Im Reich der falschen Zeit

Türkei Vier in der Folterzelle: Burhan Sönmez' „Istanbul Istanbul“ erscheint endlich auf Deutsch
Ausgabe 38/2017
Burhan Sönmez zeichnet ein hochaktuelles und hochpolitisches Psychogramm der Türkei
Burhan Sönmez zeichnet ein hochaktuelles und hochpolitisches Psychogramm der Türkei

Foto: Leemage/Imago

Vier Häftlinge sitzen in einer dunklen Zelle, drei Stockwerke tief unter der Erde. Der Student Demirtay, der namenlose Doktor, der Barbier Kamo und der alte Küheylan haben längst das Gespür für die Zeit verloren. Ob es Tag oder Nacht ist, erkennen sie am Wachwechsel und an der Frage, ob Essen gebracht oder einer von ihnen zum Verhör geholt wird. Und zum Verhör gebracht werden sie oft. Manchmal bleibt einer von ihnen tagelang verschwunden. Bis sich wieder die schwere Eisentür des Zellenblocks öffnet, schwere Stiefel auf dem Gang stampfen und der Verlorene schließlich zurückgeschleift wird: zerschunden, blutig, mit den Kräften am Ende.

Sie sind, das wird rasch klar, politische Gefangene. Weshalb genau sie einsitzen, wird nur angedeutet. Es ist eigentlich auch nicht weiter wichtig. In einem Willkürsystem kann es jeden treffen. Die falschen Freunde, ein Flugblatt, ein achtloser Kommentar über die Machthaber, schon erwischt es einen. Der eine könnte Revolutionär sein, der andere sitzt anstelle seines Sohnes. Und sein einziges Ziel ist es, sich von der Folter nicht brechen zu lassen, nichts zu verraten, den Sohn nicht in Gefahr zu bringen.

Istanbul Istanbul heißt der Roman von Burhan Sönmez. Das klingt wie ein sehnsüchtiger Ausruf, wie der Refrain eines melancholischen Liedes oder wie ein Gebet. 2015 ist wie bei Salzmann auch hier die Wegmarke: In diesem Jahr erschien das Buch ursprünglich in der Türkei. Unmittelbar bevor dort die Hölle losbrach, noch vor dem Putschversuch und bevor in den überfüllten Haftanstalten die Folter wieder eingeführt wurde. Noch bevor die düsteren Erinnerungen ans Putsch-Jahr 1980 wieder lebendig wurden. In der jetzt vorliegenden, sprachlich eleganten Übersetzung von Sabine Adatepe erweist sich die Erzählung als hochaktuelles und hochpolitisches Psychogramm der Türkei, die es einfach nicht schafft, die Geister der Vergangenheit in die Verbannung zu schicken.

Die vier Männer imaginieren sich ihre eigene Welt. Sie stellen sich vor, bei Raki und Zigaretten und Fisch auf einer Dachterrasse zu sitzen, den Bosporus im Blick. Über ihnen die Möwen, unter ihnen der zäh fließende Verkehr in der Abendsonne. Sie erzählen einander Geschichten. Parabeln, die zum Spiegel ihrer eigenen Situation werden. Sie stellen einander absurd anmutende Rätsel und weben darein ihre persönlichen Erfahrungen, bei denen man bald nicht mehr weiß: Was ist real, was ist Fiktion? Anklänge an Klassiker der türkischen Literatur finden sich darin, an Nâzım Hikmet oder an Tanpinars Romane Das Uhrenstellinstitut und Seelenfrieden: große Bücher über Istanbul.

Was ist eigentlich Zeit, fragt sich Student Demirtay, und warum sind wir hier und jetzt an genau jenem Punkt, an dem wir leiden müssen, warum nicht irgendwo davor oder danach? Warum können die nicht vorhandenen Uhren hier nicht zehn Minuten nachgehen wie die Uhr in der Bibliothek von Beyazıt? Warum kann ich nicht der Bibliothekar sein, der in seiner eigenen Welt davon überzeugt ist, dass die Uhren aller Istanbuler falsch gehen?

Burhan Sönmez, Jahrgang 1965, ist Jurist, Menschenrechtler, Schriftsteller, und er zählt zu den gewichtigsten Stimmen der türkischen Gegenwartsliteratur. In über zwanzig Ländern sind seine Bücher erschienen. Dass nun erstmals einer seiner Romane auch auf Deutsch vorliegt, ist ein Gewinn – und war längst überfällig. Istanbul Istanbul ist eine düstere Hommage an eine Stadt, die ihren Bewohnern und Gästen eine schwierige Geliebte ist; zugleich ist es eine Liebeserklärung an die Literatur und eine Anklage gegen eine Welt, in der noch immer die Verbrecher das Sagen haben. Egal ob unter der Erde oder in den Gassen der Stadt.

Info

Istanbul Istanbul Burhan Sönmez btb 2017, 284 S., 20 €

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