In seinem neuen Buch Verhaftet in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur? ( KiWi 2018, 224 S., 9.99 €) beschreibt der türkischstämmige Autor Doğan Akhanlı seine Verhaftung auf Geheiß türkischer Behörden in Spanien. Akhanlı schildert die Geschichte seiner politischen Verfolgung, schreibt über den wachsenden Autoritarismus, der die Demokratie in der Türkei bedroht und erzählt vom Leben in seiner Exilheimat Deutschland. Wir haben mit Akhanlı in Köln gesprochen.
der Freitag: Dreimal wurden Sie in der Türkei inhaftiert, einmal auf Weisung der Türkei in Spanien. Was war die Motivation hinter dem erneuten Haftbefehl?
Doğan Akhanlı: Ich glaube, die Hauptmotivation war, dass ich kritisch geblieben bin und über die Probleme der Türkei Bücher geschrieben habe. Denn der Fall war ja nach meinem Freispruch 2010 abgeschlossen.
Sind Ihre Bücher in der Türkei denn zensiert?
Nein, sie sind dort frei erhältlich. Die Türkei ist schon ein interessantes Land, wenn es um politische Verfolgung geht. 2008 hat das türkische Kulturministerium meine Bücher noch auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Es gibt viel Widersprüchliches …
Ein solcher Widerspruch ist, dass der Staatsanwalt, der Sie 2010 ins Gefängnis brachte, nun selbst gesucht wird. Er soll Gülen-Anhänger sein …
Ich würde gerne mit ihm sprechen. Ihn fragen, welche Motivation die Anklage damals hatte. Selbst als alle Anklagepunkte entkräftet waren, gab er nicht auf. Hat er wirklich geglaubt, ich sei schuldig? War es der Ehrgeiz, über das Schicksal eines Menschen bestimmen zu können? Mir ist das ein Rätsel. Und ich würde ihn gerne fragen, was er heute für ein Gefühl hat, wo er selbst verfolgt wird. Man weiß ja nicht mal, ob er wirklich Gülenist ist. Das ist alles willkürlich.
Zur Person
Doğan Akhanlı, 1957 in der Provinz Artvin am Schwarzen Meer geboren, studierte Geschichte und Pädagogik. Akhanlı ist Autor der Romane Die Tage ohne Vater (2007) und Die Richter des Jüngsten Gerichts (2016) sowie des Theaterstücks Annes Schweigen (2017).
Foto: Horst Galuschka/Imago
Heute, schreiben Sie, sei die Willkür noch schlimmer als unter dem Militärregime in den Achtzigern. Inwiefern?
Früher waren meist Kurden und Linke von der staatlichen Repression betroffen. Heute kann es jeden erwischen. Die Militärgerichte haben damals wenigstens versucht, ihre Vorwürfe zu beweisen und haben Leute freigelassen, wenn sie das nicht konnten. Heute braucht es oft nicht mal mehr eine Anklageschrift. Andererseits wurden unter Folter gemachte Aussagen als Beweis verwendet …
… was heute laut Menschenrechtsorganisationen wiederpassiert …
Richtig. Und man hat noch weniger juristische Möglichkeiten, sich zu wehren. Schon bei den Ergenekon-Prozessen begann es, dass man Regierungskritiker neben echte Verbrecher auf die Anklagebank gesetzt und mit verurteilt hat. Und es gab kaum Widerspruch dagegen. Eines der Hauptprobleme in der Türkei ist das Demokratieverständnis. Jede Gruppe agiert nur für sich selbst, nie für die anderen …
… so wie die größte Oppositionspartei CHP das Vorgehen der AKP gegen Kurden und Gülenisten gutheißt?
Nehmen wir die angeblichen Putschisten. Eine kleine Gruppe von Offizieren verschwört sich gegen die Regierung. Und plötzlich werden 60.000 Menschen als Putschisten verhaftet. Das wäre ja eine Massenbewegung. Da wird klar, dass die AKP den Putschversuch genutzt hat, um jeden, der ihr unangenehm ist, zum Putschisten zu erklären. Und viele aus der Opposition, viele Linke, positionieren sich nicht dagegen.
