Wir wollen... Zero oder Alles?

Corona Vollständige Lockerung: liberaler Triumph oder Rückkehr zur kapitalistischen Normalität? Mit der Aussicht lohnt es sich, noch einmal auf die ZeroCovid-Kampagne zu blicken

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Abstand, Maske, Testen – das alles wird bald Vergangenheit. Ist das wirklich eine so gute Idee?
Abstand, Maske, Testen – das alles wird bald Vergangenheit. Ist das wirklich eine so gute Idee?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Ende 2020. Nach einem langen Moment der Schockstarre aufgrund der Corona-Pandemie, dem Verlust der Straßen, auf der sich „Corona-Rebellen“ und „Querdenker“ tummelten, und großer Verzweiflung, weil die Impfstrategie nicht den Erfolg brachte, den man sich von ihr erhoffte, fand ein großer Teil der Linken – von eher antiautoritären bis autoritären – zurück zu einer kampagnenartigen Praxis inmitten der Pandemie: Mit der Forderung nach einem solidarischen und konsequenten Lockdown, sollte der Pandemie radikal und links begegnet werden. Auch für den Profit notwenige, aber nicht lebensnotwendige Bereiche der Produktion sollten stillgelegt werden, die Klassenunterschiede staatlicherseits abgefedert werden. Über 100.000 Unterschriften konnten aquiriert werden, zuweilen kam die Forderung auch in offiziellen Medien vor, wurde dort allerdings gerne mit „No Covid“ verwechselt, einer Kampagne von Virologinnen und Virologen, die auf eine Unterdrückung bis Ausrottung des Virus setzten.

Kritik an dieser Strategie gab es allerdings auch zuhauf: so formulierte der österreichische Marxist Karl Reitter eine scharfe Absage an ZeroCovid. Am Ende seiner Auseinandersetzung mit der Strategie der Initiative schreibt er: „Wenn Linke ganz konkret radikale Forderungen stellen, so machen diese nur dann Sinn, wenn sie auch nur teilweise umgesetzt werden können. Nehmen wir als Beispiel die Forderung, die Wohnung darf keine Ware sein. Das ist ein großes Ziel, kaum im Kapitalismus umzusetzen. Aber eine Beschränkung von Mieten, eine Leerstandabgabe und ähnliche Maßnahmen sind keineswegs utopisch und können auch lokal umgesetzt werden. Bei ZeroCovid ist es anders, alles oder nichts. Wenn nur einzelne Länder, oder gar nur einzelne Gebiete die Null-Covid-Strategie umsetzen, dann ist wenig damit bewirkt. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus über den Globus ausbreitet, ist beeindruckend. Es bleibt also dabei: das Ziel einer gemeinsam handelnden EU bei gleichzeitiger radikaler Abschottung gegen den Rest der Welt ist realpolitisch naiv. Und was ist mit den Flüchtlingen, die unter Gefährdung ihres Lebens nach Europa wollen? Die auf Schlauchbooten nun auch als Virus-ÜberträgerInnen das freie Europa gefährden?“

Auch der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth kommt in seinem Buch „Blinde Passagiere“ zu einem kritischen Urteil der Wirkung jener linksgewerkschaftlichen Aufrufe, die sich ZeroCovid angeschlossen hatten: „Die Arbeiterinnen und Arbeiter folgten ihren Appellen jedoch nur halbherzig. Wahrscheinlich waren sie realistisch genug, um den verstärkten Schutz vor einem Erkrankungsrisiko gegen die mittelfristigen Folgen der anschließend zu erwartenden Massenerwerbslosigkeit abzuwägen. Zudem blieb ihnen nicht verborgen, dass die Gefahr nicht so sehr in den Betrieben, sondern weitaus stärker in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Massenunterkünften lauerte.“

Lernen, mit dem Virus zu leben?

Doch ist damit schon alles über die Initiative gesagt? Gerade angesichts des aktuellen Abrückens von Schutzmaßnahmen, der liberalen Feier von „Freiheit“ ab dem 20. März, aber auch den gesundheitspolitischen Warnungen, sollte ein angemessener Blick auf die ZeroCovid-Initiative gewagt werden.

Fast alle Länder setzen mittlerweile auf eine kontrollierte Durchseuchung. VertreterInnen der ZeroCovid-Kampagne plädieren weiterhin für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie. Und sie kritisieren: Wir sollen uns – geht es nach der offiziellen Politik – an die „Kollateralschäden“ gewöhnen, an die Toten und Long-Covid-Geschädigten. Wir sollen lernen, mit dem Virus zu leben. Dabei besteht die Gefahr immer neuer Mutationen. Warum die Kampagne wichtig ist und die Linke sich viel mehr mit den Ursachen von Pandemien und ihrer Bekämpfung beschäftigen sollte, wird in einer Online-Veranstaltung der Politikwissenschaftler Yaak Pabst erklären.

Frédéric Valin übte in einem Jungle World-Artikel unter dem Titel „Linke Träumereien“ Kritik an einem Teil der Linken: „Teile der Linken haben keinen Begriff von Behinderung – bestenfalls. Das rächt sich jetzt, sie sind nicht dazu in der Lage, die eugenischen Anteile der derzeitigen Politik zu erkennen. (…) Jene pseudoradikale Linke, die sich für nichts mehr interessiert als sich selbst, sollte sich die Frage stellen, ob sie die derzeitige Politik nicht noch eugenisch beziehungsweise sozialdarwinistisch überholt. (…) Die Linke könnte aufhören damit, zu sagen, von welchen besseren Möglichkeiten sie gelesen hat, und stattdessen welche schaffen oder es zumindest versuchen.“ In seinem Buch „Pflegeprotokolle“ zeigt Valin die Erfahrungen u.a. von AltenpflegerInnen, SozialarbeiterInnen, und HospizmitarbeiterInnen auf. Er arbeitet selbst als Pflegekraft.

Der Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien wird über die Geschichte der Arbeiter*innengesundheitsbewegung sprechen, an deren Aufbau er in den 1970er und 1980er Jahre in der Chemieindustrie beteiligt war. Welche Parallelen es zur Debatte um den Schutz vor Covid 19 gibt, wird Teil der Diskussion sein.

Die Veranstalter Peter Nowak, Anne Seeck, Gerhard Hanloser diskutieren am Montag, den 21. März 2022 um 19:00 Uhr Online-Veranstaltung mit den Gästen Yaak Pabst, Frédéric Valin und Wolfgang Hien

Die Veranstaltung dauert ca. 1 ½ – 2 Stunden, je nach Diskussionsbeteiligung. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Ihr könnt dem Meeting hier beitreten. https://us02web.zoom.us/j/87602755248?pwd=bmxvYUhMWEZsZ2d4c0VIWFJ1cmVxZz09 Meeting-ID: 876 0275 5248 Kenncode: 395813 Einwahl per Telefon: +49 69 7104 9922

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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