Berlin, Mai 2015: Die Lange Buchnacht holt die Literatur nach Kreuzberg – und mit ihr wie in jedem Jahr weit über 10.000 Besucher, die von früh bis spät Lesungen besuchen, in Büchern blättern, mit Autoren in Kontakt kommen können. Für die Dichterin Lütfiye Güzel ist es ein Heimspiel. Schon seit Jahren pendelt sie zwischen Hauptstadt und Pott. Ob bei der Buchnacht oder beim Essener Literatürk Festival – sie darf nicht fehlen. Heute liest sie erst ab 23 Uhr, letzter Act des Tages, quasi der Headliner-Spot, wenn man es mit einem Rockfestival vergleichen will.
Der kleine Saal ist rappelvoll. Güzels Stimme klingt wie eine, in der ganz viel Platz hat, beobachtend eher als bedeutungsschwer. Als einige Zuhörer ihre Handys zücken, um die Autorin zu knipsen, hält sie sich ihr neues Buch vors Gesicht. Hey heißt es. Untertitel: „Anti-Roman“. Die Geste ist programmatisch. Güzel will, dass ihre Arbeit im Mittelpunkt steht, ihre Texte, nicht ihre Person.
Vom Dichterschaulaufen für das Feuilleton hält sie nichts. „ich muss da sein / wo es trist ist / hier bin ich richtig / olé“ lautet eines der Hey-Gedichte. Das Buch ist natürlich mitnichten ein Roman, sondern eine Sammlung von Versen und Miniaturen. Und als im Vortrag eine Dichterlesung vorkommt und unruhiges Füßescharren und jemand, der eigentlich gehen will, sich aber nicht traut wegen der blöden Blicke, die er sich einfangen könnte, da blickt man sich um, weil man irgendwie glaubt: Das ist jetzt nicht mehr Fiktion, das ist Ansprache ans Publikum. Kennt man ja, dass Lesungen grausam langweilig sind: schlechte Texte und dröge Autoren, die unmotiviert ins Mikro nuscheln.
Aber niemand steht auf, auch nicht die, die im Gang sitzen, weil die Stühle nicht ausreichen. Das ist oft so bei Güzel-Auftritten. Auch, dass man hinterher kaum dazu kommt, ein Wort mit ihr zu wechseln, weil sie von einer Menschentraube belagert wird, Bücher verkauft und signiert. An diesem Abend in Berlin reichen die Bücher, die sie angeschleppt hat, nicht aus, zwei waren vorher schon vergriffen. „Muss ich dringend mal nachdrucken“, sagt sie und schreibt schon das nächste Autogramm. Nicht wenige preisgekrönte Jungdichter träumen von solchem Erfolg, während sie vor leeren Rängen ihre Avantgarde-Verse vortragen.
Alles komplett Indie
Mit Avantgarde will Lütfiye Güzel nichts zu tun haben. Der Zirkus der Eitelkeiten, der den Literaturbetrieb beherrscht wie jede andere pseudoglamouröse Branche auch, ist ihr zuwider: „Ich will doch eigentlich nur schreiben“, erzählt sie ein Jahr später, als sie in Köln-Mülheim ein Aufenthaltsstipendium für ein paar Monate hat. Es ist ihr erstes. Die meisten Stipendien, um die sich Schriftsteller reißen, weil vom Schreiben selbst kaum einer leben kann, sind ihr verschlossen, sie braucht sich gar nicht erst bewerben. Denn sie verlegt ihre Bücher selbst. Das Label hat sie „Go-Güzel-Publishing“ genannt. Alles komplett Indie. Mit Verlagen hatte sie es ein paar Jahre zuvor versucht, aber schnell genervt aufgegeben. Der Stress lohnt sich bei den meist winzigen Lyrik-Auflagen nicht. Mehr Publicity bringt es auch nicht. Aber Self-Publisher werden bei den meisten Jurys per se ausgeschlossen. Man nimmt sie nicht ernst. Angesichts der Masse an selbstverlegtem Dilettantismus ist das sogar nachvollziehbar.
Güzel ist die Ausnahme von der Regel. Sie ist ein Ein-Frau-Literaturbetrieb, längst kein Geheimtipp mehr und längst erfolgreicher als mancher Feuilleton-Liebling. Acht Bücher hat sie seit 2013 rausgehauen. Sie legt ein hohes Tempo vor, mindestens ein Band pro Jahr. Anfang 2017 erschien mit faible? ein Best-of, selbst ausgewählt. Nicht die „Greatest Hits“ also, sondern eine Sammlung mit persönlichen Lieblingstexten der Autorin. Und das sind naturgemäß andere, als das Publikum favorisieren würde. Jede Rockband, die für Jahrzehnte die immer selben Hits runternudeln muss, während die Fans mit dem neuen Material nichts anfangen können, kann ein Lied davon singen.
Self-Publishing
Als Selbstverlag bezeichnet man die Praxis, die eigenen Romane, Memoiren oder Gedichtbände in Eigenregie zu veröffentlichen. Dabei übernimmt der Autor neben dem Schreiben auch den gesamten Prozess der Herausgabe, der klassischerweise den Verlagen zukommt: Lektorat, Vertrieb und Marketing. Immer mehr Menschen verlegen ihre Werke selbst.