Nicht nur das Militärregime der 1980er oder das AKP-Regime regieren mit Gewalt; Sie zitieren erschreckende Zahlen politisch motivierter Morde auch in linken und linksradikalen Gruppen wie etwa DHKP-C oder PKK. Gibt es das auch heute noch?
Ich glaube, es ist weniger geworden. Wir wissen es nicht genau. In der Linken wird darüber nicht gesprochen, es gibt bislang nur eine einzige Untersuchung. Es zeigt, wie weit die Gewalt in der türkischen Gesellschaft geht. Linke Gruppen propagieren eine bessere Welt, aber erklären eigene Anhänger zu Verrätern und ermorden sie.
Wie Spanien beinahe zum Büttel Erdoğans wurde
Behördenwillkür Am 19. April 2017 verhaftete die spanische Polizei den türkischstämmigen Autor Doğan Akhanlı in Granada. Der Grund: Akhanlıs Name tauchte auf einer Interpol-Liste auf, versehen mit einem Dringlichkeitsvermerk, der sogenannten „Red Notice“ türkischer Behörden. Es war nicht die erste Verhaftung Akhanlıs. Die Jahre 1985 bis 1987 verbrachte der Schriftsteller in türkischer Haft, nachdem er im Zuge des Militärputsches 1980 in den Untergrund gegangen war. Im Gefängnis wurde Akhanlı auch gefoltert. 1991 floh er nach Deutschland. Von der Türkei 1998 ausgebürgert, ist Akhanlı seit 2001 deutscher Staatsbürger.
2010 war Akhanlı bei der Einreise in die Türkei festgesetzt worden und verbrachte wegen angeblicher Teilnahme an einem Raubmord mehrere Monate in Untersuchungshaft. Im Dezember kam es zur Freilassung, im Oktober 2011 wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zeugen hatten – vermutlich unter Druck – gegen ihn ausgesagt, dies aber später widerrufen. Eine Revision führte im April 2013 zur Aufhebung des Freispruchs und zum internationalen Haftbefehl. Zwar wurde Akhanlı nach nur einem Tag aus spanischer Haft entlassen. Er durfte aber erst im Oktober 2017 das Land verlassen und nach Deutschland zurückkehren.
Nach Akhanlıs Festnahme hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel der türkischen Regierung einen Missbrauch Interpols vorgeworfen. Mladen Gladić
Zuletzt ist es Erdoğan gelungen, einen parteiübergreifenden Konsens zu schaffen. Bis auf die prokurdische HDP sind alle Parteien für den Krieg gegen die Kurden in Afrin. Wie schätzen Sie die Lage ein – was will und was kann Erdoğan damit erreichen?
Ich glaube, er will um jeden Preis die Wahl 2019 gewinnen. Er braucht Erfolge, die er verkünden kann. Es geht ihm nicht um Afrin, sondern darum, Stärke zu zeigen und innenpolitisch zu punkten. Aber wenn der Widerstand weiterhin so stark bleibt, könnte er scheitern, und das könnte für ihn zum Machtverlust führen. Im Grunde weiß die Hälfte der türkischen Gesellschaft, dass es bei dem Angriff um Wahlkampf geht.
Woher kommt diese immerwährende Gewalt, dieser blanke Hass, mit denen sich die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen in der Türkei begegnen?
Es gehört in der Türkei nicht zur politischen Kultur, auch die andere Seite anzuhören. Das ist der Hauptgrund. Rechte und Linke, Islamisten und Säkulare, Kurden und Türken sind alle untereinander verfeindet. Die Gezi-Bewegung hat das 2013 erstmals aufgebrochen, doch der Dialog hielt nicht lange. Und es liegt am patriarchalischen System: Der Vater hat in der Türkei immer recht, der Staat auch. Wenn der Staat die Armenier ermordet, ist er im Recht, wenn er die Kurden verleugnet, ist er im Recht. Und so weiter. Da hat sich seit hundert Jahren nicht viel geändert. Der Staat verfolgt die eigenen Bürger und sagt gleichzeitig, dass er sie gegen fremde Mächte schützt.
