Die Reichsbahn kassierte vier Pfennig pro Kilometer

Kommentar Betrifft: Firmengeschichte

Leicht kommt man in Verlegenheit, wenn Freunde wieder einmal die Unterstützung einer politischen Kampagne erbitten, die mit falschen Argumenten das Richtige fordert oder mit richtigen Argumenten das Falsche, weil sie ihrem Herzen mehr folgen als ihrem Verstand und daher Fragen der Strategie und Taktik vernachlässigen. In dieser Lage bin ich. Kurz der Sachverhalt: Beate und Serge Klarsfeld haben mit dem von ihnen geleiteten Verband der "Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs" eine Ausstellung erarbeitet, die dem Andenken an die 11.000 Kinder gewidmet ist, die allein schon aus diesem Land nach Auschwitz deportiert wurden. Sie gibt den Opfern ihre Namen wieder und zeigt uns, stellvertretend für alle anderen, die Gesichter von 150 Kindern, deren Fotos gefunden wurden.

Aus Anlass des 60. Jahrestages des Beginns der Deportationen wurde sie auf den Hauptbahnhöfen von 18 französischen Großstädten gezeigt. Frankreichs Staatsbahnen, deren Mitwirkung an dem Jahrhundertverbrechen hier dokumentiert wird, finanzierten die Stelltafeln und übernahmen Bewachung und Transport. Der Chef der SNCF bekannte sich in der Eröffnungsrede zur Mitverantwortung seines Unternehmens. Seither versuchen zahlreiche Einzelpersonen und Organisationen, die Deutsche Bahn AG zu einer Übernahme dieser Ausstellung zu bewegen - vergeblich. Die Liste der Ausreden ist lang: Es fehlten die dazu nötigen personellen und finanziellen Ressourcen; Bahnhöfe seien für Ausstellungen ungeeignet, die Verkehrssicherheit und die Sicherheit der Kunden sei nicht zu gewährleisten; die Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs sei als Termin verfehlt, bei Freibier und Blasmusik könne die dem Gegenstand gebührende Würde nicht gewahrt werden; statt auf einer Tournee könne die Arbeit der Klarsfelds doch im Eisenbahn-Museum in Nürnberg gezeigt werden; im Übrigen sei die Deutsche Bahn AG gar nicht die Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn und so weiter.

Inzwischen hat die Gewerkschaft Verdi die Pariser Dokumentation im Stuttgarter DGB-Haus gezeigt. Diesem Vorbild sollte man auch in Berlin folgen. Alle weiteren Versuche, Herrn Mehdorn zu überzeugen, sind im besten Falle verlorene Zeit. Im schlimmsten Falle, das heißt, wenn er am Ende doch noch einlenken sollte, hätte man ihm nur ein Alibi geliefert, die eigentlich zu fordernde Ausstellung über die Rolle der Deutschen Reichsbahn/Ostbahn definitiv zu umgehen.

Erinnern wir uns: Ein Millionenheer von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, politischen Häftlingen und zum Tode verurteilter Juden aus allen besetzten Ländern wurde während der Kriegsjahre in Viehwaggons durch ganz Europa transportiert. Die Reichsbahn stellte die Züge und kassierte für jeden Deportierten vier Pfennig pro Kilometer.

Die enge Zusammenarbeit zwischen Reichsbahn und Reichssicherheitshauptamt ist vielfach belegt. So heißt es in einem Fernschreiben von Himmlers Feldadjutant, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Karl Wolff, an den Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium und stellvertretenden Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Dr. Albert Ganzenmüller, am 13. August 1942: "Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5.000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka fährt (...) Ich habe von mir aus mit den beteiligten Stellen Fühlung aufgenommen, so dass eine reibungslose Durchführung der gesamten Maßnahmen gewährleistet scheint."

Der wirksamste moralische Druck, eine Ausstellung über dieses Thema zu finanzieren, wäre es, das französische Beispiel an neutralem Ort zur Eröffnung des Hauptbahnhofs in Berlin zu zeigen. Statt weiter an die Bahn AG zu appellieren, sollten die verschiedenen Initiativen die Sache endlich selbst in die Hand nehmen, wenn es dazu nicht schon zu spät ist.

Die bis 1945 Verantwortlichen hatten das Glück, dass ein Verfahren gegen sie vor dem Amerikanischen Militär-Tribunal nicht mehr stattfand, weil von den ursprünglich geplanten 24 Nürnberger Folgeprozessen in den Zeiten des Kalten Krieges gerade noch zwölf zu Ende geführt wurden. Das ist aber kein Grund, der Deutschen Bahn AG eine Aufarbeitung ihrer Unternehmensgeschichte zu erlassen. Sie könnte an Ansehen gewinnen, wenn sie auf weitere faule Ausreden verzichtet und sich endlich den historischen Tatsachen stellt.

Gerhard Schoenberner, Schriftsteller und Publizist


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