Jede wissenschaftliche Disziplin betrachtet die Welt aus ihrem eigenen Blickwinkel. Nur durch diese Spezialisierung ist eine schrittweise Anhäufung wissenschaftliche Erkenntnis möglich. Und von der Soziologie hat zu recht Emile Durkheim gefordert, sie solle „Soziales durch Soziales zu erklären“.
Das mag eine eingeschränkte Sicht auf die menschliche Gesellschaft sein. Im Vergleich zum Blick der Volkswirtschaftslehre, die „Soziales nur aufgrund ökonomischer Knappheit“ erklären möchte, ist sie aber noch weit gefasst. Gemeinsam ist der traditionellen Ökonomie und Soziologie die Ausblendung biologischer Grundlagen menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Die Psychologie wiederum, obwohl sie sich ja nicht nur mit einzelnen Menschen,
enschen, sondern ebenfalls mit Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen befasst, versucht soziale und ökonomische Strukturen so weit es geht auszublenden.Oft tut sie das überdies anhand von Studenten-Experimenten an US-amerikanischen und europäischen Universitäten – wie der Anthropologe Joe Henrich im Wissenschaftsjournal Nature anmerkte. Nun sind sich die am großen Ganzen interessierte Volkswirtschaftslehre und die am Individuum interessierte Psychologie in den letzten Jahren näher gekommen, zum Beispiel in der Verhaltens-Ökonomie und in der Experimentellen Wirtschaftsforschung. Die Soziologie dagegen läuft Gefahr an den Rand der empirischen Forschung gedrückt zu werden. Etliche Soziologen stört das nicht, da sie sich ohnehin eher als Geisteswissenschaftler oder Sozialphilosophen verstehen, und einige faktisch Feuilletonisten sind. Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit erfolgt nicht systematisch mit Hilfe empirischer Daten, sondern anhand von illustrativen Zahlen, vor allem aber anhand von Fallbeispielen („qualitativen Studien“) und Selbstbetrachtungen. Kann das eine aussichtsreiche Entwicklung sein?Risikobedarf und AltruismusDer einzige deutsche Ökonomie-Nobelpreisträger Reinhard Selten stellte kürzlich fest: „Wenn in der Wirtschaft psychologische Dinge eine Rolle spielen, dann müssen sie auch in der Wirtschaftstheorie untersucht werden.“ Deswegen beschäftigen sich Ökonomen jetzt intensiv zum Beispiel mit Messungen von Risikoneigung oder Altruismus. Und diese sozialen Experimente werden nicht nur im Studenten-Labor durchgeführt, sondern auch mit Normal-Bürgern. Sie offenbaren zum Beispiel ein hohes Ausmaß an Risikoscheu unter den Menschen – nicht nur in Europa, sondern auch in den USA. Darüber hinaus sind Ökonomen immer mehr auf der Suche nach natürlichen Experimenten. Sie nutzen Gesetzesänderungen aus, denen bestimmte Gruppen nicht entkommen konnten.So kann man kausale Effekte isolieren und beispielsweise zeigen, dass von der Absenkung des Krankengeldes Ende der 90er Jahre chronisch Kranke in Deutschland besonders schwer getroffen wurden. Da sie nicht „krank feiern“ führte die Absenkung des Krankengeldes nicht zu weniger Krankheitstagen, sondern zu sinkenden Haushaltseinkommen, da den Langzeitkranken einfach nur weniger Geld zur Verfügung steht als zuvor. Abgesehen davon können aufgrund neuer technischer Entwicklungen sowohl die biologischen Grundlagen menschlichen Lebens, als auch Sozialstruktur und Umweltqualität des Wohnortes oder des Kiezes, und ebenso Familien- und Partnerschaftsbeziehungen, ja ganze soziale Netzwerke gemessen und in quantitative Analysen einbezogen werden. Jüngst ist in Psychological Science sogar eine Arbeit erschienen, die nahelegt, dass das Maß der menschlichen Risikobereitschaft mit bestimmten genetischen Markern verknüpft ist. Die meisten Menschen meiden Risiken, was die marktradikale Wirtschaftspolitik aber ignoriert.Nicht Google Street View, aber Google Earth (das von oben in Hinterhöfe und Gärten guckt) stellt zwar ein Datenschutzproblem dar, erlaubt aber auch neuartige Betrachtungen der kleinräumigen Sozial- und Umweltstruktur. So werden sicherlich bald Analysen vorliegen, inwieweit das Umfeld des Elternhauses zum schulischen Erfolg eines Kindes beitragen. Die Soziologie muss offenbar alle diese Nebenbedingungen einbeziehen, um erklären zu können, was wirklich nur durch die sozialen Bedingungen erklärt wird. Dazu gehört aber Offenheit für neue Messmethoden und eine gute Ausbildung in quantitativer empirischer Sozialforschung. Etliche Institute bewegen sich stattdessen eher in Richtung Sinn-Interpretation und geisteswissenschaftlicher Diskurs.Welche Rolle können angesichts des Mess-Fortschritts, den Ökonomen und Psychologen nutzen, Fallstudien und qualitative Forschung noch spielen? Qualitative Methoden wie narrative Interviews oder Beobachtungsverfahren tragen ohne Zweifel zur Hypothesenbildung bei und helfen, Zusammenhänge im Detail zu verstehen. Ausgetretene Pfade verlassenAber so wie die quantitativen Sozial-, Verhaltens- und Wirtschaftswissenschaften muss auch die qualitative Methodik sich ihrer Grenzen bewusst werden und ihre Stärken gezielt in Kombination mit quantitativer Methodik sowie Stichprobentheorie einsetzen. Das größte Problem qualitativer Erhebungen liegt naturgemäß darin, dass man nicht weiß wie repräsentativ die wenigen ausgewählten Fälle eigentlich sind. Dieses Problem kann aber beseitigt werden, indem man einen Teil der für die repräsentative Forschung befragten Personen mit qualitativen Methoden intensiv nachbefragt und anschließend die quantitativen und qualitativen Ergebnisse miteinander vergleicht. So kann man die Stärken der quantitativen und qualitativen Methoden leicht kombinieren. Man muss nur bereit sein ausgetretene Pfade zu verlassen und nicht länger auf die Schwächen der konkurrierenden Methode schimpfen, sondern ihre Stärken klug kombiniert nutzen. Ganz neue Wege sind im Wissenschaftssystem schwer zu gehen, da letztlich immer der jeweilige Mainstream einer Disziplin entscheidet, was als wissenschaftliches Ergebnis anerkannt wird. Die Volkswirtschaftslehre führt mit ihrer enger werdenden Verbindung zur Psychologie aber seit einigen Jahren eindrucksvoll vor, dass neue Wege möglich sind. Die Soziologie, die eigentlich den breiteren theoretischen Ansatz hat als die Ökonomie, muss in ihrer empirischen Variante aufpassen, dass sie nicht von der Verhaltens-Ökonomie überholt wird und die empirische Sozialforschung, die zunehmend auch für Ökonomen und Psychologen als Kooperationspartner wichtig ist, nicht absurderweise an den Rand der Soziologie gedrängt wird oder diese methodenbewusste Sozialforschung zu den Wirtschaftswissenschaften und der Psychologie wechseln muss.Da in der Tat nur die Soziologie „Soziales in seiner ganzen Breite durch Soziales“ erklären will, ist dies ein eigenständiges Paradigma. Es würde nicht dem Erkenntnisfortschritt dienen, wenn als Soziologie nur noch die geisteswissenschaftlich geprägte Variante übrig bliebe, zudem diese wiederum rasch von den traditionellen Geisteswissenschaften in Frage gestellt würde.