Über "schlummernde Dresden-Potenziale" sprach Udo Zimmermann, als ihn die Sächsische Zeitung nach seinem plötzlichen Rücktritt von der Intendanz der Berliner Deutschen Oper interviewte, und er meinte das auf einer Anhöhe vor Dresden gelegene Festspielhaus Hellerau, ein vergessenes Areal, dessen Zukunft er als einen "Grünen Hügel der Moderne" beschrieb.
Freilich schlummert dieser Hügel längst nicht mehr. Seit einem guten Jahrzehnt versuchen Künstler und Vereine, diesen schlafenden Gulliver zu neuem Leben zu erwecken. Dass Udo Zimmermann ihn nun interessant fand, musste jedoch überraschen. Denn obwohl sein Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik seit Juli dieses Jahres in einem Seitengebäude des Festspielhauses sein neues Domizil fand - nachdem es sein altes auf dem Weißen Hirsch verlassen musste -, zeigten er und seine Mitarbeiter sich eher distanziert. Das Tun seines zu Jahresbeginn erst berufenen neuen Direktors für künstlerische Produktion, Peter Baumgardt, der sich für das Haus interessierte und seine Potentiale in einem Konzeptpapier beschrieb, beobachtete man eher misstrauisch. Über dieses voluminöse Konzept soll noch in diesem Monat entschieden werden, aber eines steht bereits jetzt fest: Künstler und Wissenschaftler mit großen Visionen und ebenso Organisatoren von überdurchschnittlicher Begabung müssen kommen, und sie bedürfen eines Übermaßes an Hingabe und Elan, wenn aus dem Projekt Hellerau jemals wieder ein wirkliches Festspielhaus und Forum der modernen Künste werden soll. Denn noch ist alles auf Sand gebaut.
Was dieses Hellerau werden kann, weiß heute noch niemand, und nur wenige wissen, was es einmal war. Davon soll dieser Rückblick handeln. Das Gebäude wurde 1911 von Heinrich Tessenow errichtet als kulturelles Zentrum der neuen "Gartenstadt" Hellerau. Hier stand die Wiege des modernen Tanzes und der modernen Theaterkunst. Es ist verbunden mit dem Namen des Schweizer Komponisten Émile Jaques-Dalcroze, der 1911 hier eine pädagogische Bildungsanstalt für Rhythmus und Bewegung eröffnete, mit der er das musikalische Theater revolutionierte.
Im Sommer 1912 und 1913 gab es sogenannte "Schulfeste", in deren Mittelpunkt Glucks Orpheus stand, einstudiert und inszeniert von Dalcroze und seinem Freund Adolphe Appia. Ein solches Theater hatte es bis dahin noch nie gegeben, weder in Dresden noch in Bayreuth noch in Meiningen, nicht bei Otto Brahm und nicht bei Konstantin Stanislawski und anderen Berühmtheiten. Vielleicht hatte man im alten Athen so gespielt. Es war der komplette und kühne Gegenentwurf zum Dresdner Hoftheater. Bernard Shaw reiste nach Dresden und hinterließ uns eine enthusiastische Beschreibung auf einem halben Dutzend Postkarten an eine Freundin. Der Zuschauer fand keine Bühne vor, keine Dekorationen, nur eine geschwungene Treppe. Alles war offen, bis auf das Orchester, das in einer Wanne unter der Bühne spielte - die einzige Anleihe an Bayreuth. Eine Gruppe junger Tänzerinnen stellte nicht nur den Chor dar, sondern bildete zugleich das bewegte Bühnenbild, in dem sich das Drama entwickelte. Ihre Bewegungen gaben nicht einfach den emotionalen Gehalt der Töne wieder, sondern die Musik selbst, denn den Rhythmen und Lautstärken entsprachen jeweils genau studierte und zugleich freie und improvisierte Bewegungsabläufe. Shaw verwunderte sich über die unerklärlichen Zaubereien, nach denen die Mädchen, nur mit hautengen Trikots statt mit konventionellen Kostümen bekleidet, ihre Glieder simultan in unterschiedlichen Rhythmen bewegten. Vorhänge fehlen ebenso wie Scheinwerfer. Das Licht kam entweder direkt durch die Fenster an den beiden Stirnseiten des Raumes oder von den stoffbespannten Wänden, hinter denen Tausende von stufenlos regelbaren Glühbirnen die Szene in schattenloses, gleißendes, mystisches Licht tauchten. Die Vorstellung loderte im Zauber der Jugendlichkeit und schlug die Besucher buchstäblich in Bann. Es war weit mehr als ein Theater - ein Manifest der Jugend und der neuen, avantgardistischen Kunst.
