Soziopath mit Rädern unten dran

Eurokrise. Das zweite Juliwochenende 2015 wird einen Wendepunkt markieren, wenn die Zivilgesellschaft das Ruder nicht herumreißt. Auf die Parteien zu hoffen, wäre naiv.

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Das zweite Juliwochenende im Jahr 2015 wird in die Geschichte eingehen. An diesem Wochenenden haben die Deutschen mal so richtig geprasst und ganz Europa dazu gebracht, in einer gigantischen Orgie mit zu prassen und Geld für reines Vergnügen auszugeben, für ein rein deutsches Vergnügen.
Und was ist das größte Vergnügen der Deutschen? Es ist, sich moralisch über andere zu erheben. Dieses Gefühl der Überlegenheit lassen wir uns schon mal ein paar Milliarden kosten.
Einige Wochen im Vorfeld schon konnten wir uns täglich an unseren Tugenden berauschen, die Deutschen sind fleißig, pünktlich, arbeiten mehr, gehen später in Rente, die auch viel niedriger ausfällt als bei allen anderen. Alles nicht wahr, aber wir glauben mit religiöser Inbrunst dran.
Wir sind nicht korrupt, können daher auch ganz tolle Flughäfen und Philharmonien bauen, hier sind Wirtschaft und Politik noch sauber getrennt, hier wechselt nicht mal eben jemand von einem politischen Posten in den Vorstand von Bau- oder Logistik-Konzernen, hier vergisst niemand mal 100.000 Euro von einem Waffenschieber in einer Schublade, hier käme niemand auf die Idee, wissenschaftliche Arbeiten zu fälschen, um sich mit einem erschwindelten Doktortitel zu schmücken.
Hier würden nie Steuerfahnder auf Geheiß der Politik mit falschen psychiatrischen Gutachten in den Vorruhestand geschickt, damit die Finanzindustrie weiter ihre obskuren Geschäfte machen kann. Niemals blieben die Finanzämter im Hinblick auf ihre Kontrollmöglichkeit personell absichtsvoll völlig unterversorgt. Niemals!
Kein Politiker käme hierzulande auf die dummdreiste Idee, einem Versicherungskonzern den Ausbau der Autobahnen bei einer Zusicherung von festen Gewinnmargen zuzuschustern, während sich das Land gerade eigentlich für umsonst mit Geld versorgen könnte. Derartige Formen von Korruption sucht man in Deutschland vergebens. So etwas gibt es nur woanders. Und der Deutsche weiß auch wo: im Süden! Wir hier sind Saubermänner durch und durch.
Es sind die faulen und korrupten Südländer, in denen sich Politik und Privatwirtschaft mischen, jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt, weshalb dort die Korruption grassiert, daher die Staaten dort auch ausbluten. Misswirtschaft eben, südländischer Schlendrian hier, deutsche Tugenden dort. Solides Wirtschaften eben. Die schwäbische Hausfrau.

Die putzt mindestens einmal im Monat alle Fenster und seit sie weiß, dass ihre Nachbarin mit Migrationshintergrund arbeitslos zu Hause rumlungert und in der Depression versinkt, putzt die emsige Schwäbin die Fenster sogar zweimal im Monat, wobei sie immer mal einen giftigen Blick in Richtung Nachbarin wirft, die faule Schlampe aus dem Süden.

