Welttheater in einer Nuss-Schale

Rheinsberger Opern-Impressionen Argonauten am verkommenen Ufer des Strausberger Sees

Rheinsberg hat 5.000 Einwohner und zwei Operntheater, die Musikakademie und die Kammeroper. Die Beziehungen zwischen beiden Instituten sind kompliziert. Beider gemeinsamer Aktionsort ist das Schlosstheater, das 1999 wiedererrichtete Theaterchen im Schloss Rheinsberg. In diesem Schloss residieren unter der Leitung von Ulrike Liedtke die Musikakademie Rheinsberg und unter der Leitung von Siegfried Matthus die Kammeroper Schloss Rheinsberg. Das Akademie-Programm umfasst dieses Jahr rund 100 Konzerte, szenische Projekte, Performances und Lesungen. Aufgeführt wurden bisher Der Maschinenmensch von Georg Katzer, Kassander von André Erneste Modeste Grétry, Das Martyrium des Heiligen Magnus von Peter Maxwell Davies, Die glückliche Hand von Arnold Schönberg und Zerbrochene Bilder von Paul-Heinz Dittrich; dieses Jahr sind noch angekündigt Hyperion-Fragemente von Mayxako Kubo und das Jugendtheater-Projekt Scheuklappen.

Die Rheinsberger Kammeroper agiert in der akademischen Sommerpause von Juni bis August mit rund 30 Opern-Aufführungen und Konzerten. Dieses Jahr waren dort zu hören und zu sehen die Oper Kronprinz Friedrich von Siegfried Matthus, eine konzertante Aufführung von Jules Massenets Werther, eine Verdi-Matinee, eine szenische Collage Der unendliche Gesang des Orpheus von Ursel und Karl-Ernst Herrmann, Rossinis Petite Messe Solenelle und Carl Heinrich Grauns Caesar und Cleopatra.

Wie kann sich eine so kleine Stadt zwei so teure Institute leisten? Die Frage nach dem Geld steht am Anfang, und mancher glaubt, hätte er nur Geld, könnte er auch so schöne und feine Opern haben. Aber Geld ist ein leeres Transportmittel. Wo Ideen und Können fehlen, rasselt leerer Betrieb. In Rheinsberg fehlt letzteres nicht, so ist das Geld gut angelegt. Das Kammeropernfestival hat ein sehr bescheidenes Budget von 1,8 Millionen, 600.000 DM gibt das Land, 300.000 DM kommen über das Gemeindefinanzierungsgesetz, noch einmal so viel von den Sponsoren, und das letzte Drittel, 594.000 DM, wird aus den Einnahmen bestritten.

Das Kammeropernfestival war ein Kindertraum von Siegfried Matthus. In Rheinsberg war er zur Schule gegangen. 1990 entsann er sich des brachliegenden Schlosses. Heute berufen sich Brandenburgs Kulturbeamte auf die alten preußischen Traditionen, auf den großen Friedrich und den kleinen Heinz, aber zu verdanken hat Rheinsberg seinen neuen musikalischen Ruhm ihnen nicht. Ohne Matthus und Liedtke wäre trotz aller Traditionen nichts entstanden.

Akademie und Festival verfolgen unterschiedliche Ziele. Nur auf den ersten Blick sind sie sich ähnlich. Ulrike Liedtke entwarf eine Fortbildungsanstalt, eine Werkstatt, ein Probierfeld, Siegfried Matthus ein Festival für junge Sänger und junge Stimmen. Ihm ging es nicht zuerst um neue Werke, er wollte kein Festival der unerprobten Partituren und der innovatorischen Schublade. Er wollte ein Festival der Sänger, sie sind seine Hauptpersonen. Alljährlich gibt es ein großes Vorsingen, einen Gesangswettbewerb, bei dem sich junge Sänger um eine der raren Partien bewerben. In jeder Produktion stehen unbekannte junge Leute auf der Bühne, deren Spiel jugendlich und ohne Routine ist und deren Stimmen golden glänzen. Über 300 Sänger nahmen bisher an den Rheinsberger Aufführungen teil, für nicht wenige war es der Sprung in die Welt der großen Oper, eine von ihnen, Nina Warren, sprang sogar bis an die MET nach New York. Als Opernorchester dienen die Brandenburger Symphoniker. Dieses Jahr gab es aber die erste Zusammenarbeit mit der Baden-Badener Philharmonie unter Werner Stiefel anlässlich der Werther-Aufführung. Berliner Musiker bestreiten eine der schönsten und sonderbarsten Aufführungen des letzten und dieses Sommers, die Oper Kronprinz Friedrich von Siegfried Matthus selbst.