Dresden war für einen weltgeschichtlichen Augenblick das Mekka der Moderne. Der amerikanische Romancier Upton Sinclair, ebenfalls unter den Premierengästen, schwärmte noch 1940 in seinem Roman World´s End von Hellerau; es war ihm schlechthin der Gegenentwurf zu dem Kriegs- und Elendszeiten, die sein Buch schildert: "(Dalcroze) hatte die musikalischen Sätze von Glucks Orpheus als Grundlage genommen und sie in den Körpern und bloßen Armen und Beinen von Kindern neu dargestellt, und nun würden die Kunstliebhaber in alle Welt hinausgehen und verkünden, dass das, was sich hier ereignet, nicht nur schön war, sondern heilende Kraft hatte; es war ein Mittel, die Jugend zu Anmut und Glück, zu Leistungsfähigkeit und Harmonie zwischen Leib und Seele heranzubilden."
Auch der Direktor der damals weltberühmten Pariser Ballets russes, Sergej Diagilew, und sein Tanz-Star Waclaw Nijinski holten sich Anregungen in Hellerau; im Oktober 1912 besuchte er Hellerau und hospitierte bei Dalcroze und gab im Festspielhaus einen Soloabend. Die ebenso leidenschaftlich bewunderte wie abgelehnte Aufführung von Strawinskis Le Sacre du Printemps am 29. Mai 1913 in Paris wäre undenkbar gewesen ohne die Anregungen von Hellerau, und eine Dalcroze-Schülerin, Marie Rambert, war Nijinskis Assistentin.
Hellerau war kein Theater, es war eine Schule, eine Lehranstalt, man hatte alle Künste dort, und sogar einen eigenen Verlag, dessen Bücher heute zu den bibliophilen Kostbarkeiten zählen. Er wurde geleitet von Jakob Hegner, einem Verehrer von Paul Claudel und Francis Jammes. Der brachte im Oktober 1913 in eigener Übersetzung Claudels religiöses Drama Die Verkündigung (L´annonce faite à Marie) auf die Bühne und erregte damit in ganz Europa Aufsehen. Unter den Gästen befand sich die Creme der europäischen Literatur, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und Franz Kafka aus Prag, Else Lasker-Schüler, Gerhart Hauptmann und Max Reinhardt aus Berlin, die Verleger Anton Kippenberg, Kurt Wolff und Kurt Pinthus, der Philosoph Martin Buber, die Bildhauerin Annette Kolb, Lou Andreas-Salomé und Stefan Zweig aus München.
Wenig später war alles vorbei. Es kam der Erste Weltkrieg. Dalcroze, der den Sommer 1914 in seiner Heimatstadt Genf verbrachte, protestierte gegen das deutsche Bombardement der Kathedrale von Reims, wurde zum unerwünschten Ausländer erklärt. Er hat Dresden und sein Hellerau niemals wieder gesehen, auch später nicht, obwohl er noch bis 1950 lebte. Sein Enthusiasmus wich einer maßlosen Enttäuschung. Aber seine Anregungen wirkten weiter. Seine verrückteste und exzentrischste Schülerin war Mary Wigman, die aus der strengen Rhythmuslehre von Dalcroze den freien Ausdruckstanz entwickelte, was ihren Lehrer allerdings zu heftiger Kritik bewog. Allein sie und ihre geniale Schülerin Gret Palucca beherrschten hinfort das Tanztheater, während Dalcroze vergessen wurde.
Die Palucca-Schule gibt es bis heute in Dresden; aus ihr sind zahllose talentierte Tänzer, Choreographen und Regisseure hervorgegangen, von denen ich nur zwei nennen will, stellvertretend für viele andere: Tom Schilling, der das Tanztheater an Felsensteins Komischer Oper gründete und leitete, und Ruth Berghaus, die große Theaterfrau und Verfechterin des modernen Regietheaters. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das moderne Musik- und Tanztheater sich von jenen fernen Hellerauer Tagen herleitet, und selbst in den Inszenierungen von John Neumeier, Robert Wilson, Heiner Müller oder Achim Freyer sind von ihnen noch einige Spuren vorhanden, auch wenn sie das selbst vielleicht gar nicht wissen.
Mit Jaques-Dalcroze verließ der revolutionierende Geist das Festspielhaus, es endete aber damit nicht. In den zwanziger Jahren war es eine bedeutende Reformschule, vergleichbar der Odenwaldschule oder Wickersdorf, und in der Tat lehrten hier wie dort die gleichen Lehrer. Ein alter Hellerauer war Peter de Mendelssohn; er ging hier zur Schule und hat uns ergreifende Schilderungen dieser ebenso glückseligen wie bildsamen Jugendjahre hinterlassen. Für ihn, den Weltbürger, war der Hellerauer Sommernachtstraum zeitlebens die Vorwegnahme des europäischen Gedankens, ja vielleicht seine reinste und edelmütigste Verkörperung, weil nicht beschmutzt und verbogen von egoistischen Wirtschafts- und Profitinteressen. Sein späteres Weltbürgertum kostete ihn viel - es begann mit der Vertreibung aus dem Paradies ins Exil, mit Jahren der Armut und des Elends und des Kampfes gegen jenes brutale und bornierte Deutschtum, das als Hitlerei die Welt in den Abgrund stürzte. Sein Hellerau wurde geschändet und erdrosselt. Aus dem Festspielhaus wurde eine SS-Kaserne, und der Platz davor hieß von 1936 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz.
