Unsere öffentlichen und politischen Debatten verlaufen oft nach dem Muster, das Peer Steinbrück in jenem Gleichnis einmal beschrieben hat. „Es geht oft nur nach dem Motto: Wollen Sie wissen, wann der Haushalt ausgeglichen ist? – Dann drücken Sie bitte die Taste 1. Wollen Sie Kanzler werden? – Dann drücken Sie bitte die Taste 2. Für eine Exklusivmeldung drücken Sie die Taste 3.“
Die Fraktionsführungen von CDU, SPD und FDP wollten nun noch eine weitere Wahlmöglichkeit hinzufügen: Für eine Stummschaltung drücken Sie bitte Taste 4. Kein totales, aber immerhin ein zeitweiliges Abschalten der Abgeordneten, die eine von der Mehrheit der Fraktionen abweichende Überzeugung in einer kurzen Meinungsrede begründen wollten. Der Anschlag ist fürs Erste missglückt. Der Antrag stieß auf einhellige Kritik und wurde jetzt erschrocken und eilig zurückgezogen. Man könnte also zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen, aber dafür ist der scheinbar nebensächliche Vorfall in mehrfacher Hinsicht zu interessant.
Zunächst einmal könnte man ihn als den nüchternen Blick auf das parlamentarische Geschehen aus seinem eigenen Inneren, seiner intimen Kenntnis heraus betrachten. Schließlich waren Profis dabei am Werke, die täglich erleben, wie Politik gemacht, Mehrheiten ausgehandelt werden: Lässt du von dem einen ab, streiche ich das andere, gibst du mir, gebe ich dir. Ein mühsames, oft langwieriges Geschäft, hinter verschlossenen Türen, damit es nicht noch komplizierter wird. Der Bundestag bestätigt dann die vorher vereinbarte Abmachung mit der vorher vereinbarten Mehrheit. Wer nicht einverstanden ist, beschränkt sich besser auf eine reservatio neutralis, wenn das nicht Einfluss auf seine Karriere haben soll. Das Treueverhältnis zur Partei dominiert alle sachlichen Divergenzen und Meinungsverschiedenheiten, der Abweichler wird automatisch zum Verräter.
Dummdreistes Modewort
Wie aber kann das passieren, da doch jeder Unterhändler weiß, dass das, was man ausgehandelt hat, eine Möglichkeit von vielen war, dass man sich entgegenkommen, von manch liebgewordener Vorstellung verabschieden musste, keiner also mit seiner Überzeugung ganz durchgekommen ist? Merkwürdigerweise betrieben derart zustande gekommene Übereinkünfte in den Augen ihrer Urheber einen ärgerlichen Mangel: Sie sind nicht zwingend, da aus einem Meinungshandel entstanden, also anfechtbar, stehen auf mehr oder weniger wackligen Füßen, sind nur vielleicht richtig und auf gar keinen Fall wahr. Das gilt zwar für alle politischen, auch ökonomischen Urteile, sie können immer nur wahrscheinliche Ansichten liefern, und das beeinträchtigt ihre Geltung gegenüber dem politischen Gegner und besonders gegenüber der Öffentlichkeit.
Was ist zu tun? Produkt und Produktionsprozess werden getrennt. Wie ein Beschluss zustande gekommen ist, spielt schließlich dann keine Rolle mehr, wenn er als zwangsläufig erscheint, als „alternativlos“, wie das dummdreiste Modewort der Politik heißt. Es macht Politik zur Glaubenssache, Parteien zu Kirchen, Abweichler zu Verrätern, denen man nicht auch noch die Bühne, also das Redepult für ihren Verrat leihen darf. Die Taktik ist aus den großen Schauprozessen seit der französischen Revolution überliefert. Hébert, Fabre oder Danton wurden des Diebstahls angeklagt, damit die politischen Machtinteressen nicht zur Sprache kommen konnten.
Die parlamentarische Bürokratie kommt auf sehr viel leiseren Sohlen, aber aus derselben Gegend. Da die ursprünglichen Konflikte zwischen den Überzeugungen beseitigt sind, gibt es keinen Grund mehr zum lautstarken Widerspruch, schon gar nicht aus den eigenen Reihen. Wer dennoch aus der Fraktion heraustrat, hat wohl offenbar andere Motive: Geltungssucht oder Verblendung oder Querköpfigkeit. Alles Laster, die man abstellen muss.
"Bloße Rhetorik"?
Nun könnte man es angesichts der rhetorischen Misere im deutschen Bundestag auch begrüßen, wenn man deren Ausbreitung begrenzt. Die Parlamentarier brauchen ihre kostbare Zeit nicht mehr den argumentativ schwachen und sprachlich öden Reden ihrer Kollegen (es sind immer die anderen) zu opfern oder mit ihnen in Unterbietung zu wetteifern. Die Journalisten können erleichtert sein, dass sie wenigstens einige politische Verlautbarungen nur noch lesen, nicht anhören müssen.
