Die Hoffnung ist vertagt

Literatur Şeyhmus Diken setzt seiner gepeinigten kurdischen Heimat ein Denkmal
Ausgabe 18/2019
Ein Hochzeitspaar posiert für ein Foto. Im Hintergrund sind Rauchsäulen über der Stadt Diyarbakir zu sehen, in der regelmäßig türkische Truppen und kurdische Rebellen aufeinander treffen
Ein Hochzeitspaar posiert für ein Foto. Im Hintergrund sind Rauchsäulen über der Stadt Diyarbakir zu sehen, in der regelmäßig türkische Truppen und kurdische Rebellen aufeinander treffen

Foto: Ilyas Akengin/AFP/Getty Images

Geschichte wiederholt sich, schreibt Şeyhmus Diken in seinen Traurigen Kolumnen über Amed Dikranagerd Diyarbekir. Der Völkermord von 1915 und der brutale Krieg des AKP-Regimes gegen die Kurden vor knapp drei Jahren sind die beiden Pole, zwischen denen seine zwischen 2012 und 2017 entstandenen und zum großen Teil in der Istanbuler Zeitung Birgün erschienenen, präzisen Texte pendeln.

Diyarbekir im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze ist eine Hochburg der kurdischen Bewegung. Als die aus dieser Bewegung hervorgegangene linksliberale Partei HDP im Sommer 2015 erstmals ins türkische Parlament einzog und Staatspräsident Erdoğan (damals noch Ministerpräsident) die absolute Mehrheit verhagelte, war schlagartig Schluss mit den türkisch-kurdischen Friedensgesprächen. Erdoğan schickte die Armee, vorgeblich um PKK-Terroristen zu jagen. Doch es wurde ein blutiger Krieg gegen die Zivilbevölkerung und die kleine Partei. In Cizre und dem Altstadtbezirk Sur begingen die Soldaten Massaker. Wer während der Ausgangssperre sein Haus verließ, wurde erschossen – auch Kinder. Von Sur ist heute nichts mehr übrig. Die Trümmer der historischen Gebäude werden durch seelenlose Betonbauten ersetzt. Der Regierungschef spielt sich als der große Unterstützer der kleinen Leute auf. Doch die wissen genau, wem sie das Elend zu verdanken haben.

Amed nennen die Kurden die Stadt, die Armenier nennen sie Dikranagerd. Zumindest die wenigen Armenier, die heute noch dort leben. Fast 65.000 waren es vor 1915. Die meisten wurden deportiert und ermordet. Kurdischen Gruppen gelang es, zumindest einige hundert zu retten. Diyarbekir war schon immer eine multikulturelle und multilinguale Stadt, die stolz war auf ihre Vielfalt. Eine Vielfalt, die dem radikalen Nationalismus von Staatsgründer Atatürk ebenso im Weg stand wie dem mit neo-osmanischem Kitsch versetzten National-Islamismus Erdoğans. Şeyhmus Diken beschreibt die Hoffnung, die eine ganze Weile in der Region herrschte – bis 2015. „Danach war alle Hoffnung plötzlich auf viel, viel später vertagt.“ Die Wochen vor den Kommunalwahlen Ende März waren geprägt von Repression und täglichen Razzien. Nicht nur in Diyarbekir, im ganzen Land ging die Polizei brutal gegen HDP-Unterstützer vor, verhaftete Tausende. Trotzdem konnte die HDP die Stadt zurückgewinnen. Diken, Politikwissenschaftler und Schriftsteller, 1954 innerhalb der historischen Stadtmauern geboren, ist ein Chronist Diyarbekirs.

Blinde Flecken der Geschichte

Ein Flaneur, der die Menschen in ihren Vierteln kennt und die Geschichten der Häuser, die sie bewohnen. Es sind Geschichten, die er nicht nur erzählt, weil sie erzählenswert sind; nicht nur, um zu zeigen, was Krieg und Repression anrichten; er erzählt auch, um die Pluralität der Stadt und der Region lebendig zu halten.

Auf seinen Streifzügen durch die Stadt und ihre Geschichte taucht Diken tief in die Gefühlswelt der Einwohner ein. Er spürt die Geschichte eines armenischen Landrats auf, der vor 100 Jahren in einen Hinterhalt gelockt und ermordet wurde: „Im Dorf haben wir die alten Leute nach dem Landrat gefragt und von ihnen zu hören bekommen, dass er Armenier gewesen sei, die Armenier vor dem Massaker bewahrt habe und deshalb von der Staatsmacht getötet worden sei. Auf der Erde war kein Grab zu erkennen, geschweige denn eine Grabinschrift weit und breit. Doch war diese Geschichte im Gedächtnis der Bevölkerung eingeprägt geblieben, und eine bestimmte Stelle auf der Strecke wurde seitdem ‚Landratsgrab‘ genannt.“ Die Menschen nannten das nicht gekennzeichnete Grab tirba – was sonst nur hohen Geistlichen vorbehalten ist.

Dikens Texte machen bewusst, dass es die Massaker von heute vor allem deshalb geben kann, weil es ein Tabu ist, über die Massaker von gestern zu sprechen. Solange der Völkermord an den Armeniern verleugnet wird, solange die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei blinde Flecken hat und solange keine Aufarbeitung stattfindet, sind solche Verbrechen weiter möglich. So lange können Despoten nach Gutdünken regieren und die Lüge als legitimes Mittel der Politik einsetzen. Und deshalb wird jeder, der über die Schatten der Vergangenheit spricht, verfolgt. Wie Diken schreibt: „Die Stadt hat sich mit all ihren Werten von uns abgewandt.“

Info

Amed Dikranagerd Diyarbekir. Traurige Kolumnen Şeyhmus Diken Christina Tremmel-Turan, Tevfik Turan (Übers.), Verlag auf dem Ruffel 2019, 174 S., 15,80 €

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