Wer buht ist ein Arschloch

ESC Der Eurovision Song Contest ist eine kitschige Vision von Frieden, Vielfalt und Toleranz. Das ist gut. Es ist auch dann gut, wenn eine russische Sängerin darüber singt.

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Polina Gagarina ist eine wunderschöne Frau. An Attraktivität übertrifft sie Paris Hilton bei Weitem, die schnell schnippisch wirkende Heidi Klum schmiert im Vergleich mit der Russin völlig ab. Darüber hinaus ist Polina nicht nur schön, sie ist vielfach talentiert, Modell, Schauspielerin und Sängerin. In ihrem Video "Спектакль окончен", zu deutsch "Das Theater ist vorbei”, stellt sie all diese Talente unter Beweis.

Das Video erzählt die Geschichte vom Wandel des Begehrens. Nach einem periodischen Zeitraum ist die Chance vergeben und Verlangen richtet sich neu aus; gleichsam zyklisch. Die Bildersprache ist eindeutig. Auf rote Tücher ist dabei besonders zu achten. Sie sind ein Schlüssel zum Verstehen.

Die Klickzahlen des Videos sprechen eine eigene Sprache. Über 17 Millionen mal wurde es bis heute auf youtube aufgerufen. Eine Zahl, die selbst Kylie Minogue neidisch machen würde, wüsste sie davon.

Zum Glück gibt es den Eurovision Song Contest, dessen zentrale Aufgabe es ist, über das Schaffen der einzelnen Regionen und Länder mit den Mitteln des Wettbewerbes zu informieren. In diesem Jahr tritt für Russland Polina Gagarina an. Kylie hat also noch eine Chance, sich bekannt zu machen.

Von Anbeginn war der ESC gedacht als ein Mittel der Völkerverständigung jenseits der Politik, ein pop-kultureller Wettbewerb, der in seiner ganzen intellektuellen Schlichtheit zum Erhalt und Ausbau des Friedens zunächst innerhalb Europas und dann auch darüber hinaus beitragen sollte. Der ESC dient dem Weltfrieden, der Ausbildung von Toleranz, der Vielfalt. Weniger pathetisch formuliert wäre das Ansinnen des ESC verfehlt.

Polina Gagarina nimmt mit ihrem Beitrag “A Million Voices” genau dieses Anliegen auf. Es geht ihr um Frieden, um Vielfalt, um Miteinander. Ganz ESC-adäquat kitschig.

Es war das Boulevard-Blättchen stern, das sich genau darüber empört hat. Unter dem Titel “Russland als Weltverbesserer? Zum Kotzen!” wettert der Kolumnist Jens Maier über den russischen Beitrag, den er in aller Naivität und Verblendung hinsichtlich politischer Prozesse in Russland für ein persönliches Propagandamachwerk Putins hält. Er fordert auf, Polina Gagarina auszubuhen.

Offensichtlich stößt diese ganz archaische Form der Meinungsäußerung bei den Zuschauern des Grand Prix auf große Beliebtheit. Schon im vergangenen Jahr wurde der russische Beitrag ausgebuht. Es ist daher zu erwarten, dass Jens Maier mit seiner Forderung auf große Gegenliebe stößt.

Letztes Jahr ging es bei der glutturalen Meinungsäußerung anlässlich des russischen ESC-Beitrags um eine Einfügung in einen russischen Gesetzestext, durch den sich vor allem die schwule Community zur Empörung hinreißen ließ. Dieses Jahr soll es das Thema Weltfrieden und Vielfalt sein, gegen das man sich zu empören hat, denn nur der Westen ist für Weltfrieden und Vielfalt. Wenn so etwas aus Russland kommt, dann ist es verzerrt, entstellt, zum Kotzen. Unsere Arroganz kennt keine Grenzen.

Die westliche Propaganda gegen Russland wirkt wunderbar. Denn schon zum sechzigsten Jubiläum des Eurovision Song Contest vor einigen Tagen wurde der Beitrag des russischen und darüber hinaus schwulen Preisträgers von 2008 Dima Bilan ausgebuht.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Die schwule Gemeinde buht einen schwulen Sänger aus, weil ihr die Gesetzgebung in dessen Heimatland nicht passt, von der sie darüber hinaus keinen blassen Schimmer hat. Es gibt nämlich keine strukturelle Gewalt gegen Schwule in Russland. Auch die Wiederholung der Behauptung macht den Satz nicht wahrer.

