Uja tsu uja ozoporywyt ne, sepati." Arypë spricht leise und langsam. Mal ist ihre Stimme wie ein Singsang, mal nur ein Hauch. Es ist nach Einbruch der Dunkelheit. Die Vögel schweigen im Wald, ebenso die Hunde, Hühner und Kinder im Dorf. Auch die tropische Hitze hat nachgelassen. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für die Aufnahmen. Arypë erzählt dem weißen Mann, der ihr gegenüber sitzt, von der Zeit, als sie erwachsen wurde. Mitten im Urwald von Brasilien spricht sie Worte in ein Mikrofon, die außer ihr nur noch etwa hundert andere Menschen auf der Welt verstehen. Der Weiße ist Sebastian Drude und versteht sie nicht ohne Dolmetscher. Noch nicht. Aber das soll sich in den nächsten Jahren ändern. Seit Wochen ist er bereits im Dorf der Aweti, eine acht Stunden lange Fahrt mit dem Motorboot entfernt von der kleinen Flugpiste, auf der er gelandet ist, irgendwo im Quellgebiet des Xingu, eines mächtigen Seitenarmes des Amazonas.
Wenn der letzte Sprecher stirbt
Fremde Länder und ferne Völker zu besuchen, das ist nicht nur die Domäne von Abenteuer-Archäologen vom Schlage eines Indiana Jones. Sebastian Drude ist kein Archäologe, sondern Sprachwissenschaftler. Diese Leute, so das Bild in den Köpfen der Unwissenden, haben Spaß daran, anderen die Valenzen von Verben zu erklären, über das Aussterben des Genitivs zu klagen oder der deutschen Sprache eine Rechtschreibreform zu verpassen. Weit gefehlt.
"Die Sprachwissenschaftler haben lange vor sich hingewerkelt und haben dann eine Grammatik des Deutschen zum 27. Mal verfeinert. Im Augenblick sind wir aber woanders angelangt", bekräftigt Hans-Heinrich Lieb von der Freien Universität Berlin. Der Professor für Linguistik erinnert sich daran, dass die Kollegen seiner Zunft am Ende des letzten Jahrhunderts begannen, ein dramatisches Bild von der zukünftigen Entwicklung aller weltweiten Sprachen zu zeichnen. Seitdem herrscht unter ihnen der Alarmzustand. "Es hat bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gedauert, bis die Sprachwissenschaftler tatsächlich erkannt haben, dass ihnen - kurz gesagt - die Sprachen wegsterben", fasst er zusammen. In hundert Jahren gibt es vielleicht nur noch zehn Prozent der heute noch mehr als 6.000 verbreiteten Sprachen, lautet die pessimistische Prognose. Viele dieser Sprachen verfügen nicht über ein Schriftsystem. Während Archäologen noch nach Jahrtausenden Trümmer aus der Erde graben können als Zeugnis vergangener Kulturen, bleibt von einer Sprache, die nirgendwo festgehalten wurde, rein gar nichts übrig. Wenn der letzte Sprecher stirbt, ist es so, als habe es sie nie gegeben. Deshalb ist ihr Verlust unersetzlich.
Für den Touristen der Zukunft mag es eine Erleichterung sein, wenn er nur noch eine Fremdsprache beherrschen müsste, um sich überall auf der Welt unterhalten zu können. Doch die Aweti sehen das anders. Als Sebastian Drude 1998 als Gastforscher in Brasilien weilte, erhielt er einen Anruf. Yakumin, der Häuptling der Aweti, hatte gehört, dass der Linguist eine Sprache suchte, über die er arbeiten konnte. Yakumins Stamm hatte begriffen, dass Sprache und Kultur der Aweti in Gefahr waren, zu verschwinden. Sie steckten in einem Dilemma. Auf der einen Seite war es für sie vorteilhaft, Portugiesisch, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Auf der anderen Seite vergrößerte sich dadurch die Gefahr, dass der Unterricht in den brasilianischen Schulen die Aweti-Kinder von ihrer Herkunft und Kultur entfremden würde. Also brauchten sie eine eigene Schule, eine eigene Orthografie, eine eigene Grammatik - und die Hilfe eines Linguisten.