Ein Hauch von Freiheit und Widerstand umgibt die Indie-Autoren. Sie müssen sich den Regeln des elitären Literaturbetriebes nicht anpassen. Der politische Selbstverlag spielte auch für die Exilliteratur während des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle. Auch Verlage im Ausland verweigerten teilweise die Veröffentlichung von Autoren aus Angst vor dem NS-Regime. Ein Grund, warum Autoren sich heute fürs Self-Publishing entscheiden, ist, dass nur ein Bruchteil der Manuskripte, die jährlich bei den großen Häusern eingereicht werden, in die Verlagsprogramme aufgenommen wird. Besonders Lyrik hat es schwer auf dem Markt. Self-Publishing ist damit eine Möglichkeit, Werke an den Verlagen vorbei zu veröffentlichen. Die Anzahl an Publikationen sowie die fehlende Qualitätskontrolle ist gleichzeitig ein Grund, warum viele Stipendiengeber und Literaturpreise Werke ausnehmen, die im Selbstverlag erschienen sind. Die Jurys vertrauen auf die Vorauswahl durch die Verlage. In den USA hat die Zahl der Titel, die im Selbstverlag erscheinen, die der Verlagstitel bereits im Jahr 2008 überstiegen. Bowker, das Unternehmen, das in den USA die ISBN-Nummern vergibt, berichtete 2016, dass der Anteil der im Selbstverlag erschienen Titel seit 2010 um mehr als 375 Prozent gestiegen ist.
Viele Selbstverleger produzieren ihre Werke auch als E-Books oder Books-on-Demand, sodass sie kein Risiko eingehen und nicht viel Geld für die Bücher ausgeben müssen. Der Markt hat bereits die ersten Geschichten mit Hollywood-Potenzial hervorgebracht: Die Altenpflegerin Amanda Hocking hat es mit Vampir-Romanzen bereits zur Millionärin geschafft, obwohl kein Verlag ihre Texte haben wollte. Marlene Brey
In den großen Anthologien wie dem Jahrbuch der Lyrik oder den Versnetzen sucht man sie vergeblich. Sie schickt nichts hin. „Was hätte ich davon?“, fragt sie, und man kann ihr kaum widersprechen, auch wenn man denkt: Gerade du müsstest darin vertreten sein! Mehr als alle anderen!
„Der Schriftsteller ist ein Lumpensammler“, schrieb Jörg Fauser. So versteht auch Güzel die Arbeit der Dichterin. Sprachspiele sind ebenso wenig ihr Ding wie Naturbetrachtungen, die nicht erst seit Jan Wagners Regentonnenvariationen wieder zum lyrischen Kernthema avancieren.
Lütfiye Güzel wurde 1972 in einer Küche in Duisburg-Hamborn geboren, einen Steinwurf vom berühmt-berüchtigten Marxloh entfernt. Marxloh ist deutschlandweit als „Problemviertel“ bekannt. Dort wurden seit den 1970er Jahren massiv Arbeitsplätze in der Großindustrie abgebaut. Knapp die Hälfte der Bewohner lebt von Transferleistungen. Güzel wuchs als Gastarbeiterkind im Pott auf, zweisprachig, mit vier Schwestern. Die Arbeitervierteltristesse prägte nicht nur ihre frühen Jahre, sondern auch ihr Schreiben. Meist geht es um das Leben ganz unten, um dieses andere Deutschland, das so gerne vergessen wird: die Armut und Perspektivlosigkeit und die sozialen Verwerfungen, die sich daraus ergeben. Güzel hat keine Schreibschule besucht, hat nicht in Leipzig oder Hildesheim studiert. Sie weiß, wie schwer es gerade die Kinder aus den migrantischen Milieus haben, deren Eltern schon kaum von der deutschen Gesellschaft akzeptiert wurden. Deshalb geht sie auch in Schulen, gibt Workshops, versucht, den Kindern ihr Potenzial sichtbar zu machen. Ihr kreatives Potenzial – nicht das Ellenbogenpotenzial für wirtschaftlichen Aufstieg. Denn auch damit kann sie wenig anfangen.
„Gastarbeiter“ heißt ein Gedicht aus ihrem Debütband herz-terroristin: „ein türke fegt zigarettenreste zusammen / hier am bahnhof / es gibt kalte asche zum frühstück / ich habe irgendwas gedacht / weiß aber nicht mehr was“. Ein anderes trägt den Titel „füttern verboten“: „die tauben der stadt / die man verjagt / weil sie vielleicht / nicht wirklich schön sind / angefahren / humpelnd / & dreckig / ich mag sie“.