Dieses Stück beschwört den Genius loci, so muss man von ihr sprechen und sie in Vergleich stellen mit der ehrgeizigsten Produktion der Musikakademischen Gegenseite, den Zerbrochenen Bildern von Paul-Heinz Dittrich. Matthus schrieb eine Oper für Sänger. Alles, was auszusagen ist, verströmt in modernen Belcanto-Linien. Dittrichs Zerbrochenen Bildern nach Heiner Müllers Medea-Material entspricht eine zerbrochene Musik, ein expressives Skandieren, in dem das Wort gleichsam erglüht. In Götz Friedrichs Inszenierung leuchtet noch einmal der Charme des alten Musiktheaters, die sorgfältige Personen-Regie, der stimmige Gleichklang von Bewegung und Musik. Die junge Dresdnerin Iris Sputh dagegen lieferte eine Performance, in der die Partitur lediglich als Folie zur eigenen Idee behandelt wurde.

Um Preußen geht es in beiden Stücken. Matthus erzählt von der Nacht vor der Hinrichtung Kattes, des unglücklichen Jugendfreundes des Kronprinzen Friedrich. In Rückblenden ersteht das Bild einer sentimentalen Jünglingsliebe, deren blutiges Ende der Vater als preußisches Erziehungsstück inszeniert. Am Schluss finden wir einen erschossenen Untertan und einen auf den Thron geschmissenen neuen Herrscher. Mit der Uraufführung dieses Werks war am 31. Dezember 1999 das rekonstruierte Schlosstheater eingeweiht worden. Am Pult: Rolf Reuter, der Senior der Berliner Opern-Dirigenten. Er leitete souverän ein Orchester aus Schlagzeug, Posaunen und 14 Flöten. Matthus zauberte aus diesem armen Instrumentarium einen unerwarteten Reichtum an Farben, eine wahre Flöten-Assemblée. In dem wie aus dem Nichts geschaffenen Bühnenbild von Reinhard Zimmermann, auch einem der einstigen Protagonisten der Komischen Oper, erlebten wir wundervolle Stimmen, Nina C. Amon und Alicja de Rota als das Jünglingspaar Friedrich/Katte und den Dänen Lars Fosser als Charakterbass in der Partie des Königsvaters Friedrich Wilhelm I.

Heiner Müllers szenische Fragmente Verkommenes Ufer - Medeamaterial - Landschaft mit Argonauten spricht vom blutigen Ende Preußens. Die Argonauten, Versprengte des Kriegs, sitzen am verkommenen Ufer des Strausberger Sees und meditieren, während Medea ihren Hass auf die zerstörerische Welt hinausschreit, vor der sie ihre Kinder nur bewahren kann, indem sie sie tötet. Paul-Heinz Dittrichs Kammerstück ist keine Oper, sondern ein Sprach-Spiel. Die Sprache zerpflückt, zerlegt in ihre Phoneme, auf den Schrei, das Flüstern, das Raunen und Krächzen - ja was: reduziert? Gehoben? Jedenfalls zerbrochen: ein Fetzenstück mit geräuschhaften Cello-Passagen, dumpf tropfenden Klarinetten und einer bukolischen Solo-Flöte, meisterhaft gespielt von Carin Levine.

Der junge Amerikaner Jonathan Stockhammer dirigierte das ausgezeichnete Kammerensemble Neue Musik Berlin, die elektronische Realisation oblag dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestrundfunks Freiburg, und Elizabeth Keusch als Medea sowie ein erstaunliches junges Männerquartett blieben der Partitur nichts schuldig. Geschmälert wurde das Verdienst der Uraufführung allerdings durch die szenische Realisation. Medea stieg als rotgewandetes blondes Mannequin aus einem wasserlosen Schwimmbassin und begab sich in die »Männerwelt«, die ihr von oben in mausgrauen Anzügen entgegenkam. Medea - ein Gesellschaftsspiel bei Karl Lagerfeld. Das hatte Dittrich nicht komponiert und Heiner Müller nicht gedichtet. Was die junge Regisseurin Iris Sputh und ihre Bühnenbildnerin Jessica Westhoven zu bieten wagten, entsprach der negativen Vorstellung vom Regie-Theater, dessen Beliebigkeit Matthus seit langem eloquent attackiert. So standen Welten zwischen beiden Produktionen. Aber sie bezeichneten jede auf ihre Weise die heutige Opern-Welt: Welt-Theater in dieser Nuss-Schale Rheinsberg.

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