Sebastian Drude war sich schnell einig mit den Aweti. Er hatte Glück. Die Volkswagenstiftung hat in den neunziger Jahren ein Projekt zur Dokumentation bedrohter Sprachen (DobeS) angeregt und in Zusammenarbeit mit Sprachwissenschaftlern in aller Welt initiiert. Insgesamt wurden acht Projekte ausgewählt, die in China, Papua Neuguinea, Sibirien und anderswo auf dem Globus gefährdete Sprachen vor ihrem Untergang aufzeichnen sollen. Auch das Aweti ist unter der Leitung von Professor Lieb und Sebastian Drude in diesen Projektverbund aufgenommen worden. Am Ende der fünfjährigen Projektphase, die im Dezember 2000 begonnen hat, sollen die Sprachen in einem elektronischen Archiv erfasst und zugänglich gemacht werden. An diesem Archiv arbeitet eine neunte Gruppe von Computerlinguisten am Max Planck Institut für Psycholinguistik in Nimwegen.
Dokumentation dient Spracherhalt
Da das Sprachensterben heute so schnell wie nie zuvor in der Geschichte voranschreitet, haben die Wissenschaftler Mühe, dem Verschwinden der Sprachen entgegen zu arbeiten. Eigentlich kommen sie viel zu spät. Und selbst wenn sie, wie im DobeS-Projekt, einigen Sprachen noch rechtzeitig habhaft werden, wissen die Forscher nicht, ob diese Sprachen die nächsten 30, 40 Jahre noch überleben werden. "Die Zielsetzung des Projektes ist Dokumentation und nicht Spracherhalt", dämpft Professor Lieb deshalb allzu große Erwartungen. "Ich kann Ihnen aber sagen, dass sämtliche Wissenschaftler, die in diesen Projekten arbeiten, am Spracherhalt interessiert sind. Das bedeutet, die Dokumentation wird so erfolgen, dass sie auch für Fragen des Spracherhalts nützlich ist." Garantieren können auch die Linguisten nicht, dass eine Sprache erhalten wird, gleichgültig, ob es sich um Sprachen mit einigen hundert oder etlichen zehntausend Sprechern handelt. Auch eine Sprache mit Millionen Sprechern kann innerhalb von ein, zwei Generationen aussterben, wenn sie von den Jüngeren nicht mehr übernommen wird.
Grund dafür ist häufig ein psychologisches Problem, das im Zuge der Globalisierung immer schwerer zu wiegen beginnt. An den vom Aussterben bedrohten Sprachen haftet nach Einschätzung von Professor Lieb der Makel der Minderwertigkeit gegenüber den "erfolgreichen" Weltsprachen, zu denen natürlich an vorderster Front das Englische gehört, aber auch das Spanische, Chinesische, Russische und Arabische. "Das kommt daher, weil die europäisch-amerikanische Kultur im Augenblick die Welt überzieht mit dem ökonomischen Erfolg im Schlepptau, der dann identifiziert wird mit der entsprechenden Kultur und Sprache. Mit anderen Worten: wir müssen alle Englisch sprechen - ich übertreibe mal - damit wir überhaupt wirtschaftlich vorankommen." Diesem Druck von außen kann eine Sprachgemeinschaft nur dann auf Dauer entgehen, wenn sie selbstbewusst mit ihrer eigenen Kultur verbunden ist. "Wenn es gelingt, die Sprecher auf ihre Kulturen und Sprachen stolz sein zu lassen, dann, denke ich, haben wir eine Chance." Für die Aweti ist es die Übermacht des Portugiesischen, der sie widerstehen müssen. Die Landessprache lockt mit wirtschaftlichen Vorteilen. Nur wer des Portugiesischen mächtig ist, kann woanders Arbeit finden und Geld verdienen.
Bis jetzt hat das Aweti, gemessen an seinen Existenzbedingungen, eine erstaunliche Zähigkeit bewiesen. Zwar gleicht der Stamm mit etwa 110 Personen im Augenblick noch mehr einer Großfamilie als einer Dorfgemeinschaft. Aber seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Aweti von ihrer schlimmsten Krise schon wieder gut erholt. Damals war der Stamm auf nur noch 23 Überlebende dezimiert. Schuld daran war der Kontakt mit Weißen von außerhalb. Die Aweti wurden von eingeschleppten Krankheiten infiziert, gegen die sie sich nicht wehren konnten und die den Stamm beinah ausgelöscht hätten.
Den ersten nachgewiesenen Kontakt mit den Aweti hatte übrigens ein Deutscher. 1884 und 1887 unternahm der in Mülheim geborene Arzt Karl von den Steinen zwei Expeditionen in das Gebiet der Quellflüsse des Xingu, die damals noch ein weißer Fleck auf der Landkarte waren. In seinen Reiseaufzeichnungen finden sich neben dem Eingeständnis, er wolle etwas tun, was keiner vor ihm getan habe, auch die Berichte von den Begegnungen mit den vielen Indianerstämmen dieser Gegend.
