Alles fing damit an, dass die Lokalzeitung über eine Anzeige berichtete, die ein Kirschgartenbesitzer wegen Einbruchdiebstahl und Sachbeschädigung gegen Unbekannt erstattet habe. Er sei, erklärte er der Redaktion, eines Teils seiner Ernte beraubt worden und werde eine Zivilklage auf Schadenersatz erheben, sobald der Übeltäter polizeilich ermittelt sei.
Kurz darauf tauchten die ersten Gerüchte auf, bei dem Unbekannten handele es sich um eine stadtbekannte, hochgestellte Persönlichkeit, der man derlei kriminelle Aktivitäten normalerweise nicht zutrauen würde, zumal sie als Wahlbeamter für das Rechtswesen zuständig sei. Wer mit dieser Beschreibung gemeint war, verstand jeder. Bald erschienen auch erste Pressemeldungen, in denen der Anfangsbuchstabe seines Namens genannt wurde. Der Betroffene verweigerte zunächst jede Stellungnahme, was den Gerüchten nur neuen Auftrieb gab. Schließlich gab er dem Drängen seiner Parteifreunde nach, die voller Sorge an die nächsten Kommunalwahlen dachten. Durch das Sekretariat seines Amtes ließ er mitteilen, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien a) lächerlich und b) infam. Er hielte es sachlich für überflüssig und persönlich für unter seiner Würde, darauf näher einzugehen. Die Anschuldigungen entbehrten jeder Grundlage. Seine Partei sekundierte, er sei als Ehrenmann bekannt und genieße ihr uneingeschränktes Vertrauen.
Aber die Opposition sorgte dafür, dass die Sache nicht einschlief und kündigte eine Kleine Anfrage im Stadtparlament an. Da meldete die Zeitung der nahen Kreisstadt, ein nicht genannt sein wollender Zeuge, seinerseits eine Amtsperson, habe glaubwürdig versichert, dass über den Vorgang seinerzeit von einer Polizeistreife ein Protokoll angefertigt worden sei. Von einer Anzeige habe man mit Rücksicht auf die hohe Stellung des Beschuldigten abgesehen. Der Verbleib des Papiers sei in der Registratur allerdings unbekannt. Die Forderung der Opposition nach Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses war die unvermeidliche Folge.
Nun endlich sah sich der so Bedrängte zu einer Presseerklärung veranlasst. "Um den von interessierter Seite gestreuten Verdächtigungen ein für allemal ein Ende zu machen" - hieß es da - "stelle ich hiermit zur Sache unzweideutig fest: Ich bin zu keinem Zeitpunkt in ein fremdes Grundstück eingebrochen, um Kirschen zu stehlen. Mein Rechtsbeistand ist beauftragt, einstweilige Verfügungen gegen jeden zu beantragen, der etwas anderes behauptet. Privatklagen wegen Verleumdung und Berufsschädigung behalte ich mir vor." Seine Partei begrüßte diese Erklärung und gab ihrer Erwartung Ausdruck, dass damit "jedem weiteren Versuch einer parteipolitisch motivierten Ausschlachtung der Angelegenheit ein Riegel vorgeschoben werde".
Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt tauchte eine Durchschrift des schon verloren geglaubten Polizeiprotokolls auf. Sein Wortlaut, so sagte man, könne jedoch nicht veröffentlicht werden, um nicht laufende Ermittlungen gegen Dritte zu erschweren. Im Übrigen bestätige der Text nur den Sachverhalt, den der so übel Verleumdete bereits in seiner Presseerklärung klargestellt habe. Dummerweise gelang es einem Journalisten, sich Auszüge aus dem Protokoll zu verschaffen und zu veröffentlichen, die allerdings in eklatantem Widerspruch zu den bisherigen Behauptungen standen. "In die Enge getrieben", "Neue Vorwürfe", "Wachsender Erklärungsbedarf", lauteten nun die Schlagzeilen.
Unser Mann lehnte weiterhin jedes Interview ab. Als Wahlbeamter müsse er zuerst den Untersuchungsausschuss des Stadtparlaments abwarten. Das verlange der Respekt vor den demokratisch gewählten Volksvertretern. Gleichzeitig bemühte sich seine Partei hinter den Kulissen, den Sitzungstermin auf die Zeit nach der Sommerpause zu vertagen. Auf Rückfrage erklärte man: Eine Verhandlung könne erst stattfinden, wenn sämtliche Unterlagen zum Fall auf dem Tisch lägen; das sei zur Zeit nicht der Fall. Doch der Ruf der Öffentlichkeit nach schneller Aufklärung wurde immer lauter.