Eines Ihrer Kernthemen ist der Völkermord an den Armeniern, der in der Türkei bis heute offiziell geleugnet wird. Sie thematisieren das auch in ihrem Roman „Die Richter des jüngsten Gerichts.“ Woran liegt es eigentlich, dass es der Türkei so schwerfällt, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Weil das den Gründungsmythos der Türkei zerstören würde. Generationen wurden mit der Geschichte indoktriniert, die Gründung der türkischen Republik sei aus dem Befreiungskampf gegen die Großmächte entstanden. Sogar die Linken haben dieses Narrativ übernommen. Dabei stand etwas anderes am Beginn des Staates: ein Verbrechen. Die Ermordung der eigenen Bürger. Es müsste nicht nur der Genozid anerkannt, sondern auch eine Erinnerungskultur entwickelt werden. Das käme für die Türkei einer gedanklichen Revolution gleich. Es wäre nicht mehr das gleiche Land. Durch die Verleugnung wird Veränderung verhindert.
Und es wird nicht nur geleugnet. Es sind sogar Straßen nach den Tätern benannt. In Istanbul gibt es eine Talat Paşa Caddesi, benannt nach einem der Architekten des Völkermords …
… und in den Schulen wird Talat Paşa als großer Staatsmann vermittelt, wie auch die anderen Täter. Straßen und Schulen tragen die Namen von Massenmördern. Erst seit der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Jahr 2007 wird darüber offener gesprochen. Vorher war das unmöglich. Seit dem Putschversuch versucht der Staat, diesen langsamen Aufarbeitungsprozess wieder zu stoppen.
Die Taktik, Kritiker der Regierung zu bedrohen und einzuschüchtern, um sie mundtot zu machen, scheint aber nach hinten loszugehen. Mit jedem Angriff erscheinen mehr Bücher wie Ihres oder das von Can Dündar, es gibt mehr öffentliche Veranstaltungen, mehr Aufmerksamkeit. Erreicht Erdoğan auf diese Weise nicht eigentlich das Gegenteil dessen, was er will?
Das ist tatsächlich ein Paradox. Vor diesem unnötigen Angriff auf mich hatte ich nur marginale öffentliche Aufmerksamkeit. Viele der Journalisten, die in der Türkei in Haft sind, sind in Europa prominenter und wichtiger geworden. Trotzdem haben die Angriffe eine Funktion. Denn innerhalb der Türkei wächst die Angst, weil die Willkür so groß ist, dass es jeden treffen kann.
Wie ist es in Deutschland? Können Sie sich hier noch frei bewegen?
Ich versuche, wie früher zu leben. Aber viele Oppositionelle, die hier leben, haben Angst. Das finde ich unerträglich. Es ist die Aufgabe der deutschen Behörden, die Leute zu schützen und jene ausfindig zu machen, die sie bedrohen.
Zugleich sprechen Sigmar Gabriel und sein türkischer Kollege Çavuşoğlu von „Dialog auf Augenhöhe“ …
So funktionieren staatliche Beziehungen. Die Bundesregierung glaubt, wenn sie Deniz Yücel freibekommt, können die Geschäfte wieder laufen wie zuvor.
Abseits der Politik ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung an die Literatur, nicht nur die türkische. Welche Bedeutung hat Literatur für Sie? Es scheint, als wäre sie immer Rettungsanker und Orientierungspunkt gewesen.
Die Liebe zur Literatur hat mein Leben seit der Kindheit bestimmt. Literatur war mir immer sehr wichtig, um zu reifen und zu reflektieren. Sie hat dafür gesorgt, dass ich stets vorsichtig und bedacht mit Sprache umgehe. In der Literatur führt jede Antwort zu weiteren Fragen. Im Gefängnis waren die Bücher, die ich gelesen hatte, immer bei mir, und wenn ich die Augen schloss, kamen neue Geschichten zu mir.
In Istanbul waren Sie zuletzt vor acht Jahren. Dort waren Sie in Haft. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie heute an Istanbul denken?
Als ich 2010 in Istanbul inhaftiert war, starb mein Vater. Wenn ich heute an Istanbul denke, denke ich an ihn. Ich liebe diese Stadt, aber ich habe das Gefühl, dass sie mich verlassen hat. Der Schmerz fühlt sich an wie der, wenn man von einem geliebten Menschen verlassen wird.
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