Sebastian Drude, der im Mai 2002 zu seiner vierten mehrmonatigen Reise zu den Aweti aufgebrochen ist, knüpft somit an alte Traditionen an. Obwohl er nicht wie Karl von den Steinen als Ethnologe, sondern in erster Linie als Linguist unterwegs ist, hofft er, dass sich aus den Aufzeichnungen auch Erkenntnisse gewinnen lassen, die jenseits seines Faches liegen. "Was mich wirklich interessiert, ist, wann die Indianersprachen sich aufgespalten haben, also wann es vielleicht einmal ein gemeinsames Volk gegeben hat, wo es hergekommen ist, wann es angefangen hat zu wandern und wohin, wem es unterwegs begegnet ist. Also, ich versuche als langfristiges Ziel, Sprachforschung auch so zu betreiben, dass ich etwas über die frühe Vorgeschichte von Südamerika erfahre."
Sprache als kulturelles Gedächtnis
Die Sprachdokumentation hat also nicht nur Wert für die linguistische Forschung. Sie ist auch für eine Reihe anderer Wissensgebiete von Belang, unter ihnen Anthropologie, Verhaltensforschung, Ethnologie oder sogar für Fragen der Besiedlungsgeschichte Lateinamerikas vor der Ankunft der spanischen Konquistadoren im 16. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive wirkt die Frage, ob es aus Sicht eines Touristen lohnenswert wäre, das Aweti zu erhalten, damit er sich irgendwann mit ihnen am Rio Xingu in ihrer eigenen Zunge unterhalten kann, deplatziert. Es geht auch nicht darum, ihre Sprache nur zu bewahren, bloß weil es sie gibt. Es zeigt sich vielmehr, dass das Aweti wie jede Sprache ein Schatz ist, der uns etwas über die Ausprägungen des Menschlichen und unsere Vergangenheit erzählen kann.
Auf seiner Reisen wartet ein gehöriges Stück Arbeit auf Sebastian Drude. Er wird Wortlisten abfragen, Videoaufnahmen machen und Transskripte in seinem solarbetriebenen Notebook festhalten. Und wenn er nicht gerade an den Mahlzeiten aus Fisch oder Maniok teilnimmt oder eingehüllt in den Schlafsack in seiner Hängematte übernachtet, bittet er einen Aweti, von ihren Mythen zu erzählen, ihr Dorf zu beschreiben oder zu berichten, wie sie ihre Häuser bauen. Diese Alltagserzählungen sind ein wichtiger Bestandteil des Projekts. "Das sind immer jeweils Themen, die auch zum Kulturerhalt und zur Kulturdokumentation relevant sein sollten."
Professor Lieb und Sebastian Drude sehen die Dokumentation des Aweti nicht als romantischen Beitrag zu einem Kuriositätenkabinett, in dem eine Sprache nur wegen ihrer Besonderheiten bestaunt wird, etwa, dass das Aweti keinen s-Laut und keine grammatikalischen Geschlechter kennt. Was eine Sprache einzigartig macht, sind nicht allein die grammatischen Kategorien, die zu ihrer Beschreibung herangezogen werden müssen. Es sind auch die Dinge, die in ihr, und vielleicht nur in ihr, auf diese Weise gesagt werden. Und es sind die Fertigkeiten, Erinnerungen und Traditionen, die in ihr gespeichert sind. Sprache als Gedächtnis. Nicht nur bei den Aweti enthält ihre Sprache auch ihr Weltbild.
Arypë berichtet von der Zeit, in der sie erwachsen wurde. Als sie ihre erste Monatsblutung bekam, führte ihre Mutter sie in ihre Hütte. Dort lebte sie ein ganzes Jahr lang in Abgeschiedenheit. Nur wenn ein Fest im Dorf gefeiert wurde, durfte sie heraus kommen. Die Haare wuchsen ihr, bis sie das ganze Gesicht bedeckten. Am Anfang fastete sie. Die Mutter bereitete ihr einen Wurzelsud, den sie trinken und von dem sie sich erbrechen musste. Eine Zeit der Reinigung und Erneuerung. Nach einem Jahr legte sie ihren Kindesnamen ab und kam als Frau zurück in die Gemeinschaft. Uja tsu uja ozoporywyt ne, sepati. So ist unsere Tradition, Sebastian. Ohne Sprachdokumentation wäre sie in hundert Jahren vielleicht vergessen.
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