Aber es gibt westliche Propaganda, die es hervorragend anzustellen weiß, die Gay-Community für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Der Artikel von Jens Maier ist ein herausragendes Beispiel dafür.

Der Eurovision Song Contest, das ist schon in seinem Titel enthalten, ist eine Vision. Eine Vision über Vielfalt, zum Beispiel. Dafür steht stellvertretend der Sieg der Transsexuellen Dana International im Jahre 1998.

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten waren Juden, Christen und Muslime auf dem Gebiete Israels einer Meinung: Dieser Transe keine Bühne! Und doch mussten sie sie gewähren lassen. Für eine Moment wurde die Vision von Toleranz Wirklichkeit. Der ESC wurde 1999 von Israel ausgerichtet.

Der ESC ist aber auch eine Vision des friedfertigen Zusammenseins der Völker und Nationen, von unterschiedlichen Kulturen und Menschen. Wo bitte hätte eine Ballade über den Frieden und Vielfalt einen besseren Ort? Man kann damit sogar gewinnen, wie Nicole 1982 bewiesen hat.

Wann, wenn nicht in diesen Tagen, wäre es wichtiger, erneut eine Vision von Frieden zu haben? Wann, wenn nicht in diesen Tagen, wäre die Botschaft von "A Million Voices" würdiger, ein Festival der kitschigen Visionen zu gewinnen, und diese Vision damit für einen Augenblick Wirklichkeit werden zu lassen?

Jeder der buht, zeigt, dass er nichts vom ESC verstanden hat. Jeder, der buht, lässt sich wie Jens Maier für primitive Propaganda in einem geopolitischen Spiel einspannen, zerstört den ganz naiven Glauben, der den ESC hervorgebracht hat; den Glauben an Weltfrieden und das harmonische Zusammensein aller Menschen.

Wer aber glaubt, das ganze Pathos des ESC wäre eine zwar kitschige, nichts desto Trotz eine wichtige Vision, wer meint, Pop-Kultur wäre ein Weg, diese Vision für einen Moment zu verwirklichen, der stimmt in diesem Jahr für Polina Gagarina.

Wer meint, das könne man unmöglich tun, weil es neben Frieden beim Grand Prix auch um queere Kultur und ihre weltweite Durchsetzung ginge, der sollte sich das Abstimmungsergebnis der letzten Jahre ansehen. Da bekam Conchita Wurst aus Deutschland genau so viele Punkte wie aus Russland; sieben nämlich.

2007 vergab Russland für die ukrainische Tunte Verka Serduchtka übrigens zehn Punkte. Aus Deutschland kam damals nichts, die Performance und der Witz wurde nicht verstanden.

Verka Serduchka erfreut sich in Russland übrigens großer Beliebtheit. Ein adäquates Pendant zu ihrem frechen Witz besitzen wir in der deutschen Medienlandschaft nicht. Conchita Wurst schafft es trotz ihres genialen, tief inspirierten Videos zu "Heroes" kaum in die Charts.

Also bitte mal die eigenen Maßstäbe überprüfen, die ideologischen Scheuklappen ablegen und nicht von der russophoben Propaganda einwickeln lassen.

Queere Menschen und ihre Kultur ist nämlich queere Kultur in all ihrer Vielfalt. Es gibt sie immer, überall und zu allen Zeiten. Nicht nur auf eine bestimmte Weise in Westeuropas, die das Maß aller Dinge ist. "Queer-culture" ist mehr als das, was im transatlantischen Bündnis passiert. Und nicht alle queeren Menschen müssen sich genau daran ausrichten.

Die Lektion, die der ESC der Gay-Community lehrt, ist: Queere Menschen müssen die Vielfalt ihrer eigenen Kultur erst lernen. Auf jeden Fall aber gilt: Wer bei Polina buht, ist ein Arschloch, denn er will von Frieden und Vielfalt nichts wissen.

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