JDA not IHRA

Antisemitismus Eine gerade publizierte „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ soll den Antisemitismusbegriff schärfen und gegen pro-israelische Instrumentalisierung schützen.

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Die Moderatorin von Radio Eins hatte soeben den Song gelobt, sah sich aber bemüßigt nachzuschieben, dass es sich leider bei dem Sänger, Roger Waters, um einen Antisemiten handele. Ach ja? Tatsächlich ist der ehemalige Sänger der Pink Floyd ein menschenrechtlich bewegter Musiker, der sich der Boykott-Initiative gegen die Besatzungspolitik Israels verschrieben hat, die den Namen BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) trägt. Antisemitisch? Waters? Wer sich auskennt, winkt ab, schüttelt resigniert den Kopf oder wird wütend. Dieser Fall ist bloß eine Anekdote. Allerdings häuften sich die Berichte und Meldungen, wer alles plötzlich als „antisemitisch“ zu gelten habe. Man muss nicht erst den Fall Achille Mbembe bemühen, bekannt ist die Forderung Netanjahus an die deutsche Bundesregierung, zwölf zivilgesellschaftlichen Organisationen, parteinahen Stiftungen und bedeutenden Kultureinrichtungen wie den Berliner Filmfestspielen oder dem Jüdischen Museum in Berlin wegen antiisraelischer Umtriebe die staatlichen Subventionen zu streichen. Ein mittlerer Skandal erhob sich um die Verleihung des Göttinger Friedenspreises, die Attacken auf Mitarbeiterinnen und den Leiter des Jüdischen Museums in Berlin sind bekannt, ebenso der Druck auf die Jüdischen Filmfestspiele in Berlin (und Paris), bestimmte israelische Filme („Foxtrott“) nicht zu zeigen, die Aberkennung von Preisen und Auszeichnungen für den libanesisch-amerikanischen Künstler Walid Raad oder die britisch-pakistanische Schriftstellerin Kamila Shamsie nach Intervention der publizistischen Lobbygruppe „Ruhrbarone“, der nachträgliche Ausschluss von Ehrengästen des Evangelischen Kirchentags. Zuletzt rückte eine Gruppe jüdischer Israelis um die Künstlerin Yehudith Yinhar in den Verdacht, „Antisemitismus“ zu betreiben, als sie sich an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin kritisch mit der nationalen Ideologie des Zionismus und seinen Wirkungen beschäftigen wollte. Bundesbeauftragte für Antisemitismus, besonders Twitter-affine Grünen-Politiker, eifrige Aktivist*innen der „antideutschen Szene“ versuchten die Veranstaltung des in ihren Augen „Haufen BDS-Supporter“ zu verhindern. Das American Jewish Comittee zog nach und erklärt, für die „Delegitimierung Israels“ dürften keine Steuergelder verwendet werden. Schließlich meldete sich die israelische Botschaft zu Wort: „Die von der Bundesregierung angenommene Arbeitsdefinition der IHRA für Antisemitismus nennt als Beispiel 'das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung'. Diese Veranstaltungsreihe fällt unter diese Definition und sollte als das erkannt werden, was sie ist: antizionistisch und antisemitisch.“

Ist also eine falsche Definition von Antisemitismus an all diesen Missverständnissen und Fehlurteilen schuld? Diese merkwürdig israelfreundliche „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ stammt von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und wurde 2016 verabschiedet. Die IHRA-Definition ist alles, bloß keine Definition. In beliebig interpretierbarer Unbestimmtheit behauptet sie: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Darüber hinaus enthält die IHRA-Definition elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies stellt eine recht interessante - oder besser interessierte - Schwerpunktsetzung auf den komplizierten Schauplatz des Nahostkonflikts dar. Tatsächlich hatte sich mit der Annahme und Verbreitung der „IHRA-Definition“ in immer mehr Bereichen ein Instrumentarium durchgesetzt, das quasi-rechtliche Wirkung entfaltete. Hinsichtlich seiner Legitimität war die Arbeitsdefinition von Anfang an höchst umstritten. Selbst deren Urheber, der Direktor des Bard Center for the Study of Hate, Kenneth Stern, hatte gewarnt, dass eine Fehlinterpretation dieser Definition rechten Organisationen ermöglichen könnte, sie zu einer Waffe, nicht nur gegen Palästinenser, sondern gegen die „Wissenschafts- und Meinungsfreiheit“ generell zu machen. So kam es denn auch: Die Arbeitsdefinition war von Anfang an ein unlogisches Konstrukt und gerade keine Definition, weil in ihr keine Zuordnung des Phänomens zu einer übergeordneten Kategorie erfolgte und auf Nennung spezifizierender Merkmale verzichtet wurde. Doch um so besser bot sie eine Handhabe dafür, pro-palästinensischen Aktivist*innen in Deutschland die Konten zu sperren, ihnen Auftrittsverbote zu erteilen, Räume und Gelder zu streichen – unter Verweis auf einen angeblichen „Antisemitismus“. Die „Definition“ erschien so selbst als Politikum und war genuiner Bestandteil und zentrales Instrument der Kampagne gegen anti-israelische Umtriebe, die sie nur notgedrungen wissenschaftlich unterfütterte. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und die Publizistin Karin Wetterau hatte in ihren Büchern zum Thema die Installierung der IHRA-Definition und deren Folgen genauer nachgezeichnet: als Instrument der israelischen Rechten, kritische Stimmen zur israelischen Besatzungspolitik zum Schweigen zu bringen.