Da überraschte unser Ehrenmann mit einer weiteren Erklärung, die den erfahrenen Juristen zeigte. Er bestreite nicht und habe nie bestritten, das fremde Gartengrundstück nach Einbruch der Dunkelheit betreten zu haben. Dagegen beharrte er mit Nachdruck darauf, dass es sich um keinen Einbruch gehandelt habe. Das sei schon deshalb ausgeschlossen, weil das Gartentor zum fraglichen Zeitpunkt offen stand oder nur angelehnt, auf jeden Fall aber nicht verschlossen war. Solche Einzelheiten habe er sich in der Aufregung nicht gemerkt. Mit Entschiedenheit weise er auch die Unterstellung zurück, das Motiv seines Vorgehens sei Obstdiebstahl gewesen. Vielmehr habe er den Schrei eines Kindes gehört oder zumindest zu hören geglaubt; ihm habe er zu Hilfe eilen wollen. "Und" - fügte er nicht ohne Pathos hinzu - "ich würde heute wieder so handeln. Man stelle sich nur einmal vor, wie die Öffentlichkeit, übrigens völlig zu Recht, reagiert hätte, wäre mir unterlassene Hilfeleistung zur Last gelegt worden."
Einmal im Garten, habe er rasch erkannt, dass der von ihm missdeutete Schrei von einer jungen Katze kam, die sich in einem der Kirschbäume verstiegen hatte. Er räume ein, dass er in den Baum geklettert sei, aber nur, um das Tier herunterzuholen. Dabei sei ihm leider ein größerer Ast voller Kirschen abgebrochen, dessen Erwähnung im Protokoll der Polizeistreife, die ihn nach 23 Uhr vor dem Grundstück antraf, zu den bedauerlichen Missverständnissen geführt habe.
Für ihn habe sich die Frage gestellt, ob er den Ast einfach im Gras liegen lassen solle, auch auf die Gefahr hin, dass der Besitzer des Grundstücks ihn erst findet, wenn die Früchte bereits angefault sind. Oder ob er sie nicht mitnehmen und der seinem Haus benachbarten Kindertagesstätte schenken solle. Da er selbstverständlich die Absicht gehabt habe, dem Grundstückseigner Schadenersatz zu leisten, fühlte er sich zu dieser Entscheidung berechtigt. Um Qualität und Zustand der Kirschen zu überprüfen, habe er, wie er gern einräume, zusammen mit seiner Ehefrau von den Früchten gekostet. Gemeinsam seien sie zu dem Schluss gekommen, dass es wegen der sommerlichen Temperaturen das Beste wäre, das Obst noch in der Nacht zu Kompott zu verarbeiten. Das Vorhaben, die Kinder der Tagesstätte mit ihrem Geschenk zu überraschen, hätten sie wegen der notwendig gewordenen Reaktion auf die öffentlichen Verdächtigungen zuerst verschieben müssen und in der allgemeinen Aufregung der folgenden Wochen dann völlig vergessen. Den von der Opposition geforderten Rücktritt lehne er ab, auch für eine Beurlaubung bis zum Abschluss der Untersuchung sähe er keinen Anlass.
Das Ende kam schnell und unerwartet, als der Reporter eines überregionalen Blattes den Fall aufgriff. Er stellte nur zwei Fragen, auf die vor Ort bis dahin niemand gekommen war. Zum einen erkundigte er sich nach dem Verbleib der Einmachgläser, zum anderen wollte er wissen, warum der Beschuldigte nicht am Morgen nach der Tat den Gartenbesitzer aufgesucht und eine Schadensregelung vereinbart habe. Die verblüffende Antwort war - man weiß bis heute nicht den Grund - eine Rücktrittserklärung. Der Kreisvorstand der Partei erklärte umgehend, er akzeptiere und würdige diese Entscheidung, die höchsten Respekt verdiene. Sie sei kein Schuldeingeständnis, sondern ein freiwilliger Verzicht aus Verantwortung, um Schaden von Amt und Fraktion abzuwenden. Bei Weiterzahlung der vollen Bezüge bis zum Ende der Legislaturperiode, versteht sich. Danach, verlautete parteiintern, stünde einer Rückkehr in die Politik nichts mehr im Wege. Vorgesehen sei ein sicherer Platz auf der Landesliste für die nächsten Bundestagswahlen. Und genau so ist es dann auch gekommen.
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