Imperialistische Kindesentführung

KINO UND ANDERE DEMONSTRATIONEN Festival des neuen lateinamerikanischen Kinos in Havanna

Die großen Stars des lateinamerikanischen Kinos fehlten in diesem Jahr weitgehend beim Festival von Havanna, oder ihre neuen Filme waren im Gegensatz zu früheren Jahren außerhalb des Wettbewerbs zu sehen. Der Brasilianer Carlos Diegues (Bye, bye Brasil) präsentierte sein neuestes Werk Orfeo - ein bildgewaltiges und fast opernhaftes Remake von Marcel Camus Klassiker Orfeo Negro - auf der Eröffnungsgala, während etwa der Mexikaner Arturo Ripstein Elcoronel no tiene nadie quien le escribe ("Der Coronel hat niemand, der ihm schreibt"), eine filmische Adaptation der gleichnamigen Novelle von Gabriel García Marquez im Rahmen der Ehrung für sein Gesamtwerk vorstellte. Francisco Lombardi aus Peru schließlich glänzte durch Abwesenheit, er entschloss sich kurzfristig, die Weltpremiere seines neuesten Films Pantaleon y las visitadoras ("P. und die Besucherinnen") statt in Havanna auf der kommenden Berlinale durchzuführen. Der Kolumbianer Sergio Cabrera war schließlich einer der wenigen bekannten Namen innerhalb des Spielfilmwettbewerbs. Sein Golpe de estadio ("Stadionsstreich"), eine unterhaltsame Farce über den Krieg in seinem Heimatland, der ruht, wenn die Kontrahenten sich lieber die Fußball-WM im Fernsehen ansehen als sich zu bekämpfen, war einer der Publikumslieblinge, ging aber bei der Prämierung leer aus.

Demonstrationen auf kubanisch

"Eine unterentwickelte Gesellschaft manifestiert sich darin, dass die Leute immer jemanden brauchen, der für sie denkt." Der Satz stammt aus einem der letzten Interviews, das Tomás "Titón" Gutiérrez Alea, der Übervater des kubanischen Kinos, kurz vor seinem Tod im Jahr 1996 gegeben hatte. "Titón" nahm darin Bezug auf Memorias del subdessarollo ("Erinnerungen an die Unterentwicklung"), sein Meisterwerk aus dem Jahr 1968, in welchem dieser Satz schon vorkommt; mit wenig Hoffnung fügte Alea dann noch hinzu: "Natürlich wäre es für mich eine große Befriedigung, könnte ich es noch erleben, einmal nicht mehr in einer unterentwickelten Gesellschaft zu leben."

Das ganze Statement steht am Schluß eines Dokumentarfilms, den der renommierte junge kubanische Regisseur Enrique Alvarez zusammen mit zwei Kollegen realisiert hat, und der den Titel Memorias de fin de siglo ("Erinnerungen an das Jahrhundertende") trägt. Der halblange Film, der im Wettbewerb in der Dokumentarfilmsparte mit einer "speziellen Erwähnung" ausgezeichnet wurde, hält Rückschau auf das kubanische Filmschaffen dieses zu Ende gehenden Jahrzehnts. Die Umsetzung dieser an sich reizvollen Idee präsentierte sich dann aber in Form einer öden Aneinanderreihung von Szenenausschnitten bekannter und unbekannter Werke des kubanischen Kinos der neunziger Jahre, kombiniert mit einer Tonspur, die Sätze aus Guantanamera und Memorias del subdesarrollo von Alea rezitiert. So sehr sich dieser Film in einer reinen Reproduktion von Vorhandenem erschöpft, so sehr erhielt der oben zitierte Satz eine unerwartete Aktualität und bewies seine unveränderte Gültigkeit durch die bizarren Massenmobilisierungen für die Repatriierung des in Miami gestrandeten kleinen Elián. Der Chef rief - und das Volk strömte zusammen, und wiederholte endlos und in grotesker Verdrehung der Logik das Anklagen gegen die "imperialistischen Kindesentführer". Am Anfang rieb man sich noch verstört die Augen und Ohren, wenn man auf den Straßen oder im Fernsehen sechsjährige Jungpioniere Parolen gegen die Verbrechen des US-Imperialismus schreien hörte, doch schon nach kurzer Zeit hatte man sich an den Irrsinn gewöhnt.

