Bloß nicht multidirektional?

Postkolonialismus Immer wieder geraten Denker der postcolonial theory in die Kritik, nicht zuletzt wegen ihrer Geschichtspolitik. Doch die Kritik ist ihrerseits systematisch blind

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Der Postkolonialismus hat den Universalismus, der den Befreiungskämpfen eingeschrieben war, als "große Erzählung" verdammt
Der Postkolonialismus hat den Universalismus, der den Befreiungskämpfen eingeschrieben war, als "große Erzählung" verdammt

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Die postcolonial studies müsste im Spannungsterrain zwischen zwei Feldern begriffen werden: Zum einen reflektiert diese akademische Disziplin eine Veränderung akademischer Lehre beziehungsweise des intellektuellen Zugriff auf die Welt, zum anderen ist sie als Bestandteil der wechselhaften Geschichte des linken Internationalismus zu begreifen. Beides überlappt sich. Mit dem Scheitern klassischer antikolonialer Befreiungskämpfe und der antiimperialistischen Bewegungen hat sich in der akademischen Linken die postkoloniale Theorie breit gemacht. Waren die (bundesdeutschen) Universitäten bis in die 80er Jahre in den Geisteswissenschaften von Marxismus und kritischer Psychoanalyse in der Nachfolge des 68er-Denkens geprägt, so fanden ab den späten 80er Jahren allerhand dekonstruktivistische Theorien zuweilen begeisterte Aufnahme in den Akademien. Vor allem Foucault fand eine breite Rezeption in den Universitäten. Als ich in den 90ern im soziologischen Seminar an der Freiburger Uni eine Arbeit zum Machtbegriff bei Marx und Foucault schrieb und mich letzterer nicht überzeugen konnte, kam mein Professor schmunzelnd auf mich zu und meinte: "Sie gehen ja genau den anderen Weg als alle anderen". Auch außeruniversitär war der Marxismus out: Die Entdeckung des und der "Subalternen" löste den Klassenbegriff ab. Den Antiimperialismus hatten viele spätestens mit dem Golfkrieg 1991 verabschiedet. Die Psychoanalyse wurde im radikalen Kontext subversiv von Deleuze/Guatteri zertrümmert ("Lasst uns alle Schizos sein!"). Der Feminismus schob nach, dass Freuds Blick und Analyse sexistisch und patriarchal seien. Der Triumph währte nicht lange: Schließlich wurde der Feminismus alter Prägung, der die Ansprüche des weiblichen Geschlechts gegen das männliche Geschlecht durchsetzen wollte, seinerseits durch dekonstruktivistische Performanztheorien abgelöst, in denen Geschlecht nur noch gelesender "Text" sei.

Der Postkolonialismus ging so weit nicht, aber er hat den Universalismus, der den nationalen Befreiungskämpfen oft eingeschrieben war, als "große Erzählung" verdammt und zuweilen sogar als "westliches Fortschrittsdenken" abstreifen wollen. Sicherlich entpuppten sich viele Befreiungsbewegungen an der Macht als Statthalter einer autoritären Modernisierung und mussten die nicht abreißenden Kämpfe von Bäuer*innen, Arbeiter*innen und anderen unteren Klassen wie kritischen Intellektuellen zuweilen blutig unterdrücken, weil diese ihr Modernisierungsprojekt gefährdeten. Doch im alten Antiimperialismus steckte zuweilen auch ein Universalismus, eine Aktivierung der sozialen und freiheitlichen Elemente der großen amerikanischen und französischen Revolutionen und ihr Geltendmachen für den globalen Süden. Die postkoloniale Theorie dahingegen verlor sich öfters in anti-aufklärischem Partikularismus und Relativismus, wo doch Frauenbefreiung von patriarchaler Unterdrückung und Klassenkampf um die Aneignung des Mehrwert und um die Verfügung über die Produktionsmittel ein universelles Programm – so universell wie das Kapital selbst – ist. Darauf macht Vivek Chibber in dem Buch "Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals" recht ausführlich und überzeugen aufmerksam.

Am frappierendsten jedoch ist die Tatsache, dass postkoloniale Theorie weitgehend im künstlerischen und akademischen Feld beheimatet ist. Drängt sie zu Aktivismus, gelten ihr Black Lives Matter oder der Boykott Israels als präferierte politische Felder. Hier hat sich der Begriff des Politischen und der politischen Macht verschoben, eine Art des moralisierenden Lobbyismus von unten ersetzt die alte "internationale Solidarität". Das heißt auch, dass der Leninismus, bestimmte Formen nationaler Befreiungsemphase und auch der "bewaffnete Kampf" genannte Terrorismus marginalisiert sind. Das könnte die frohe Botschaft sein, die Kehrseite lautet aber: basisgewerkschaftliche Bewegungen und Klassenkämpfe, die sich global in ihren Kampfformen und Inhalten nicht von den „westlichen“ Klassenkämpfen der vergangenen und aktuellen Epoche unterscheiden, geraten auch nicht mehr in den Blick.