Der Gipfel der deutschen Berauschung und des Selbstbetrugs war dann am Sonntag, den 12.7. erreicht. Ein deutscher Finanzminister erniedrigt Griechenland in größtmöglichem Maße und der Mainstream applaudiert. Diese Selbstberauschung und die Verleugnung der Realität wird Europa als Ganzes und jeden einzelnen von uns teuer zu stehen kommen.
Der ehemalige griechische Finanzminister, vom deutschen Mainstream zum enfant terrible erklärt, hatte vertreten, dass er keine neuen Kredite will, dass es eine Umstrukturierung der Schulden braucht, damit sie auch bezahlt werden können. Er hat es lang und breit und auf allen ihm zur Verfügung stehenden Kanälen erklärt, ganz pädagogisch in verständlicher Sprache ökonomische Zusammenhänge aufgezeigt. Seit 2010 ist Griechenland bankrott und jeder weitere Kredit ist eine Insolvenzverschleppung.
Allein der Mainstream hat ihm kein Gehör geschenkt oder es furchtbar entstellt wieder gegeben. Dem Mainstream waren Beugungswinkel von Mittelfingern und die Krawattenfrage wichtiger als Inhalte. Der einzige, der in diesem Zusammenhang übrigens wirklich pöbelte, keine Möglichkeit auf Erteilen eines Seitenhiebs ausließ und sich gänzlich undiplomatisch verhielt, war jedoch nicht Varoufakis, sondern Schäuble.
Der blieb freilich von jeder Kritik seitens Presse, Funk und Fernsehen für seine dreisten Absonderungen verschont.
Und die Leser und Zuschauer haben es mitgetragen, haben sich hetzen lassen und im Vorfeld rauschhaft wütende Briefe an griechische Restaurants geschrieben, sich in rasender Verblendung in der BILD abdrucken lassen, haben sich ganz lustvoll der Niedertracht hingegeben, sich mitreißen lassen in diesen Strudel nationalistischer Wut. Es war widerlich und es ist es noch. Für diese Lust an der Niedertracht und die Entsolidarisierung werden wir bezahlen dürfen.
Was der Soziapath mit Rädern unten dran nämlich verschweigt, ist, dass Varoufakis recht hat. Die Schulden Griechenlands sind für das Land nicht tragfähig. Jetzt haut die Troika Griechenland noch mal mehr Schulden oben drauf. Absurdes Theater!
Wer dabei Tsipras für einen Schwächling hält, der eingeknickt ist, muss sich die Argumente vor Augen führen, die hier ins Feld geführt worden sind.
Die bellizistische Sprache ist Absicht, denn es herrscht offensichtlich Krieg in Europa. Ein Krieg ohne Militär, einer der Finanzen. Die Drohung Deutschlands war schlicht, die Griechen einfach auszuhungern, sie abzuschneiden von jedem Zugang zum Markt.
Du unterschreibst oder wir lassen deine Nation hungern. Nicht weniger war es, was Tsipras zur Unterschrift bewegte. So funktioniert Europa. Das ist das Deutsch, das in Europa gesprochen wird. Es gibt gar keine Worte, die den Ekel auszudrücken in der Lage wären, von dem jeder vernünftig denkende Mensch angesichts dieser Erbärmlichkeit der deutschen Europapolitik ergriffen wird.
Wer nach diesem zweiten Juliwochenende des Jahres 2015 noch glaubt, irgendein politisches Vorhaben, etwas wie TTIP beipielsweise könnte mit dem Mittel demokratischen Bürgerprotestes abgewendet werden, ist ein absoluter Träumer, hat diesen donnernden Glockenschlag vom zweiten Juliwochenende 2015 nicht gehört. Dieser Umbau Europas zu einem postdemokratischen Finanztotalitarismus ist längst in vollem Gange.
Der Souverän, der europäische Bürger ist längst abgesetzt und hat einem menschenverachtenden Totalitarismus Platz gemacht. Und wenn der Bürger nicht spurt, dann werden die postdemokratischen neuen Herren ihn einfach hungern lassen. Gebt euch keinen Illusionen hin.
Man kann versichert sein: Die in ihrem Kern völlig korrupten bürgerlichen Parteien lassen hier eher Panzer gegen das Volk auffahren, als den vollständigen Umbau Europas zu einem transatlantischen postdemokratischen Leviathan zu überdenken. Schäuble hat allen am zweiten Juliwochenende die Instrumente gezeigt, zu denen die neuen postdemokratische Herren greifen, um ein ins Totalitäre kippende System zu verteidigen. Da hilft Plakate malen und auf Demos gehen gar nichts mehr, da müssen andere Instrumente der Rückeroberung der Souveränität erdacht werden.
Vor allem muss makroökonomischer Sachverstand her. Deutschland ist in dieser Hinsicht komplett analphabetisiert. Dass hier der Masse zu ganz billigen Konditionen verkauft werden kann, es sei für ein Land möglich, sich aus einer Krise herauszusparen, zeugt von einer unglaublichen weit verbreiteten und tiefsitzenden Blödheit hinsichtlich ökonomischer Zusammenhänge.
Eine Volkswirtschaft wie ein einzelnes Unternehmen zu behandeln, das man mit Sparen in die Gewinnzone zurückbringen kann, zeugt von sträflich grober Unkenntnis ökonomischer Grundlagen. Eine Insolvenz wie eine Liquiditätskrise zu behandeln ist allerdings nicht nur inkompetent, es ist sträflich und strafbar. Insolvenzverschleppung heißt der Tatbestand.
Da Schäuble meint, Griechenland wie ein Unternehmen behandeln zu müssen, sollten wir ihn auch wie einen Manager behandeln. Der geht für besagte Insolvenzverschleppung nämlich in den Knast. Es ist Betrug. Ich würde mich freuen, Schäuble dort zu sehen. Er hätte es verdient. Schäuble ist ein Verbrecher, den seine Immunität vor der gesetzlich vorgesehenen Strafe schützt.
Merkel und Schäuble wissen, dass ihre Rezepte nicht funktionieren. Sie lügen den Bürgern ins Gesicht. Sie wissen auch, dass Varoufakis recht hat. Er ist vom Fach, den deutschen Polit-Pappnasen an Kompetenz weit überlegen. Dass sie dennoch versuchen, den Bundesbürgern zu verkaufen, Sparen wäre der Weg zur Beendigung der Krise, ist in einer unglaublichen Weise durchtrieben.
Es wird immer offensichtlicher. Merkel, Schäuble, die Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte verfolgen mit ihrer Sparpolitik ein ganz anderes Ziel. Man muss sich nur die aktuellen Projekte ansehen und sie in die Zukunft verlängern. Dann ist das Programm der Parteien von CDU über die SPD bis zu den Grünen schlicht die vollständige Entdemokratisierung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.

