Noch vor Beginn des Festivals wurde Großes angekündigt: Es würde drei Tage nach einem nationalen Ereignis mit internationaler Ausstrahlung eröffnet, das in diesem Jahr von besonderer Bedeutung sei, hatte Alfredo Guevara bereits vor Monatsfrist die langjährigen ausländischen Festivalgäste in einem Rundschreiben informiert. Dabei ist der 81-jährige ewige Festivalpräsident Guevara ansonsten alles andere als ein Mann von PR oder Anbiederung an ein internationales Massenpublikum, sondern vielmehr ein Visionär, überzeugt von der Mission für jene Einheit Lateinamerikas, die einst Che Guevara (mit dem der Festivalpräsident nicht verwandt ist) sich erträumt hatte.
Der Grund für das ungewöhnliche Schreiben Alfredo Guevaras war natürlich der, dass in diesen letzten Novembertagen die Welt gespannt nach Cuba blickte: Am 2. Dezember jährt sich der Tag, an dem (1956) Fidel Castro samt 81 Getreuen mit der Motoryacht Granma im Osten der Insel gelandet war und den Guerillakrieg begonnen hatte. An diesem 50. Jahrestag nun erwartete man, dass in der Öffentlichkeit jene "Figur" wieder erscheint, die zusammen mit José Martí (Held des Unabhängigkeitskrieges von 1895, Anm. G.K.) die cubanische Revolution inspiriert hat, hieß es weiter in Alfredo Guevaras Rundschreiben. Bekanntlich erschien die Figur nicht, und es gilt seither als gesichert, dass der Tod des Revolutionsführers innerhalb von Tagen, Wochen oder längstens einigen Monaten Realität werden wird.
Hinter vorgehaltener Hand bekam man in diesen Tagen auch respektlose Kommentare zu hören, wie: Der ist doch schon tot, aber sie müssen die Nachricht noch zurückhalten, denn wenn sie jetzt seinen Tod bekannt geben, muss auch das Filmfestival abgebrochen werden. Da aber das Festival Cubas wichtigstes jährliches Kulturereignis mit internationaler Ausstrahlung ist, könnten sich Fidel Castros Nachfolger um seinen Bruder Rául einen Abbruch gar nicht leisten. Nun ist auch das bereits wieder Vergangenheit und gehört ins Reich der fleißig sprudelnden Spekulationen - doch am Erstaunlichsten war: Vom Moment an, da das Filmfestival begonnen hatte, war nicht nur diese Welt der großen Politik weit weg gerückt, sondern man konnte sich als Festivalbesucher an einer Organisation und an einer Programmation erfreuen, die besser war als in früheren Jahren. Ein übersichtlicher gestalteter Festivalkatalog, eine effizientere und - vor allem - schnellere Kontrolle an den Kinoeingängen, dazu ein neu eröffnetes Multiplexkino an zentraler Lage, das erste dieser Art in Cuba, trugen mit dazu bei. Es schien bisweilen, als wollte man seitens der Festivalleitung jene Kontinuität zeigen, die bis vor wenigen Jahren oft in Frage gestellt wurde für den Zeitpunkt des Ablebens der "Figur".
Das diesjährige Festival war außerdem gekennzeichnet durch eine größere inhaltliche und stilistische Bandbreite als die Ausgaben der letzten vier Jahre. Nachdem man 2002 das Programm verschlankt hatte, war man dieses Jahr wieder bei einer Zahl von rund 500 Filmtiteln angelangt. Wie Iván Giroud - seit 2000 als Direktor dieses größten lateinamerikanischen Festivals tätig - gegenüber dem Freitag erklärte, habe diese neuerliche Erweiterung aber nichts mit Beliebigkeit, sondern vielmehr mit größerer Offenheit zu tun. Außerdem wolle man dem Umstand der immer größeren Produktion junger Filmschaffender Rechnung tragen. So wurden denn in diesem Jahr erstmals auch Experimentalfilme gezeigt, dazu waren neu gleich mehrere Reihen von Filmen aus Filmschulen präsent. Darunter war die Schule von San Antonio de los Baños bei Havanna, die in diesen Tagen ihr 20-jähriges Bestehen feierte, am prominentesten vertreten. Darüber hinaus wurde dem Dokumentarfilm mehr Platz eingeräumt. Erstmals gab es ein internationales Panorama mit einigen der weltweit erfolgreichsten Produktionen der letzten Jahre - wohl als Gegengewicht zum Wettbewerb neuer Dokumentarfilme, der mit einigen Weltpremieren aufwartete. Dazu gehörte beispielsweise Historias de arriba y abajo, eine ironisch angehauchte Reise durch die Mythenwelt der bolivianischen Anden, realisiert von dem Deutschen Thomas Böltken.