Insofern ist die kritische Auseinandersetzung mit den postcolonial studies eine Frage nach der adäquateren Wirklichkeitswahrnehmung und nach einer umfassenden Befreiungstheorie; genauso übrigens wie eine kritische Auseinandersetzung mit anderen dekonstruktivistischen Theorien und Diskursen, die nicht selten und zufällig in identitätspolitischen Manövern und Positionierungen münden.

Nun gibt es allerdings eine Kritik des Postkolonialismus, die den Sack schlägt und den Esel meint. Auch hier gibt es eine Entsprechung: Dekonstruktivistische Ansätze im Bereich der gender studies verfallen zuweilen nicht der Kritik, weil sie schlicht akademische und identitätspolitische Spielereien sind, die Absurditäten nach sich ziehen, wenn sie aufs gesellschaftliche Feld drängen, sondern weil sie an der Geschlechterordnung selbst rütteln würden. Der Reaktionär schimpft über die Post-Theorien, weil er die aktuelle Gesellschaft lieber im Prä-Stadium sehen würde, sie also so haben will, wie sie bereits nicht mehr ist. Und der Reaktionär misst dem Ensemble der Post-Theorien eine gesellschaftliche Macht zur Auflösung realer Unterdrückung und Herrschaft zu, die diese Theorien eben gerade nicht besitzen.

Eine jüngste ins Reaktionäre kippende Schelte des Postkolonialismus liefert Thomas Schmid von der WELT. Stein des Anstoßes ist ihm ein gerade auf Deutsch veröffentlichtes Buch über "Multidirektionale Erinnerung" von Michael Rothberg, in dem es um das Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung geht. In seiner Besprechung wiederholt Schmid alle moralisierenden Anklagen gegen den Postkolonialismus, die auch in der Mbembe-Debatte zu vernehmen waren:

- Die europäische Geschichte werde auf Genozid und Gewalt verkürzt

- Die Singularität von Auschwitz werde bestritten

- Der eliminatorische Antisemitismus der Nazis werde auf ein pures Kolonialunternehmen reduziert oder solchen gleichgestellt.

Wenn "Europa" so dargestellt würde, müsste man Thomas Schmid recht geben, denn europäische Geschichte ist mehr als Kolonialismus, z.B. auch der leidenschaftliche Kampf gegen diesen durch Sozialist*innen, Kommunist*innen und andere Antikolonialist*innen. Rothberg ist aber weit davon entfernt, Europa eindimensional zu zeichnen und um seine Widerstandspotentiale zu verkürzen. So stutzt man ebenso, wenn Schmid neben dieser haltlosen Behauptung selbst konzediert, man müsse auch "einsehen (...) dass der Kolonialismus auch eine blutige und mörderische Unternehmung war". Die Formulierung "Einsehen" ist genauso verdächtig wie das eigentümlich platzierte "auch". Mit wem spricht er? Wer soll das "einsehen"? Er selbst? Und weshalb "auch"? Was war er denn noch, so könnte man fragen? Dass es eben Menschen gibt, die diese "Erkenntnis" nicht erst "einsehen" müssen, sondern dieses Wissen tradiert bekommen haben oder erfahren, scheint sich dem Publizisten zu entziehen, der mit solchen Sätzen dazu einlädt, dass man ihn als deutschen, europäischen, weißen Mann etikettiert, der seinen Tellerrand kaum zu überblicken vermag.

Die Singularitätsthese den Holocaust betreffend, die Schmid bemüht, kommt würdevoll daher, eignet sich für jede Bundespräsidentenrede, ist allerdings intellektuell, geschichtswissenschaftlich wie geschichtsphilosophisch tückisch. Denn schließlich ist jedes massenhafte Verbrechen singulär, die Kolonialverbrechen Belgiens im Kongo genauso wie der Archipel Gulag in der Sowjetunion, nicht nur aus der Optik der Opfer. Bereits Jürgen Habermas politizistische Singularitätsthese gegen Ernst Nolte im Historikerstreit 1986/87 folgte eher der Abwehr rechtskonservativer Relativierungen durch die schon ramponierte Totalitarismustheorie, als dass hier eine geschichtswissenschaftlich haltbare Erkenntnis geliefert worden wäre. Auch die Beschwörungen von Auschwitz als "schwarzem Loch des Verstehens“ (Dan Diner) erscheinen im Lichte neuerer Forschung zum Zusammenhang von imperialistischer Raum-Politik, Zwangsarbeit und Ernährungspolitik der Nazis in eher verdunkelndem, als aufklärerischem Licht. Natürlich bleibt der fabrikmäßig betriebene Massenmord an den Juden, organisiert durch die Deutschen, ein beispielloses Verbrechen, mit dem wir alle nicht fertig werden, wie Hannah Arendt es formulierte. Aber gerade sie war es, die den Vernichtungsantisemitismus im Zusammenhang mit Imperialismus und Kolonialismus diskutierte. Die Wurstigkeit, mit der heutige Publizist*innen gegen die einseitige Privilegierung des Rassismus durch Postkolonialist*innen den Antisemitismus und den Rassismus als voneinander geschiedene Größen erklären, um unter der Hand und sehr deutsch wiederum ersteres zu privilegieren, hätte Arendt wohl eher nicht an den Tag gelegt. Der eliminatorische Rasse-Antisemitismus der Nazis kombinierte ja gerade die Ideologie von "unwertem" und "minderwertigem" Leben, die dem Rassismus eingeschrieben ist, mit dem antisemitischen Erlösungsglauben, mit den Juden würde man alle Übel und alles Böse der modernen Welt zur Strecke und zum Verschwinden bringen können. Zur Praxis konnte dies erst werden im Zuge eines totalen und barbarisch entgrenzten Kriegs, der von Anfang an als Kolonialunternehmen zur Erlangung von "Lebensraum" geplant war.

