Versprechen auf die Zukunft

Zeitpfeil Mit ihrem Science-Center in Wolfsburg knüpft die irakische Architektin Zaha Hadid an die Avantgarde an

Das neue Science-Center Phaeno, von der Architektengemeinschaft Science-Center Wolfsburg Mayer-Bährle gebaut, ist gewöhnungsbedürftig. Wie eine Endmoräne aus Beton liegt das dreiecksförmige Gebäude mit einer Seitenlänge von 154 m als Block auf dem Platz. Ein futuristischer Baukörper, der mit 16 Metern Höhe wie ein Raumgleiter eine neue Epoche der Architektur einleitet. Ein radikaler Bau, der als Skulptur seine Wirkung entfaltet und neue Maßstäbe für zeitgemäße Museen vorlegt. Das auf konischem Volumen ruhende und auf Kegelstümpfen lagernde Bauwerk wird nun der Stadt Wolfsburg als ein öffentlicher Hallenraum übergeben.

Der ungewöhnlich klar strukturierte Baukörper steht zugleich auch für ein wissenschaftliches Programm. Im Innern zeigt Phaeno eine Welt in zahlreichen Experimenten inmitten einer Landschaft aus Kratern, Höhlen und Plateaus. 250 Experimentierstationen, die neugierig machen und dazu einladen, spielerisch die Welt zu entdecken. In neun Themenfeldern sind in der weiten Halle zu studieren: Leben und Licht, Sehen und Bewegung, Wind und Wetter, Mikro und Makro, Energie und Materie, Information. Die Ausstellung setzt konsequent auf sinnliche Erfahrung und Anschaulichkeit. Sie will verzaubern, Unsichtbares begreifbar machen und über ungewöhnliche Experimente andere Zugänge zu naturwissenschaftlichen Phänomenen aufzeigen. Die unmittelbare, von Station zu Station fortschreitende Entdeckung ist Programm und Didaktik der Exposition. Ein 80 Millionen teures Experiment, das mit einer Ausstellungsfläche von 9.000 Quadratmetern zu einem neuen Verständnis der Kulturwissenschaften animiert.

Vor der strengen Kubatur des VW-Werkes wirkt das langgestreckte Gebäude wie ein Versprechen auf die Zukunft. Das Museum Phaeno markiert eine historische Nahtstelle, ähnlich einem Raumschiff, das einen wichtigen strategischen Punkt zwischen dem Bahnhof Wolfsburg und der neuen Autostadt jenseits der Gleisanlagen besetzt hält. Es ist das Verdienst des Museumschefs Wolfgang Guthardt, an der Nahtstelle zwischen Mittellandkanal und dem gegliederten Industriebau des VW-Konzerns den Wirkungsradius des neuen Museums auszuloten.

Der Entwurf der Londoner Architektin Zaha Hadid mit seiner avantgardistischen Form ist ein komplexes Bauwerk, das den Abschluss einer Reihe bedeutender Kulturbauten bildet, die als Verbindungsglied den Zugang zur Autostadt am Nordufer des Mittellandkanals schaffen. Der trapezförmige Grundriss mit den konischen Betonpfeilern erlaubt Durchblicke auf das VW-Werk. Das ungewöhnlich breit ausgelegte Raumschiff zeigt ein unorthodoxes Programm. Der Platz, auf dem es lagert, weist wellenförmige Bodenbewegungen auf; der Haupteingang ist schräg in den Kegelstümpfen versteckt, eine Rolltreppe führt zu der höher gelegenen, landschaftsartig gestalteten Halle hinauf: einem großen stützenfreien Raum mit Gastronomie, Werkstätten, Ideenforum und Spielobjekten und einem offenen Blick auf die Autostadt Wolfsburg. Der Boden der Halle, eine aus Beton gegossene Riesenscheibe, nimmt die Bewegungsflüsse der Stadt auf.

Der in selbstverdichtendem Beton ausgeführte Bau ist als Referenzobjekt für die Bauindustrie von großer Bedeutung. Statt Stützen und Balken ermöglicht das Material eine vielgestaltige Formenwelt. So musste das Dach von Phaeno, bestehend aus 4.700 Stahlteilen, mit einem Kran auf 16 Meter Höhe angehoben werden; es ist ein freitragendes Dach, das unregelmäßig aufgelagert ist und die 6.000 Quadratmeter große Halle ohne Stützen überspannt.

Zaha Hadids Zeichnungen sind seit den achtziger Jahren als vielschichtige, sich räumlich überlappende Raumerschließungen bekannt, deren Dynamik aus unterschiedlichen Standorten resultiert. Die Architektin verändert Raumkonzepte, Größenverhältnisse und Ansichten: so entstehen risikoreiche Entwürfe, deren Raumvorstellungen sich nur Lesekundigen erschließen. Die zeichenbegabte Architektin wird nicht müde, der Architektur einen Zeitpfeil einzugeben. Angeregt durch den russischen Avantgardisten Kasimir Malewitsch setzt Zaha Hadid überlagernde Raumformen in eine fließende Erlebnisform um. So entsteht im Wolfsburger Museum ein Raumkontinuum, das einen eigentümlich ästhetischen Reiz entfaltet und dem Besucher viel Spielraum überlässt.

Die Schwierigkeiten, die Zeichnungen in fließende tektonische Systeme zu übersetzen, sind oftmals mit Raumüberschneidungen verbunden. Ein dynamischer Bewegungsstrom durchzieht die landschaftlich gestalteten Räume, ein Bezugssystem, in dem perspektivische Verzerrungen auftreten, die sich in den mächtigen Kegelstümpfen zu funktionalen Brennpunkten verdichten. Der Besucher orientiert sich nicht mehr an Achsen, Kanten und abgegrenzten Bereichen, sondern er wird der Ontologie des Raumes ausgesetzt, muss ihn für sich neu strukturieren.

Die in Bagdad geborene Architektin bewegt sich von der Oberfläche zum Kern und kehrt so die Reihenfolge von Zweck und Mittel um. Die Zeichnung wird als mehrfache Projektion benutzt, um die Wirkung eines dynamischen Feldraumes zu erzeugen. Statt Achsen und Kanten werden Funktionsbereiche angelegt. Eine Architektur festgelegter Typologien wird zugunsten einer neuen Raumfindung aufgegeben. Auch hier greift die Architektin auf El Lissitzky zurück, um das Potential der abstrakten Kunst für die Architektur zu erschließen.

Die 250 Designobjekte als Experimentierstationen, von dem Kurator Joe Ansel entworfen, wirken in ihrer Klobigkeit wie ein Nachtrag auf ein vergangenes Jahrhundert. Die Diskrepanz zwischen einem kleinteiligen Design und der weiträumigen futuristischen Architektur von Zaha Hadid hemmt bisweilen die spielerische Seite und bremst den kontrollierten Lernbereich.

Zaha Hadids Familie stammt aus Bagdad. Ihr Studium absolvierte die Irakerin an der Architectural Association School in London unter der Schirmherrschaft von Leon Krier. Doch erst unter der Ägide von Rem Koolhaas entfaltete sich ihr zeichnerisches Talent. Das radikale Feuerwehrhaus für Vitra in Weil am Rhein sicherte Zaha Hadid 1993 den Durchbruch in der internationalen Architekturszene, nachdem jahrelang ihre Zeichnungen im Mittelpunkt standen. Der Pritzker-Preis, verliehen unter anderem für das Museum in Wolfsburg, ist die letzte bedeutende Auszeichnung für ihr Büro in London.


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