Die Qualität einer Wunde

Weltgeschichte als Weltgericht Eine Tagung des Einstein-Forums in Potsdam stellte die Frage nach »historischer Gerechtigkeit«

Geschichte, hat der Philosoph Paul Ricoeur einmal gesagt, sei eine »Erzählung des Vergangenen in der Gegenwart mit den Ansichten aus der Gegenwart«. Dieses doppelbödige Erzählmuster hat Vorteile und erklärt, warum der Topos der »historischen Gerechtigkeit« als hinreichend unbestimmte Legitimationsfigur im politischen Diskursen so beliebt ist: Er erlaubt uns mit Fug und Recht, Geschichte im Lichte der Gegenwartsinteressen zu deuten.

Die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs »historische Gerechtigkeit« jedoch speist sich auch aus dem Ende von Jalta und dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt. Der Durst nach Gerechtigkeit, der sich nach dem Geschichtsbruch von 1989 artikuliert, erscheint unstillbar. Prozesse gegen DDR-Staatsfunktionäre und Mauerschützen, Stasi-Aufarbeitung, Versöhnungskommissionen in Südafrika, die historischen Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, die Versuche, Diktatoren wie Pinochet oder Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien vor Gericht zu bringen, Entschuldigungsadressen an die australischen Aborigines und Zwangsarbeiterentschädigung: bei Staatsverbrechen, institutionellem Unrecht und jahrelanger Unterdrückung wird »historische Gerechtigkeit« angemahnt. Fast möchte man meinen, es bewahrheite sich Schillers Diktum von der »Weltgeschichte als dem Weltgerichte«. Doch beim näheren Hinsehen, wie auf einer internationalen Tagung des Einstein-Forums vergangene Woche, zeigt sich, wie schwierig und abgründig es sich mit solcher Art von Gerechtigkeit verhält.

David Heyd, Philosoph aus Jerusalem, diskutierte die Probleme, die sich ergeben, wenn Gerechtigkeit retrospektiv bezogen auf vergangenes Unrecht hergestellt werden soll. Historisches Unrecht habe, da es nicht ungeschehen gemacht werden kann, die Qualität einer Wunde. Betroffen vom Unrecht sei der Kern dessen, was die Gesellschaft als zustimmungsfähigen Solidarverband ausmacht, was den Staat und seine Gesetze legitimiert. Der Verstoß gegen den Leitgedanken der Wechselseitigkeit, der ausgleichenden Gerechtigkeit, oder das Gebot, Schuldige zu bestrafen, verletze das moralische Empfinden der Gesellschaft.

Für Heyd - der sich auf Auschwitz und Südafrika als Beispiele bezog - ist historische Gerechtigkeit in erster Linie ein »sozialpsychologischer Heilungsprozess«, bei dem allerdings mit zwei konfligierenden Anforderungen umzugehen ist. Zum einen soll nämlich, wie bei den südafrikanischen Versöhnungskomitees, »die Wunde endgültig verschwinden«, um die Gesellschaft nicht in Hass, Rachsucht und im Bürgerkrieg enden zu lassen. Auf der anderen Seite soll sich aber in der korrigierenden Bewertung und Behandlung vergangenen Unrechts ein nachdrückliches moralisches Urteil manifestieren, das gerade gegen die Vergessenstendenzen des Lebensalltags revoltiert und die Wunde offen hält.

Der Begriff »historische Gerechtigkeit« hat jedoch nicht nur eine sozialmoralische Dimension. Die demokratischen Staaten sind - schon um etwa im Systemwechsel die eigene Legitimität zu sichern - gehalten, historischer Ungerechtigkeit mit strafrechtlicher Verfolgung und zivilrechtlicher Kompensation zu begegnen. Die materiellen und politischen Interessen verwickeln sich zu einem Knäuel juristischer Spitzfindigkeiten und Aporien: Wer hat Entschädigungsansprüche gegen wen? Wer soll für vergangenes Unrecht zur Verantwortung gezogen werden? Lassen sich Einzelne verantwortlich machen oder hatte das Unrecht systemischen Charakter?

Die meisten angelsächsischen Theoretiker stellen die Frage, wie historisches Unrecht über Generationen fortwirkt und wie die Schäden und Benachteiligungen der Nachgeboren zu bemessen seien. Am Beispiel eines Nachkommens von Sklaven erörterte der Sozialphilosoph George Seher solche Ansprüche. Unterstellt, das Unrecht hätte es nicht gegeben, wie wäre die ›normale‹ Entwicklungslinie des Menschen ohne diese Benachteiligungen verlaufen? Wäre der Nachkomme ohne Sklaverei überhaupt gezeugt worden? Lassen sich Identitätslinien konstruieren oder nicht? Solche, nicht selten scholastisch anmutenden Argumentationsfiguren erhalten ihren Sinn vor dem Hintergrund des US-Rechts, das Sammelklagen von Opfergruppen kennt. Hier wird durchgespielt, ob sich plausible Kompensationsforderungen konstruieren lassen, die von Restitutionsansprüchen über öffentliche Anerkennung bis hin zu positiver Diskriminierung reichen können. Mit der ethisch-politischen Dimension historischer Gerechtigkeit sind solche künstlichen »Was-wäre-Wenn?«-Szenarien indes nur schwer zu vermitteln.

Der Berliner Soziologe Claus Offe zog eine skeptische Bilanz der juristischen Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Das zugrundeliegende Totalitarismus-Konzept sei ungeeignet, den poststalinistischen Sozialismus adäquat zu beschreiben. Auffällig fand Offe auch die Diskrepanz zwischen der hohen Zahl von Ermittlungsverfahren und den relativ wenigen Verurteilungen. Wie eng oder weit der strafrechtliche Wahrnehmungsrahmen aufgezogen wird, bestimme sich aus den politischen Kräfteverhältnissen und Interessenlagen. So wurde nach 1945 die NSDAP verboten, aber ihr Personal übernommen, während nach 1989 die SED erlaubt blieb, aber ihr Personal seine Positionen in Staat und Gesellschaft verlor. Das gegensätzliche Bild hänge auch mit dem Nachkriegsbedarf nach Fachkräften und Spezialisten zusammen, der in vergleichbarer Weise 1989 nicht gegeben war.

Sollen verbrecherische Diktatoren tunlichst vor einen nationalen oder vor einen internationalen Gerichtshof gebracht werden? In der Diskussion zwischen den Rechtswissenschaftlern Jaime Malamud Goti und Christian Tomuschat ging es um eben diese Frage. Goti, der persönlicher Berater des Argentinischen Präsidenten Alfonsin und Anwalt am Obersten Gerichtshof in Buenos Aires war, gibt dem nationalen Verfahren den Vorzug, weil dieses sich an das heimische Publikum wende und dem Aufbau der Demokratie diene. Voraussetzung dafür sei, dass das Gericht eine Autoritätsbasis im Volk habe, damit der Prozess das Land nicht spalte. Tomuschat, der Vorsitzender der UN-Wahrheitskommission in Guatemala war, plädierte für internationale Verfahren, besonders bei Großverbrechen, für die die nationalen Gerichte zu schwach seien. Hier hätte sich eine spannende Diskussion anschließen können, etwa entlang des Falls Pinochet, der ein ums andere Mal die nationale Justiz düpiert. Oder um den Fall Milos?evic´, auf dessen Überstellung ans Haager Tribunal der Schatten eines politischen Geschäfts und das Austricksen der jugoslawischen Verfassung liegt. Doch beide Juristen blieben weitgehend abstrakt und beschränkten sich auf ihr angestammtes Terrain. Ein schönes Beispiel für akademische Höflichkeit und standpunktgebundenes Denken - aber zu wenig angesichts der schwachen Stellung internationaler Gerichtsbarkeit, auf die sich doch die Hoffnungen auf historische Gerechtigkeit richten.

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