Weise in seiner 15. Sinfonie. In einem tragischen langsamen Satz erklingt zweimal das Todesverkündigungsmotiv aus dem 2. Akt der Walküre, und im letzten Satz bildet sich ein heiter-gelöstes Finalthema aus dem Beginn des Tristan-Vorspiels.

Ich will noch erwähnen, dass Wagner auch zum Vorläufer der Moderne wurde. Schönbergs Zwölfton-Technik wurde interpretiert als Konsequenz aus dem unauflösbaren Tristan-Akkord. Kurz, Wagner wurde aus seiner konservativen Vereinnahmung befreit und zu einem Faktor der Moderne. Aus dem Vorläufer Pfitzners wurde der Ahne Schönbergs, aus dem Boten des deutschen Chauvinismus ein prophetischer Mahner und Warner. Die »Wagner-Bühne« bildet ein Pendant zum Theater Bertolt Brechts und Heiner Müllers, der 1993 in Bayreuth den Tristan inszenierte. Daniel Barenboim spielte in diesem Umwertungsprozess seine nicht unbedeutende Rolle. Er stand 1988 am Pult in Bayreuth, als Harry Kupfer seine neue, zeitkritische Ring-Inszenierung herausbrachte, und er dirigierte an der Berliner Staatsoper den gesamten von Kupfer inszenierten Wagner-Zyklus. Das neue Wagner-Bild ist das Resultat eines kritischen, linken Diskurses, vielleicht das wichtigste im Umgang mit den tradierten kulturellen Werten.

Wer die Rezeptionsgeschichte Wagners in Deutschland studiert, der studiert die Geschichte der deutschen kulturellen Identifikation im 20. Jahrhundert. Erst blickte man auf ihn mit der Brille Goethes, später mit der Brechts, Adornos und Blochs. Die Rembrandt-Deutschen und Goetheaner machten Siegfried zum Über-Egmont und Taten-Faust - er trüge, ein Zu- und Um-sich-Hauender, den Namen mit größerem Recht - Elsa zum aristokratischen Helden-Gretchen, Tannhäuser zum deutschen Tasso und Tristan zum nordischen Werther. Man übersah das Wichtigste. Goethes Helden bleiben sich und ihren Idealen treu, und wenn sie darüber zugrunde gehen. Wagners Figuren verraten sie, und darüber geht zuletzt die Welt zugrunde. Die manichäische Einteilung der Welt in Gut und Böse, die der klassischen Literatur ihren enthusiastischen Zug gibt, fehlt bei Wagner. Seine Gestalten sind ambivalent und verführbar, aus guten Absichten erwachsen böse Folgen, das Gewollte verkehrt sich in sein Gegenteil. Keiner kann sich seiner selbst gewiss sein. Jeder ist davon gefährdet, von einem ehrlichen Mann zu einem Verräter, von einem aufrichtigen Freund zu einem Mörder zu werden, und wer es unternimmt, der Welt seinen Errettungswillen aufzuzwingen, organisiert ihren Untergang. Das verstand man in Deutschland so lange nicht, wie man selbst mit dergleichen Weltrettungsplänen beschäftigt war, die so endeten wie die Götterdämmerung. Das sind die Geschichten, die er erzählt. Sie haben sich überaus tragisch bewahrheitet.

Wagners rückwärts gewandte Prophetie entstand in einem qualvollen Prozess, und die makabre Schrift gegen das »Judenthum in der Musik«, im September 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank in der Neuen Zeitschrift für Musik in Leipzig veröffentlicht, ist das authentischste Zeugnis, das er davon gab. Sie ist verfemt und wird selbst von den eifrigsten Wagnerianern verhüllt und versteckt. Aber das ist falsch. Sie gehört in die Bibliothek jedes Wissenschaftlers, Journalisten und Künstlers, als das magische und verderbliche Teufelbeschwörungsbuch, die Kabbala des Irr-Sinns und Irr-Seins, als die deutsche Pandora-Büchse. Doch nicht abzutun ist sie mit dem geistigen Hochmut des modernen Aufklärertums, sondern sie zu begreifen als die dämonische Genesis des Wagnerschen prophetischen Pandämoniums. Nicht ohne Schauder liest man den letzten Absatz, der von Ludwig Börne handelt: »Aus seiner Sonderstellung als Jude trat er Erlösung suchend unter uns: er fand sie nicht und mußte sich bewußt werden, daß er sie nur auch mit unserer Erlösung zu wahrhaften Menschen finden können würde ... Aber gerade Börne lehrt auch, wie diese Erlösung nicht in Behagen und gleichgültig kalter Bequemlichkeit erreicht werden kann, sondern dass sie, wie uns, Schweiß, Not, Ängste und Fülle des Leidens und Schmerzes kostet. Nehmt rücksichtslos an diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, daß nur eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers - der Untergang!«

Hier einmal spricht er es aus: Ahasver, die Zielfigur des Wagnerschen Hasses, ist Wagner selbst. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde tritt er in zwei Personen auseinander. Der fliegende Holländer, der Ahasver der Meere, wie ihn Heine nannte, ist Wagners erste Identifikationsfigur. Daraus folgten die anderen - Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Wotan, Parsifal. Seine Polemik gegen die Juden entlarvt sich als Freudsche Fehlleistung. Er selber zählte sich zu jenen Auserwählten und Ausgestoßenen. Die Erkenntnis kommt ihm nicht in seinen Schriften, die seiner Kunst nicht zuzählen, sondern der Propaganda. Seine vergiftete Feder sollte ihm den Weg bahnen, den ihm, wie er meint, Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy verstellten. Im Werk sieht es anders aus, da werden die Verfemten zu den großen Epochen-Figuren. Und das Erlösungswerk läuft aus den Rädern und gerät zum Selbstvernichtungswerk. Das sah er kommen. Indem er das ausspricht und gestaltet, trifft der Fluch: Der Feuer-Melder wurde fortan lange geehrt als der große Anzünder. Wagner war der Jeremias der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Erkannt hat man das erst spät. Vorher hob man den Toten als falschen Propheten auf den Schild und steinigte ihn, als sich seine Voraussagen als wahr erwiesen, wie den historischen Jeremias im alten Jerusalem. Das alte, falsche Wagner-Bild aber ist es, auf das Barenboims Kritiker in Tel Aviv einschlugen, während andere mit Tränen in den Augen die Tristan-Musik hörten. Man beleidigt nicht die Geschichte und schändet nicht das Andenken der Toten, wenn man eine Narrheit auch so nennt.

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