Die schwäbische Hausfrau macht das mit. Sie blickt mit jedem Tag giftiger auf ihre Nachbarin mit Migrationshintergrund, auf deren Haus, das immer weiter runter kommt und den Vorgarten, in dem das Unkraut wuchert. Noch lässt sie sich von den Medien aufhetzen und treiben. Der medial eingepflanzte Hass wächst mit jeder Minute, beim Spätzle Schaben, beim Wäsche Bügeln und beim Boden Feudeln – erst feucht, dann trocken. Die faule Schlampe nebenan!
Eines Tages fast sie sich ein Herz. In aller Falschheit tritt unsere Schwäbin hinaus, geht hinüber und öffnet jetzt beherzt das Gartentor zur Nachbarin, geht auf die Knie und beginnt dort das Unkraut zu jäten. So kann man das ja nicht lassen. Das Leben ist kein ewig währender Sirtaki. Hier wird gearbeitet und die Kehrwoche gemacht.
Die Tür geht auf und eine verhärmte Frau tritt vor die Tür. Sie fragt die schwäbische Hausfrau, was sie dort mache.
“I helf dir a weng”, bekommt sie zur Antwort. Die Schwäbin lächelt gönnerhaft.
Der Vorgarten sei gewiss nicht ihr zentrales Problem, bekommt die Schwäbin zu hören. Der Strom sei abgestellt, die Kinder seien krank, für eine Behandlung hätte sie kein Geld. Darüber hinaus sei das Dach undicht, doch auch hierfür fehle das Geld.
Sie solle sich jetzt nicht so haben, antwortet die schwäbische Hausfrau. “Do goscht her”, sagt sie, packt die Nachbarin am Arm, zwingt sie neben sich auf die Knie und zum Jäten.

Was da am zweiten Juliwochenende 2015 passiert ist, hat tatsächlich den Charakter eines Putsches, zu dem die Deutschen in aller Naivität und Ahnungslosigkeit applaudierten. Noch verdient Deutschland an der Krise über den Zinsunterschied zwischen dem Zinssatz, zu dem sich Deutschland Geld leihen kann und dem Zinssatz, zu dem es Geld an Griechenland weiterverleiht.
Doch sollte Schäubles Traum von einem Grexit wahr werden, dann wird es teuer. Auch wenn Schäuble von Makroökonomie offensichtlich wenig Ahnung hat und die ihn umgebenden Berater und in der Öffentlichkeit präsenten Ökonomen wie Sinn aufgrund ihrer mangelnden Fachkenntnis nur ganz regionale Bedeutung haben, weiß Schäube das freilich. Man kann ihm da ruhig planerisches Handeln unterstellen.
Wie ließe sich die neoliberale Doktrin besser installieren als über einen ökonomischen Schock. Ein wirtschaftliches Desaster ist der Traum eines jeden Postdemokraten vom Schlage eines Schäuble. Ein Grexit und in einem Moment sind mehrere Milliarden Euro einfach futsch. Die Schuldfrage wird dann schnell geklärt sein, die Griechen waren’s. Auf die dann folgende Rezession antwortet man mit den alt bekannten Rezepten. Sozialausgaben senken, also Hartz IV zusammenstreichen, Arbeitsmarkt flexibilisieren, das heißt Arbeitnehmerrechte beschneiden und Löhne senken, Renten kürzen, Verbrauchssteuern erhöhen, die Steuern für Reiche senken und öffentliches Eigentum verscherbeln.
Die Interessen der Deutschen und der Europäer werden von Schäuble und der deutschen Politik nicht vertreten. Wer das glaubt, hat die Zusammenhänge nicht verstanden.

