Jean Louise Finch sitzt im Speisewagen des Zuges, der sie in ihre Heimatstadt Maycomb in Alabama bringen soll. Längst arbeitet und lebt sie in New York, einmal im Jahr kehrt sie zurück, besucht ihre daheimgebliebenen Freunde und Verwandten; jetzt freut sie sich besonders ungeduldig auf Atticus, den geliebten Vater. Die Leser von Harper Lees bisher einzigem Roman Wer die Nachtigall stört kennen sie als Scout, so hatte der Vater sie als Kind genannt, auch das übrige Personal des neuen Romans besteht aus lauter vertrauten Figuren.
Des neuen Romans? Inzwischen wissen wir, dass Gehe hin, stelle einen Wächter der eigentliche Erstling der Autorin ist. Vom Verlag 1957 abgelehnt, hatte Harper Lee die darin in Rückblenden erzählten Kindheitsepisoden zu dem späteren Welterfolgsbuch ausgearbeitet. Dessen Fäden werden in dem jetzt verspätet vorliegenden eigentlichen Debüt auf überraschende Weise fortgesponnen.
Der alljährliche Besuch zu Hause ist für Jean Louise Routine, aber diesmal erscheint ihr alles erschreckend anders. Ihre Heimat hat sich verändert – oder ist sie es, die ihr fremd geworden ist? Kaum angekommen liegt sie sich wie schon als Kind mit Tante Alexandra in den Haaren, doch Atticus’ Zurechtweisung bringt einen neuen Ton ins Gefecht: „Dann fahr zurück nach New York und tu, was du willst.“ Ein erstes Warnzeichen. Sie soll ihre Latzhose nicht mehr tragen, meint alsbald Henry Clinton, ihr alter Freund, der sie heiraten will. Das Flussufer, von dem aus sie als Kinder schwimmen gingen, wurde verkauft und sie bewegt sich auf fremdem Terrain. Die methodistische Kirchenmusik, ein von ihr besonders geliebter heimatlicher Klang, tönt in neuer fremder Weise. Die Schwarzen, die im Roman, seiner Entstehungszeit gemäß, Neger heißen, zeigen ein merkwürdig verdruckstes Selbstbewusstsein. Nicht einmal die alte Köchin Calpurnia, ihre einstige Ersatzmutter, will noch etwas von ihr wissen.
Die Entfremdung spitzt sich zu, als Jean Louise in einer Sitzung des Maycomber Bürgerrats erleben muss, wie Atticus an der Seite rassistischer Eiferer zum Fürsprecher barbarischer Gesinnungen wird – und das ausgerechnet in jenem Gerichtssaal, in dem er einstmals mutig einen schwarzen Familienvater gegen die einhellige Vorverurteilung seiner Mitbürger verteidigt hatte, die ihn am liebsten aufgeknüpft hätten.
Ein neuer Mentor
Jean Louises Entsetzen über die Verwandlung ihres Vaters kann nicht größer sein. Der Mann, von dem sie bis jetzt geglaubt hatte, dass er „in der Wahrheit“ lebte, der ihr Vorbild, ihr Lebenswegweiser auch in der großen Stadt gewesen war, im Verein mit „vulgären Schreihälsen“ und den Dunkelmännern des Ku-Klux-Klan! Das Bild des Vaters in ihrer Brust zerbricht: „Du, der du mich Scout genannt hast, bist tot und in Deinem Grab.“
Hier beginnt der zweite Teil des Buchs. Er kreist um eine Frage: Gelingt Jean Louise der Abschied von den Menschen, die sie liebt, von dem Damals, „als immer Sommer gewesen“? Er gelingt ihr nicht. Am zweideutigen Ende des Romans steht ihre „wirkliche Ankunft in dieser Welt“, wie ihr neuer Mentor Onkel Jack ihr Scheitern umdeuten wird.
Die Rückkehr des Helden ist ebenso wie seine Ausfahrt eines der ältesten Erzählmotive der Weltliteratur. Der da zurückkehrt, ist den Daheimgebliebenen fremd geworden, er selber aber erkennt die Heimat nicht wieder. Es ist, als seien ihm draußen die Schuppen von den Augen gefallen, hinter den altvertrauten Fassaden erblickt er erstmals die Abgründe, die sie verbargen. Thomas Wolfe hatte diese Erfahrung in einem großen Roman auf die Titelsentenz You Can’t Go Home Again (dt. Es führt kein Weg zurück) gebracht. Harper Lees Roman wirkt wie ein Gegenentwurf. Der Wächter, den sich Jean Louise, einem Jesaja-Vers folgend, an ihre Seite wünscht, führt sie gegen alle ihre Widerstände tatsächlich den Weg zurück – unter Preisgabe der Erfahrungen und Überzeugungen, die sie in der Fremde der modernen Stadt erworben hatte.
Nein, nicht der „urälteste aller Vaterkonflikte“ hat sie „kalt erwischt“, wie der Onkel erklärt. Sie war über die enge, rückständige Südstaatenwelt Maycombs hinausgewachsen, jetzt wird sie wieder von ihr eingefangen. Jetzt soll sie lernen, dass sie „farbenblind“ gewesen war, „unfähig, in Rassekategorien zu denken“, unfähig, zu erkennen, dass die Schwarzen noch nicht reif zur Emanzipation sind und die Klan-Leute eigentlich nur lächerliche Komödianten, die sich „Bettlaken überstülpen“: „Du siehst nur Menschen“, fasst Onkel Jack ihre Defizite zusammen.
Und Jean Louise lernt dies alles. Lernt Ressentiment und Gestrigkeit zu akzeptieren, sich der Realität, wie sie nun einmal ist, zu fügen. Ihre Seele ist Schauplatz des Kampfes zwischen ungleichzeitigen Rückständen und Bedürfnissen auf der einen Seite und den zukunftweisenden Anforderungen der Gegenwart auf der anderen. Sie erlebt, wie die Bestände voriger Zeiten und früherer Generationen durch die dünne Kruste von Liberalität und Gerechtigkeit brechen. Dafür bleibt die Versöhnung mit Atticus nicht aus – aber um welchen Preis!
Es ist Harper Lees realistische Ehrlichkeit, die diesen Roman der Ungleichzeitigkeit, der auch ein (Ver-)Bildungsroman ist, bedeutend macht. Sie stellt in Geh hin, stelle einen Wächter die realen Verhältnisse in ihrer ganzen verdrucksten Barbarei dar. Indem sie um Verständnis für die aufgestauten Reste einer untergegangenen Welt wirbt, ohne sie zu beschönigen, widerspricht sie den eigenen Sympathien und politischen Vorurteilen. Sie betreibt Aufklärung wider Willen, die glühendsten Anhänger der alten Denkart und ihrer Hassbilder sind in diesem Roman die gemeinsten und verkommensten Figuren der Gemeinde und wenn sie Männer wie Henry, Jack und Atticus und über diese zuletzt gar Jean Louise anstecken, erscheinen die mehr als tragische Figuren denn als Mitläufer. Es ist eine alte Geschichte. Dass sie noch nicht zu Ende ist, lehrt der tägliche Blick in US-amerikanische Nachrichten.
Info
Gehe hin, stelle einen Wächter Harper Lee Ulrike Wasel, Klaus Timmermann (Übers.), DVA 2015, 320 S., 19,99 €
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