Mendelssohn wurde vertrieben, sein großer Ahn in Leipzig vom Denkmalssockel gestürzt, seine Musik verboten. Ein anderer aber bezahlte es mit dem Leben. Harald Dohrn, der Bruder des tatkräftigen ersten Geschäftsführers Wolf Dohrn, hatte die Hellerauer Anstalten bis in die dreißiger Jahre geleitet und zu erhalten gesucht. Er ging dann nach München und bekam Kontakt mit dem Widerstandskreis Weiße Rose um Hans und Sophie Scholl. Dort hielt er in geheimen Zirkeln Vorlesungen über die moderne Literatur und Kunst, bis er ebenfalls in die Verhaftungswelle geriet. Ein Prozess wurde ihm offenbar nicht gemacht, aber er blieb interniert, wahrscheinlich im KZ Dachau, auf einem Todesmarsch, am 30. April 1945, wurde er mit einer Häftlingsgruppe von der SS erschossen.
Als die sowjetische Armee Dresden besetzte, requirierte sie das Gelände, das sich inzwischen kaum mehr von einem anderen Kasernengelände unterschied und jedenfalls nicht mehr als Festspielhaus kenntlich war, und richtete dort zunächst ein Lazarett und dann eine Kaserne ein. So blieb es bis 1990. Mit dem Untergang der DDR ging der Stern von Hellerau wieder auf. Er leuchtete zuerst blass, aber es fanden sich viele aus Dresden und dann auch ganz Deutschland, die dieses Gebäude, das inzwischen eine dachlose und weitgehend zerstörte Ruine war, wieder erstehen lassen wollten. Einige Events waren schnell organisiert, ein "Hellerau-Fest", einige Theateraufführungen und Konzerte. Friedrich Schenker war dort mit seiner heulenden, stöhnenden und krächzenden Posaune. Und der Maler Helge Leiberg, 1984 als unbequemer Querkopf von der Elbe in den Westen verrieben, gab mit der kahlköpfigen Tänzerin Fine Kwiatkowski eine Vorstellung. Das Dresdner Zentrum für Zeitgenössische Musik führte die Oper Der Kaiser von Atlantis von Viktor Ullmann, einem deutschen Komponisten aus Prag, den die Nazis nach Theresienstadt verschleppt und 1944 in Auschwitz vergast haben, in dem zerstörten Raum auf. Das 1986 von Udo Zimmermann begründete Zentrum hatte am frühesten auf dieses verschollene Festspielhaus hingewiesen. Auf einem von ihm veranstalteten Tanz-Symposium 1987 wurde die einstige Glanzzeit zum ersten Mal wieder beschworen.
Hellerau-Vereine bildeten sich, die Europäische Werkstatt Hellerau e.V., das Heinrich-Tessenow-Institut, die Trans Media Akademie, die auf dem Hellerauer Hügel bereits mehrmals ihr CYNETart Festival für computergestützte Filmkunst veranstaltet hat. Auch das Dresdner Schauspielhaus spielte schon auf dem Hellerauer Hügel, als die Elbeflut das Dresdner Schauspielhaus überschwemmt hatte.
Das Gebäude selbst ist heute zu einem Drittel restauriert; die Übungsräume erwarten eine neue Künstler-Generation, der Saal bietet hingegen noch einen wüsten Anblick, aber es hat ein Dach und ist beheizbar. In einem Seitenflügel hausen bereits das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik und die Europäische Werkstatt für Kultur und Kultur e.V. Der andere auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes bietet sich noch in seiner zerstörten Gestalt, und im hinteren Teil des Geländes erinnert alles noch weit mehr an die Kasernenzeiten, und dass hier eine Probebühne in den Abmessungen des Theatersaales gebaut werden soll, davon ist noch nichts zu sehen. In dieser geldlosen Zeit schafften die Dresdener ein weiteres Mal das Wunder, für ihr Projekt nicht unerhebliche Summen zu besorgen. Die Wüstenrot-Stiftung, das Land Sachsen und andere gaben Geld, ein Münchener Architekten-Büro lieferte die Pläne, und so scheint das Unmöglich möglich zu werden: Das Vergessene wird dem Vergessen entrissen, das Verschwundene entsteht aufs neue. Trotz alledem!
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