Hi, Perikles, it’s Obama

Dialog Karl-Heinz Göttert entwirft in „Mythos Redemacht“ eine wahrhaft demokratische Geschichte der Rhetorik
Ausgabe 11/2015
Wo ein Rednerpult steht, ist auch Cicero nicht weit
Wo ein Rednerpult steht, ist auch Cicero nicht weit

Foto: Stockhoff/Imago

Wer dieses Buch im Licht seiner Thesen liest, bringt sich um einen beträchtlichen Gewinn, er wird ständig auf Widersprüche stoßen. Das beginnt mit dem Titel Mythos Redemacht. Man denkt sofort an ein fabelhaftes Konstrukt, eine fantastische, vielleicht sogar betrügerische (Selbst-)Täuschung, die es zu entmythologisieren gilt.Der Untertitel Eine andere Geschichte der Rhetorik bekräftigt diese Erwartung.

Nun ist Karl-Heinz Göttert ein mit vielen einschlägigen Publikationen ausgewiesener Kenner seines Fachs, es verwundert daher nicht, wenn er diesen Mythos schon im Prolog stattdessen bestätigt. Göttert spricht von der „Redekunst europäischer Tradition“, um dann freilich doch auch von einem „Konzept von Überwältigen und Sichunterwerfen“ zu sprechen, das er merkwürdigerweise aber Aristoteles zuschreibt.

Nein, die Stärken dieses Buchs liegen auf einem anderen Feld. Göttert erzählt die Geschichte der Beredsamkeit (nicht ihrer Theorie) als eine europäische Bildungsgeschichte in Rednerporträts. In die europäische Linie gehört auch die rhetorische Kultur der Vereinigten Staaten. Von John Adams, dem zweiten US-amerikanischen Präsidenten, wissen wir ausdrücklich, dass er Cicero über alles schätzte und dessen größtes rhetorisches Werk De oratore (Über den Redner) immer wieder studierte. Die meisten seiner Nachfolger sind bis heute seinem Beispiel mehr oder weniger gründlich gefolgt – von Barack Obama spricht eine Biografin als dem „neuen Cicero“.

Paarweise auf der Bühne

Und an Cicero hält sich auch Göttert, wenn er seine Geschichte der Redekunst als die Geschichte großer Redner schreibt. Er lässt sie paarweise auf seiner Bühne auftreten und sich gegenseitig beleuchten. Demosthenes findet sich neben Charles de Gaulle wieder, Obama neben Johannes Chrysostomos von Konstantinopel, Augustinus neben Otto von Bismarck, der Wanderprediger Johannes Kapistran neben dem Revolutionär Robert Blum. Das sind überraschende, immer erhellende, gelegentlich auch befremdliche Querblicke durch die Geschichte – auch wenn Ferdinand Lassalle zusammen mit Robespierre auftritt, die sich sonst dann doch nicht viel zu sagen haben.

Gert Ueding lehrte als Nachfolger von Walter Jens Allgemeine Rhetorik in Tübingen

Es gibt auch Einzelauftritte wie den von Adolf Hitler. Und hier räumt Göttert endlich mit einem hartnäckigen Vorurteil auf. Er analysiert die Kunstfertigkeit seiner Reden, auch ihre argumentativen Partien. Warum hat Göttert ihn nicht mit einem Pendant versehen? Es hätte genug Anwärter gegeben: von den Hasspredigten vor Kreuzfahrten bis zu den Internetauftritten der Warlords unserer Tage. Doch hätte sich dabei besonders krass auch ein Problem gezeigt, das in seinem Verfahren der Doppelporträts überhaupt steckt: Jeder historische Sinn scheint mit ihnen ad absurdum geführt, die Absicht, eine „Geschichte der Rhetorik“ zu schreiben, im Ansatz dementiert.

In Wahrheit aber zieht Göttert die Konsequenz aus einer merkwürdigen Erfahrung, dem Kenner vertraut und dem Laien bei der Lektüre von Rede-Anthologien jedes Mal aufstoßend: Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es kaum markante Unterschiede. Die Beredsamkeit in den verschiedenen Epochen in Europa folgt in ihren Themen und Inhalten zwar der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, im rhetorischen Vorgehen, in den Argumentationsverfahren, in der gesamten Kunst der Überzeugungsherstellung verfolgen die verschiedenen Redner aber die stets gleichen Wege.