Und der Bürger? Verdrießt ihn nicht schon längst alles, was mit Politik zu tun hat, findet er nicht sowieso, dass die „bloße Rhetorik“ vom konkreten Handeln abgelöst werden sollte? Auf allen Ebenen Voreingenommenheit gegen die lebendige Rede, gegen Rhetorik – und dann kommt dieser Protest gegen die geplante Taste 4, über die doch jeder Beteiligte froh sein müsste!
In diesem Punkt streifen wir nun einen anderen Aspekt der Diskussion, den Zweifel nämlich, ob Rede und Demokratie, Politik und Rhetorik nicht doch wesentlich aufeinander angewiesen sind und jede Beeinträchtigung des Rederechts der Volksvertreter auch eine Provokation des Volkes ist, das frei gewählt hat – und zwar nicht nur zu schweigen, sondern um seine Sache wirksam zu vertreten. Diese Sendung ist tief in die europäische Geschichte eingegraben.
„Ihr Pfeifendeckel“
Als die Bürger im Jahre 466 v. Chr. den Tyrannen und seine Familie aus Syrakus vertrieben, rief einer der ihren, Korax, sie zur Volksversammlung vor die Stadt, wo von nun an rechtliche und politische Konflikte in Rede und Gegenrede entschieden wurden. Es war die Geburtstunde des Politikers als Rhetor. Die rhetorische Profession des Politikers ist bis heute sein wesentliches Merkmal, auch wenn er selber sich das oft nicht klarmacht.
Sein Handeln ist immer rhetorisches Handeln: Er steht nicht hinter dem Bankschalter und verteilt Kredite, steht nicht am Fließband und baut Autoteile zusammen, er zieht auch nicht nach Afghanistan in den Krieg. Doch er spricht darüber, verhandelt mit Verbündeten und Gegnern, er vertritt seine Meinungen und Entscheidungen in Rede und Gegenrede vor Parlament und Öffentlichkeit. In Zeiten ruhiger Entwicklung, der Prosperität, der sozialen Konsolidierung, mögen – zumindest bei uns – dürre Ausdrucksfähigkeit, schmaler Wortschatz, stilistische Stümperei, Phrasenhaftigkeit, sogar monotone Redeweise oder Gestammel als lässliche politische Schwächen durchgehen.
In Krisen freilich werden die Bürger hellhöriger, lassen sich immer weniger mit beruhigenden Versicherungen, die morgen schon dementiert werden, oder mit abgedroschenen Formeln beschwichtigen, und so kann auch die Änderung eines Gesprächsordnungsparagrafen zu Recht in den Verdacht undemokratischer Machenschaft geraten. Zumal der Anschlag einem besonders bürgernahen rhetorischen Format galt, der Streit- oder Debattenrede.
Biblische Geschichte
Daher hat Helmut Schmidt die Kontroverse zum Wesenskern der Demokratie erklärt, und Joschka Fischer hat dasselbe etwas temperamentvoller seinen ehemaligen parlamentarischen Kollegen noch einmal nachgerufen: „In Deutschland meint man ja immer, im Parlament müsse man sich vor allem gut benehmen. Pfeifendeckel! Da muss es krachen. Rhetorisch selbstverständlich nur.“ In der Herabsetzung, ja Diffamierung des engagierten Redekampfes haben sich Reste obrigkeitsstaatlichen Bewusstseins hartnäckig und allen umfänglich erhalten.
Der Redestreit ist zudem die beste Schule der Redekunst, das Gegenmittel gegen schwerfällige Verlautbarungsrhetorik und Bürokratie, in der unsere Demokratie zu ersticken droht. Das angebliche Schisma zwischen Reden und Handeln hat in der deutschen Geschichte unheilvoll gewirkt und dazu geführt, dass in unserem öffentlichen Leben rednerische Kultur lediglich als Randverzierung erscheint und die Bedingungen für die Ausbildung fehlen. Unsere Staatsmänner rekrutieren sich immer wieder aus dem gleichen Feld sprachwidriger Macher.
Dabei ist die Moral der biblische Geschichte so einfach wie schlagend: Reden ist Handeln, Wort und Tat lassen sich nicht trennen, der demokratische Staat ist die beste Probe aufs Exempel, die sich Bürger haben einfallen lassen. Staatsdiener, die keine Widerrede dulden möchten, Abgeordnete, die nicht auf rhetorischen Rang bedacht sind, weil sie irrigerweise glauben, der Rang ihres Denkens, ihrer Person sei davon unabhängig, und Politiker, die ständig von „alternativlosen“ Entscheidungen sprechen, haben schon die Demokratie verraten.
Gert Ueding, geboren 1942, wirkte als Nachfolger von Walter Jens auf dem Lehrstuhl für Rhetorik in Tübingen. Er ist Verfasser einschlägiger Standardwerke zur Redekunst
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