Im übrigen ist die "Singularität des Holocaust" in der Gedenk- und Erinnerungspolitik bei weitem nicht so prinzipienfest veranschlagt, wie Schmid suggeriert. Es waren gerade die Post-68er, deren Milieu Thomas Schmid entstammt, die sich in der Frage des kriegerischen Interventionismus in Jugoslawien der Figur des "Kosovocaust" bedienten, die in neokonservativen Kreisen der USA ebenfalls zirkulierte. Der serbische Präsident Milosevic sollte - weit entfernt von Singularitäten - ein Wiedergänger Hitlers sein. Und es war niemand geringeres als Thomas Schmids ehemaliger linksradikaler Kampfgefährte Joschka Fischer, der 1999 als Außenminister mit "Nie wieder Auschwitz" den Kriegseintritt Deutschlands legitimierte und nebenbei Auschwitz als Symbol für deutschen Militarismus entsorgte.

Es ist schon interessant, dass die besonders lauten Postkolonialismusfeinde wie Thomas Schmid oder auch Alan Posener alte 68er-Antiimperialisten sind, aus denen nun ganz besondere Exemplare imperialer Lebensweise geworden sind. Die Mehrheit der zu Macht, Würden und Einfluss gekommenen 68er rebellierte zuerst gegen den Vietnamkrieg der USA, entdeckte dann auf dem Weg ihrer Anpassung an die bundesdeutschen Verhältnisse ganz demonstrativ die "deutsche Schuld" und den Antisemitismus (vornehmlich von links), wie Joschka Fischers Entebbe Erlebnis zeigt, um sich nun im Alter voller deutscher Überheblichkeit gegen Ansprüche außereuropäischer Diskutant*innen zu stellen.
Mbembe und die Postkolonialist*innen mögen in vielerlei Hinsicht theoretisch verquast sein, als globale Lobbyist*innen und intellektuelle Grenzträger aus dem globalen Süden stammender Interessen geht es ihnen immerhin noch um antikoloniale Ansprüche der Kongoles*innen oder die Befreiung der Palästinenser*innen von Okkupation.

Welchem Lobbyismus die Anti-Postkolonialist*innen wie Thomas Schmid oder auch die in jeder Hinsicht kenntnislose Tania Martini der taz sich verschrieben haben, wird in den Schlusssätzen ihrer Kritiken am Postkolonialismus deutlich. Martini empfiehlt ausgerechnet Rothberg "mehr Analyse statt mehr Empathie (zu) wagen", eine argumentfreie Geste, die den Leser*innen suggerieren soll, hier spreche eine kühle und analytisch beschlagene Publizistin, wobei alles von ihr davor Ausgebreitete von dem Gegenteil zeugt (allerdings auch nicht von Empathie getragen ist). Thomas Schmid wird erfreulicherweise deutlicher. Der von ihm kritisierte Rothberg beendet sein Buch mit der Aufforderung, dass diese Form der multiperspektivischen Erinnerung einen Kessel darstellen würde, "aus dem neue Visionen der Solidarität zu Gerechtigkeit hervorgehen müssen“. Schmid kommentiert: "Ja, er sagt tatsächlich: müssen, nicht können. Diesen Kessel Buntes sollten wir zurückweisen." Damit schlägt Schmid allerdings genau das aus, was aus der selbsteingezirkelten Identitätspolitik und einer moralisierenden diskursiven Hierarchisierung von Opfergruppen herausführen könnte: die Vernetzung und die Bündnisse derjenigen, die aktuell wie in der Vergangenheit von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt getroffen wurden, untereinander und mit denjenigen, die sich mit ihnen solidarisieren. Eine Rainbow Coalition, so könnte in den Sinn kommen, eine Erinnerung daran, dass der Chefankläger der Nürnberger Prozesse 1970 ein Buch mit dem Titel "Nuremberg and Vietnam" veröffentlichte. Schmids Perspektive ist nicht nur eine arrivierte von oben, sie ist auch jene des imperialen NATO-Westens, "Nuremberg and Serbia" lautet ihr geschichtspolitisches Motto, wenn sie die "Singularität" zur Seite schiebt. Ein anderes lässt sie nicht gelten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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