So kommt es, dass Cicero in seinen catilinarischen Reden vor dem römischen Senat und Joschka Fischer in seiner berühmten Parteitagsrede zum Kosovo-Krieg dieselben rhetorischen Strategien benutzen. Beide stützen sich auf Sachargumente wie Bedrohung und Leiden der Zivilbevölkerung, beide werfen ihre persönliche Autorität (rhetorisch gesprochen ihr Ethos) in die Waagschale, und beide bewegen durch anschauliche Beispiele, Bilder und Visionen von den Kriegsverheerungen ihr Publikum zu heftigen Gefühlsreaktionen.

Es ist offensichtlich: Es gibt eine erstaunliche Kontinuität in den Redezeugnissen. Das kann auch gar nicht anders sein. Rhetorik basiert auf Normativität. Wir argumentieren heute nicht anders als Perikles und wecken Emotionen nicht anders als Gorgias, auch wenn wir technisch vollkommenere Bildverfahren besitzen. Es waren schon die ersten Rhetoren Korax und Teisias, die erkennen und akzeptieren mussten, dass es immer nur die eingeschränkte Gewissheit einer Meinung geben kann, die immer Alternativen zulässt. Erst in der Konkurrenz, im Streit gleichberechtigter Meinungen lässt sich die optimale Lösung eines Problems oder Konflikts finden.

Das alles rechtfertigt Götterts glänzende Idee der Doppelporträts, es bringt uns aber auch auf die einzige wirkliche Schwachstelle seines Buchs. Es baut auf einem Rhetorikkonzept auf, das historisch tatsächlich dominierte, das aber auch nicht etwa alternativlos war und ist. In diesem Konzept ist die „Redemacht“, die Göttert uns so unterhaltsam vor Augen führt, verankert. Doch angetreten ist die Rhetorik zuallererst gegen diesen Machtfaktor: Sie entsteht nach dem Ende der Tyrannis und nach der Vertreibung der Herrschercliquen aus den griechischen Stadtstaaten. Ihre Aufgaben sahen die Rhetoren vorzüglich in der Kontrolle von Macht und der Verhinderung von Gewalt, auch wo sie in religiösem Gewand auftrat. Der Philosoph und Rhetor Protagoras machte das menschliche Wissen zum Maßstab jeden Wissens. Und er war es auch, der den Dialog, das Streitgespräch schuf als die einer demokratischen Verfassung angemessene Rhetorik.

Exzess im Monolog

Womit er nicht die große Rede abschaffen wollte, aber auch die große Rede sollte dialogisch verfasst sein. Derart wandert der Adressat der Rede in die Rede selbst ein, weil seine Gegenargumente vom Redner so ernst genommen werden wie die eigenen. Eine so verstandene Rhetorik schützt Rede und Redner vor dogmatischem, totalitärem Missbrauch. Über die Jahrhunderte führte sie ein Schattendasein. Auch in der Demokratie ist sie nicht ungefährdet, wie wir wissen.

Natürlich, und darauf insistiert Göttert mit gutem Grund, gab es auch in den Epochen seit der römischen Kaiserzeit kunstreiche und große Reden, er führt in seinem Buch manche herausragenden Beispiele vor. „Die unheilvolle Verbindung von Rhetorik und Terror“, die er beim Redner Robespierre findet, ist aber kein Ausscheren aus jener rhetorischen Tradition, die er vor uns so eindrucksvoll und selbst rednerisch kunstvoll aufblättert, sie liegt in der Logik einer als Machtinstrument gebrauchten Beredsamkeit, die auf Überwältigung der Hörer, auf das autoritative Durchsetzen der eigenen Meinung und schließlich auf das „Zertrümmern“ aller Einsichten abzielt, die von den eigenen abweichen, wie Hitler ungeniert verkündet hat. Sein Name steht gewiss für den Exzess einer Monologrhetorik, die Tendenz dazu ist ihr aber immer eingeschrieben. Die Geschichte der wirklich anderen, der Dialogrhetorik ergänzt und korrigiert sie erst im gewünschten, nämlich demokratischen Sinn. Sie muss noch geschrieben werden.

Info

Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik Karl-Heinz Göttert Fischer 2015, 512 S., 24,99 €

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