Mit ihrer klaren Sprache und ihren meist melancholischen Alltagsbetrachtungen knüpft sie an die Lyrik der 1970er an: Bukowski, Wondratschek, Fauser, Brinkmann. Manch einer verortete sie schon als Newcomerin des Social Beat, einer kurzlebigen Strömung, die in den 1990er Jahren wenig lesenswerte Agit-Texte verfasste und zu Recht rasch in Vergessenheit geriet. Güzel ist anders, all die Klassifizierungen funktionieren nicht. Sie passt in keine Schublade. Auch dieser Aspekt macht sie so sympathisch: dass sie sich jeglichen Regeln des Literaturbetriebs widersetzt, aber eben nicht als Masche, sondern weil sie ist, wie sie ist und keine Lust hat, sich zu verbiegen.
Einen Literaturpreis hat sie nicht trotzdem, sondern gerade deswegen gewonnen. Im Jahr 2014 erhielt sie den damals zum ersten Mal vergebenen Fakir-Baykurt-Kulturpreis der Stadt Duisburg. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit der Qualität von Güzels Büchern sowie ihrem Engagement für Kinder und Jugendliche. Der Namensgeber des Preises war selbst Schriftsteller und lebte bis zu seinem Tod 1999 in Essen. Er schrieb über Arbeiter und Dorfgemeinschaften in Anatolien und später über den Gastarbeiter-Alltag in Deutschland. Dass seine Bücher nur noch antiquarisch erhältlich sind, ist in diesem Zusammenhang umso bedauernswerter.
Was Lütfiye Güzels Texte so stark macht, ist, dass sie echt sind. Da ist nichts Gekünsteltes dran, nicht das aufgesetzte Spiel mit der eigenen Biografie, das heute so oft als „literarisch“ gelabelt wird, obwohl es bloß einfallslos ist. Sie ist eine genaue Beobachterin der Zwischentöne des Alltags, sie sieht jene Menschen, die üblicherweise übersehen werden – und macht uns klar, wie wichtig es ist, hinzuschauen, wahrzunehmen und zuzulassen. Ihr Sujet behandelt sie von innen statt von außen oder aus der Vogelperspektive. Mit Wasserglaslesungen verträgt sich das reichlich schlecht. Und das ist gut so.
Schonungslose Sozialstudie
Wie brutal direkt dieser Schreibansatz mitunter sein kann, merkt man bei ihr oft: „auch meine mutter kann die menschen schonungslos / mit nur einem einzigen satz in ihrem kern / zusammenfassen / vielleicht gibt es keine masken / hinter die man blicken muss / keine tiefen / einfach nichts dahinter / vielleicht ist der mensch genau das was man in den / ersten sekunden in ihm sieht / die umwege könnte man sich sparen / auch bei sich selbst“ (aus Hey). Sie romantisiert nicht, verklärt nicht, ihre Literatur ist Sozialstudie und schonungsloses Bekenntnis zugleich. Jeglicher Überhöhung erteilt sie eine Absage: „du backst hundert brötchen und ich schreibe / hundert gedichte / das ist alles“
In ihrer Kölner Stipendiatenwohnung sitzt sie auf der Terrasse und blickt lange in den verwilderten Garten. Die Mittagssonne linst durch die Äste der hohen Tannen. Eine graue Katze springt von der angrenzenden Mauer. Bleibt stehen. Schaut sich um. Schleicht sich durch die offene Tür in die Wohnung. Kommt einige Minuten später wieder raus. Verschwindet. „Die ist wie ich“, sagt Lütfiye Güzel. „Kommt gelegentlich vorbei, wenn sie Lust hat, lässt sich nichts sagen und haut dann wieder ab.“
Auf einem Spaziergang durch das Viertel wirkt ihre Stimmung gelöst. Köln-Mülheim ist eine Ecke, aus der man kaum unschuldig wieder rauskommt. Das Essen ist gut, aber es bleibt einem im Hals stecken, wenn man an den NSU-Anschlag auf der Keupstraße denkt. Im Sommer ist hier viel Leben auf der Straße, das hat ein wenig Istanbuler Flair. Mit einem Unterschied. „Hier sind nie Frauen auf der Straße, oder kommt mir das nur so vor?“, fragt Lütfiye. Und man erahnt schon das Gedicht, das gerade entsteht ...
Mitte August erschien ihr neuntes Buch. Elle Rebelle heißt es. Auf die Frage, ob man vorab schonmal Auszüge sehen darf, schickte sie einen einzigen Vers: „... es ist an der zeit sich zu radikalisieren …“ Ja, ist es! Das „Buch“ ist eigentlich ein Briefumschlag voller Handzettel, in Schreibmaschinentypo geschrieben. Meist ein Gedicht pro Blatt. So etwas geht nur im Selbstverlag. „Es ist eine weitere Unterwanderung des Literaturbetriebs, das mache ich mit Leib und Seele gern“, sagt Güzel am Telefon. Das Gedicht „sie gehen in die politik// ich gehe schlafen“ endet mit den Zeilen: „wenn dann aus büchern / flugblätter werden / ohne seitenzahl / & / auslieferung / dann hat der wolf / überlebt“. Es ist eine nüchterne Realität, es ist tough, aber eine Welt, in der Gedichte Platz haben.
Man wünscht sich mehr Dichterinnen und Dichter wie sie, die die mutlose und glattgebügelte deutsche Gegenwartsliteratur aufmischen. Weniger Gefälliges, mehr Radikales. Mehr Echtes.
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