Während die schwäbische Hausfrau mit ihrer Nachbarin deren Vorgarten jätet, erzählt diese ein bisschen von ihrem Schicksal, dass sie arbeitslos geworden ist, Mann ist weg, alles scheiße. Seit Jahren geht es nur bergab. Inzwischen sei sie so weit unten, dass sie sich ihre eigene Existenz nicht mehr leisten könne. Sie renne nur noch hin und her, um die Löcher zu stopfen, die aber immer größer würden.
Plötzlich kommt der Schwäbin eine Idee. Sie lädt ihre Nachbarin ein, ihren Garten zu jäten.
“I zahl’s au”, sagt sie. Es ist, als wäre ein gordischer Knoten durchschlagen. Sie übernimmt die Kosten für die Reperatur des Daches und begleicht die Stromschulden. Die Rückzahlung dieses Kredits wird an das wirtschaftliche Wohlergeben der Nachbarin gebunden.
In der Folge jätet die Nachbarin und putzt Fenster für auskömmliches Geld. Zahlt immer dann, wenn sie es kann, ihren Kredit ab. Sie ist wieder versichert, kann ihre Kinder ärztlich behandeln lassen.
Die dadurch für sie freigewordene Zeit widmete die schwäbische Hausfrau der Lektüre. Sie muss jetzt nicht mehr Fenster putzen, sie hat Zeit zu lesen. Sie las sich in Keynes und von Hayek ein, wusste schnell, wem sie den Vorzug zu geben hatte, streifte auch die Klassiker Smith und Marx, las auch Weber, um sich dann mit Krugman und Galbraith und Varoufakis der Gegenwart zuzuwenden.
Ihr Zeitungsabonnoment bestellt sie ab und die Glotze lässt sie aus, denn sie hatte verstanden, dass Volkswirtschaft nichts mit Moralisieren zu tun hat. Inzwischen wird der schwäbischen Hausfrau schlecht, wenn sie hört, wie faul die Südländer seien.
Als billige Moralphilosophie unterhalb des Niveaus eines Ethikkurses ihres Sohnes in der neunten Klasse empfand sie die deutsche Berichterstattung über wirtschaftliche Zusammenhänge. “Fachkräftemangel überall”, witzelte sie dann mit ihrer Nachbarin, wobei sich ein wenig Bitterkeit in ihr beider Lachen mischte.
Der ewige Inzest an den Universitäten und in den Schreibstuben der Republik führte einfach zu dem Grade des Schwachsinns, der da heute offenkundig grassiert, versuchte sie das Phänomen der täglichen geistigen Bankrotterklärung des Wirtschaftsjournalismus zu erklären.
Mit ihrer Nachbarin feiert sie inzwischen gerne. Ihr beider Leben hatte an Qualität und Wohlstand gewonnen. Das nachbarschaftliche Verhältnis ist inzwischen in wunderbarer Weise entspannt.

Natürlich mag man sagen, die hier eingebettete Erzählung hinkt. Das ist legitim und ist mir auch bewusst. Sie soll auch nicht etwas vollständig erklären, sondern etwas aufzeigen. Das tut sie, denn die Geschichte der schwäbischen Hausfrau weist in die einzige gangbare Richtung, mit der die Krise beendet werden könnte. Das allerdings setzt voraus, dass an der Beendigung der Krise ein Interesse besteht. Doch genau das ist gar nicht der Fall. Im Krisenmodus lässt es sich leichter regieren, denn in der Krise lassen sich die schlimmsten Grausamkeiten als Notwendigkeiten verkaufen.
Das wäre eigentlich total fies? Gemein irgendwie? Gleichzeitig gegen nationale Interessen und gegen Europa gerichtet? Im Grunde durch und durch soziopathisch? Nun ja… soziopathisch und mit Rädern unten dran.

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