Seit zwölf Jahren existiert am Filmfestival Havanna die Reihe Cine Aleman, und es hat in all diesen Jahren der Zusammenarbeit zwischen Deutscher Botschaft, Goethe-Institut und den zuständigen Stellen beim cubanischen Filminstitut ICAIC und dem Filmfestival nie Schwierigkeiten bezüglich der eingereichten Filme gegeben. In diesem Jahr nun wurde die Eintracht deutsch-cubanischer Kulturpartnerschaft durch die Zurückweisung des Dokumentarfilms Die neue Kunst, Ruinen zu schaffen getrübt. Die beiden Deutschen Florian Borchmayer und Matthias Hentschler entwerfen in diesem klug strukturierten Filmessay ein melancholisch-poetisches Bild der zerbröckelnden cubanischen Metropole. Anhand der Porträts einiger Menschen, die in Ruinen leben, machen sie auch den Grad an Dekadenz und Verfall des politischen Systems deutlich. Der Schriftsteller Antonio José Ponte spielt im Film den Reiseführer, stellt sich als "Ruinologe" vor und entwirft die provokante Theorie, die Ruinen in Havannas Innenstadt hätten ihre gewollte Seite: "Seit fast 50 Jahren hält sich Fidel Castro mit der Geschichte an der Macht, dass eine US-amerikanische Invasion Cubas unmittelbar bevorstehe. Da diese Invasion aber nie stattfand, ist es ihm - der mittlerweile selber eine Ruine ist - recht, wenn wenigstens Teile der Stadt aussehen, als hätten sie einen Krieg erlitten. Das nenne ich: Die neue Kunst, Ruinen zu schaffen." Mit solchen Sätzen hat nicht nur der seit Juli in Spanien lebende Ponte, sondern haben auch die Filmemacher klar jene rote Linie überschritten, die in Cuba jede direkt formulierte Kritik am Revolutionsführer verbietet. Der cubanische Volksmund hat für diesen Sachverhalt mit ätzendem Spott den Satz kreiert: Man darf von der Kette sprechen, nicht aber vom Affen. Der deutsche Botschafter in Cuba, Ulrich Lunscken, der den bereits an mehreren internationalen Festivals (darunter Rio de Janeiro und Los Angeles) preisgekrönten Film schätzt, kritisiert allerdings die beiden Regisseure dafür, dass sie so tun, als hätten sie ernsthaft erwartet, der Film könne in Havanna gezeigt werden. "Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie den Wirbel vor allem entfacht haben, um bessere internationale Verkaufschancen zu haben", erklärte er dieser Tage auf Anfrage und fügt hinzu, dass er dies legitim fände. Andererseits aber habe er kein Verständnis dafür, wenn mit diesem Vorgehen auch die jahrelange Aufbauarbeit im Bereich des Kulturaustausches gefährdet werde.
Was die Kritik an herrschenden Zuständen in Cuba anbelangte, so konnte man dieses Jahr durchaus auch Beispiele dafür finden, dass nicht alles so schwarz und weiß ist, wie es der Wirbel um den "Ruinenfilm" nahelegt. Buscándote Habana (Such´ dir Havanna) hieß etwa ein 20-minütiger Dokumentarfilm der jungen Cubanerin Alina Rodriguez, in welchem sie schonungslos die Lebensverhältnisse von einigen aus den Provinzen nach Havanna eingewanderten Menschen zeigt. Die behelfsmäßigen Blech-, Holz- oder Palmblätterhütten der Protagonisten sind dabei von solcher Armseligkeit, dass daneben einige der Behausungen von Borchmayer/ Hentschlers Ruinenbewohnern fast schon komfortabel wirken - und die Leute nehmen auch hier vor der Kamera kein Blatt vor den Mund.
Überhaupt waren Filme aus Cuba dieses Mal in diversen Sektionen gut vertreten, es ist eine neue Generation herangewachsen, die teils außerhalb des Filminstituts ICAIC, teils mit dessen Hilfe, Filme realisiert, die das lange Zeit geltende Bild des cubanischen Kinos relativieren. Waren es bis vor kurzem Komödien oder metaphernbefrachtete Werke, die, mit Ausnahme etwa der Filme eines Fernando Pérez, sich meist in ähnlichen Bahnen bewegten, so hat sich dies nun geändert. "Cubanischer Film war fast ein Genre geworden", ironisierte Pavel Giroud (Jahrgang 1972), der mit seinem Erstling La edad de la peseta mit dem Preis für beste Fotografie ausgezeichnet wurde, diese Tatsache in einem Gespräch. La edad de la peseta erzählt aus der Perspektive eines 10-jährigen Jungen die Veränderungen, die zwischen 1958 und 1961 im Verhältnis zwischen ihm, seiner Mutter und seiner Großmutter stattfinden, in jener Zeit der revolutionären Umwälzungen in Cuba. "Ich werde aus Cuba ein völlig anderes Land machen", verspricht in einer Archivaufnahme von 1957 ein junger Fidel Castro am Anfang des Films, und es klingt fast mehr wie eine Drohung als eine Verheißung. Und die Art, wie der Film im weiteren Verlauf die politischen Veränderungen eben gerade nicht zeigt, sondern die Protagonisten am Ende nur als ihre Opfer erscheinen lässt, ist für cubanische Verhältnisse ein ziemlich kühnes Unterfangen.
Neben Cuba war es vor allem Brasilien, das in diesem Jahr mit einer starken Präsenz aufwartete. O ceu de Suely (Der Himmel von Sueley) von Karim Aïnouz vermittelte, visuell berauschend, die in totaler Ambivalenz sich bewegende Geschichte von Hermilia, einer reinen Unschuld vom Land zwischen kindlicher Naivität und kalter Berechnung und zeigt dabei völlig beiläufig die Abgründe einer entwurzelten Existenz am Rande der Marginalität. Der auf mehreren Ebenen schillernde Film erhielt zu Recht den Hauptpreis des Festivals, und außerdem wurde die junge Hermila Guedes mit dem Preis als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.
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