Weniger zum Staunen als diese befohlenen Demonstrationen des verletzten Nationalstolzes, sondern eher zur Enttäuschung, gerieten dagegen die mit Spannung erwarteten neuesten (Ko-)Produktionen einheimischer Provenienz. Hatte beim letztjährigen Festival von Havanna das kubanische Kino noch mit Fernando Pérez' meisterlichem La vida es silbar brilliert, so gab es dieses Mal nur bescheidenes Mittelmaß zu sehen. Während Las profecías deAmanda von Pastor Vega mit seiner Geschichte von der Wahrsagerin Amanda eine Daisy Granados in der Hauptrolle präsentierte, die dem Film wenigstens schauspielerisch ein kleines Glanzlicht aufsetzte, erschöpfte sich Gerardo Chijonas handwerklich solide Musikkomödie aus dem weltberühmten "Tropicana"-Cabaret in Stereotypen des Genres, die genausogut aus Hollywood hätten stammen können. Außerdem wimmelte es in dem Film nur so von Gags, die direkt aus früheren kubanischen Filmkomödien übernommen waren. Dem Publikum allerdings gefiel es, es strömte in Massen in die Kinos, was sich weniger chaotisch gestaltete als in früheren Jahren. Der Film erhielt schließlich den Popularitätspreis, und die internationale Jury zeichnete ihn in den Kategorien Musik und Ton aus.

Argentinische Highlights

Einen der Höhepunkte des diesjährigens Festivals stellten schließlich einige Filme aus Argentinien dar. Sie geben zu manchen Hoffnungen Anlass, was die Zukunft des lateinamerikanischen Films anbelangt. Obwohl es in diesem Jahr keinen einzigen neuen Solanas, Subiela oder Aristarraín gab, markierte das argentinische Kino mit 14 langen Spielfilmen im Wettbewerb - der in dieser Kategorie total 38 Filme umfasste - eine schon rein quantitativ beeindruckende Präsenz. Das Land scheint momentan über ein schier unerschöpfliches Reservoir an noch unbekannten und noch jungen Talenten zu verfügen, so dass man denn bereits von einem "Neuen argentinischen Kino" zu sprechen beginnt. Der Festivaldirektor Alfredo Guevara relativierte dann allerdings nach dem Ende des Festivals den von ihm mitgeprägten Begriff, als er in einem Fernsehinterview meinte: "Richtiger wäre es, statt von einem neuen, von einem Kino zu sprechen, das eine gewisse Frische mit sich bringt, weil es sich unbefangen und frech bei vergangenen Stilrichtungen wie Cinéma Verité, Nouvelle Vague oder Neorealismus bedient, und daraus etwas Eigenes zu schaffen versucht". Ein Film, der diese Tendenz klar repräsentierte, war Mundo grúa (Welt der Kräne), ein Erstlingswerk des 28jährigen Pablo Trapero, das in expressiven Schwarz-Weiß-Bildern die unspektakuläre Geschichte eines 50jährigen Bauarbeiters erzählt, der im Argentinien der Gegenwart seine Arbeit verliert. Die Jury, in diesem Jahr unter dem Vorsitz des Bolivianers Jorge Sanjinés, würdigte den Film, indem sie ihm den Spezialpreis des Festivals verlieh.

Der Hauptpreis des Festivals ging dann an ein Werk, das sich die schwierige Aufgabe gestellt hatte, am Ende dieses Jahrhunderts das Gedenken an die Opfer eines lateinamerikanischen Jahrhundertverbrechens wachzuhalten: Garaje Olimpo von Marco Bechis schildert das Schicksal der 17jährigen Maria, einer Linksaktivistin, die wie 30.000 andere während der Zeit der Militärdiktatur ermordet und zum "verschwinden" gebracht wurde. Neben diesem Grauen der Vergangenheit spielt bei vielen argentinischen Filmen immer wieder die Poesie eine herausragende Rolle. Diese Tendenz manifestierte sich schließlich am schönsten im drittplazierten Yepeto von Eduardo Calcagno, einem schon älteren, gestandenen Cinéasten, den man hierzulande noch kaum kennt und der in der bittersüßen Komödie um den alternden Literaturprofessor Yepeto eine bewegende Synthese aus Literatur, Poesie und Kino schaffft. Ähnliches brachte der in der Dokumentarfilmsparte mit dem ersten Preis ausgezeichnete Tristan Bauer mit seinem Film Borges zustande, eine kühne, größtenteils fiktionale Annäherung an das mystisch-surrealistische Universum des verstorbenen argentinischen Dichteraristokraten - am Ende dieses Jahrhunderts ein würdiges filmisches Denkmal für eine der Jahrhundertgestalten unter den lateinamerikanischen Intellektuellen.

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden