Pillepalle und Nazidreck

8. Mai Ein vergessenes und vergriffenes Gedicht von christian geissler (k) namens "maideutsch" passt zum heutigen Tag - oder vielleicht auch nicht.

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Es gibt ein interessantes Gedicht von dem hanseatischen Dichter Christian Geissler, entstanden etwa drei Jahre bevor er verstarb. Es ist von 2005 und trägt den Titel „maideutsch“.* Der Schriftsteller und revolutionäre Antifaschist Geissler, der nach dem Ende von DDR und Sowjetunion ein trotziges (k) hinter seinen Namen schrieb, um zu signalisieren, dass er Kommunist ist, geblieben ist, formulierte darin:

„zweitausendfünf

einer jungen deutschen

einem jungen deutschen

ist der achte mai simple

bloß pillepalle

hier und da gaga

gemeinhin schlicht nothing.“

Das Gedicht trug er am 6. Mai 2005 vor im Rahmen einer Dortmunder Veranstaltung „was ist das in deutschland – der achte mai?“.. Es endet mit den Zeilen:

„am achten mai zweitausendundfünf

denke ich an den achtzehnten mai zweiundvierzig.

wide ich meine dortmunder rede

: herbert baum**

elekroarbeiter bei siemens berlin

zwangsarbeiter

kommunist

jude:

baum hatte lust aufs leben.

Baum hatte lust auf leute

die sich befreien

aus globaler ausbeuterei.

Baum hatte lust gegen barbarei.

Baum hatte lust auf den achten mai fünfundvierzig.

Da hat man ihn deutsch

drei jahre vorher

aus seinem leben gejagt.“

In dem langen Gedicht erzählt Geissler außerdem, dass er zum 8. Mai den Auftrag vom NDR bekam für „Panorama“ einen Beitrag zum 25. Jahrestag des 8. Mai zu produzieren. Er interviewt dafür ausgiebig einen westdeutschen kommunistische Arbeiter, der monologisierend Fragen stellt, zu den deutschen Kriegsprofiteure, nennt „die pfaffen und offiziere/ die lehrer und meister/ die industrie aus den vätern“ - und endet: „wir sind ja in deren ausbeutungskriegen/ mitten noch drin“. In „Panorama“ sei der Beitrag nie gesendet worden, so Geissler, nur irgendwo „schlafspät“ mitternachts.

Nicht nur wegen des besonderen Tages heute ist das Gedicht von Geissler aktuell mit seiner Wut auf die Abwertungen des 8. Mai im „landserlall“ der Deutschen, denn

„einem alten deutschen

ist der deutsche achte mai

von anfang an

nicht geheuer.“

Und vielleicht ist auch jenen jungen und mittelalten Deutschen des Jahres 2022, die von Mardern, Panzerhaubitzen und schweren Waffen schwärmen – wie jene, die ihre „Panzerhaubitzen 2000“ als „die Faust, die zuschlägt“ bezeichnen – und in ihrem präzisen politischen Auftrag kaum einfach zu lallen scheinen, der 8. Mai nicht mehr geheuer. Doch es ist heutzutage noch komplizierter. Antifaschisten, die den Tag als Feier- und Gedenktag für jene, die die deutschen Barbarei schließlich stoppten, in Ehren halten wollen, sehen sich in einer doppelten Klemme: der neu-deutsche Schwere-Waffen-Lall der tarngrünen Hofreiters ist der bedrückende Feind im eigenen Land, um Liebknecht zu zitieren. Die pseudoantifaschistische Kriegslegitimation Putins, der die Ukraine „wie 1945“ besiegen will, ist der größere, wenn auch fernere belastende Brocken. Die Demagogie ist hier so ungeheuerlich, dass selbst in einem einzigen Satz vom Kremlchef vier handfeste Lügen stecken, wenn er sagt: „Heute kämpfen unsere Soldaten wie ihre Vorfahren Schulter an Schulter für die Befreiung ihrer Heimat vom Nazidreck.“

Geissler schreibt pessimistisch gestimmt:

„denn wen denn finden wir vor

nach sechzig jahren am achten mai deutsch?

die verwüstung der verkauften.

frei gaga

die hatz auf dem markt

vom blanken ins blöde.

harmlos die unappetitlichkeit.

blind.“

Harmlos ist am 8. Mai 2022 nichts mehr. Unappetitlichkeit, Hatz auf dem Markt und die Verwüstung der Verkauften grassieren aller Orten. Und es ist diese Abstraktion, die das Gedicht über seinen spezifischen Antifaschismus und seine Wut auf den deutschen Landserdiskurs zu 1945 hinaus interessant und aktuell hält. Der Text von Geissler kommt nicht ohne Grund am Ende recht pathetisch auf die „Wenigen“ zu sprechen.

„die vieltausend wenigen

gegen die vielfach tausend mal tausend

deutschen im hitlerhaufen

waren ja da!

waren wo?

waren allein.

waren im stich gelassen.

waren verraten.

von allen seiten.

von moskau bis memphis.

sie wollten

sich

uns

befreien zu sich selbst

uns zu uns

im aufbau des sozialismus.

sie sind gescheitert.

worden.

sie leben in meinem kopf.

nicht nur am achten mai.“

* Das Gedicht ist im 2020 erschienenen Lesebuch "Ein Boot in der Wüste" des Verbrecher Verlags enthalten.

** Ein Stadtrundgang auf der Spurensuche von den Geschwisterpaaren Eva und Hildegard Loewy und Hella und Alice Hirsch, die aktiv waren in der widerständischen Baum-Gruppe:

Fasanenstraße: Treffpunkt und Zeitpunkt: Sonntag, 29. Mai: 10-12 Uhr, Fasanenstraße
Anmeldung erforderlich:
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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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