Nun könnte alles anders werden, denn mit der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA), die fünfzehn Leitlinien umfasst, liegt eine gegenläufige Bestimmung vor. Die Unterzeichner*innen sind renommierte Holocaust- und Antisemitismusforscher*innen sowie Vertreter*innen anderer berührter Fächer. Große Namen sind darunter wie Hanno Loewy, Tony Kushner, Amos Goldberg, Aleida Assman, Micha Brumlik, Ute Frevert, Stefanie Schüler-Springorum, Uffa Jensen, Werner Bergmann, Wolfgang Benz, Susan Neiman, Peter Schäfer, Eva Illouz, Moshe Zimmermann, Michael Rothberg oder Moshe Zuckermann. „Notwendig wurde dieser Deklaration, weil der Antisemitismusbegriff so entstellt worden ist, dass man ihn nur noch heteronom verwendet, mithin mit seiner entstellten Verwendung perfide Politik betreibt, die mit dem Kampf gegen Antisemitismus nichts mehr zu tun hat“, erklärt letzterer, seines Zeichens Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Die Unterzeichner*innen des JDA-Textes konstatieren, dass „wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina“ bestehe. Man habe sich die Aufgabe gestellt, „präzisere Formulierungen, eine bessere und ausgewogenere Darstellung und damit eine geringere nahostpolitische Instrumentalisierbarkeit“ anzubieten, wie er betont.

Die neue Deklaration ist unmissverständlich und stellt sich dem entgegen: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“ Damit ist dem im Mai 2019 gefällten Bundestagsbeschluss, welcher BDS-Aktivitäten erheblich einschränkte, der Boden entzogen.

Die Definition für Antisemitismus, die die Erklärung gibt, ist im Gegensatz zu der IHRA-Definition klar und deutlich: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. Die Unterzeichner*innen halten fest, dass Antisemitismus direkt oder indirekt, eindeutig oder verschlüsselt, also ‚kodiert‘ sein kann. Sie nennen dafür Beispiele, die besonders angesichts der zum Teil verschwörungsmythisch sich artikulierenden „Coronarebellen“-Proteste, eine hohe Aktualität und Brisanz haben. So liegt natürlich Antisemitismus vor, wenn behauptet werde, „die Rothschilds kontrollieren die Welt“ oder von einer angeblichen Macht „der Juden“ über Banken und die internationale Finanzwelt räsoniert wird. Ergänzend wird auf Verschwörungserzählungen über „die Juden“ verwiesen, die hinter der Covid-19-Pandemie stecken würden oder Behauptungen, wonach George Soros Black Lives Matter oder die Antifa unterstützen würde, um eine geheime jüdische Agenda voranzutreiben.

Die Unterzeichner*innen stellen auch heraus, dass in ähnlicher Weise die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine kodierte Ausdrucksweise sein könnte, „Jüd:innen zu stigmatisieren“. Sie halten aber auch fest: „In vielen Fällen ist die Identifizierung von kodierter Sprache eine Frage des jeweiligen Kontextes und der Abwägung“. Pro-israelische Akteur*innen, die die Motivation von Pro-Palästina-Aktivist*innen als „antisemitisch“ empfinden oder denunzieren wollen, stellen gelegentlich deren Aktivismus als „obsessiv“ dar. Diese Vorhaltung pariert die Deklaration dadurch, dass sie festhält, dass politische Äußerungen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein müssen, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkommen geschützt zu sein. Auch übertriebene Kritik sei nicht per se antisemitisch. „Im Allgemeinen“, so schreiben die Verfasser*innen, „ist die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.“

Fünf Beispiele werden genannt, die in Hinsicht auf Aussagen zu Israel als antisemitisch zu werten sind: Die Übertragung klassischer antisemitischer Stereotype, die mit Phantasmen einer jüdischen geheimer Macht, umfassenden Kontrolle und Verschwörung verbunden sind, sowie das Ineinssetzen von Juden und Jüdinnen mit Israel und dessen Staatshandeln. Die Erklärung stellt klar, dass eine „faktenbasierte Kritik an Israel als Staat“ nicht per se antisemitisch ist, auch nicht der umstrittene Vergleich mit „Siedlerkolonialismus oder Apartheid“. Damit wird einer international verbreiteten Kritik an der Staatsgründung Israels und deren Hauptlegitimation, dem Zionismus, ebenfalls nicht an sich die Legitimation entzogen. Ein in Deutschland unter Umständen als anstößig empfundener Schritt, aber Deutschland mit seiner „Staatsräson“ ist nicht die Welt und die JDA-Erklärung hat einen globalen Referenzraum vor Augen. Denn an der verheerenden alten IHRA-Definition mit ihrer pro-israelischen Schlagseite orientieren sich mittlerweile über 150 staatliche wie para-staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure. Und sie stellt eine massive Behinderung menschenrechtlicher universalistischer Arbeit da, wenn sogar Amnesty International in den Verdacht gerät, „antisemitisch“ zu agieren.

Insofern ist die Anekdote über den „Antisemiten“ Waters ärgerlich, aber eher eine Petitesse.

Ob eine Rückkehr zu vernünftiger Kommunikation und dem redlichen Ringen um korrekte und angemessene Begriffe mit dieser neuen Definition gelingen mag, steht in den Sternen. Denn längst geht es ja nicht mehr um wissenschaftliches Ringen um die korrektere Wahrnehmung eines klar umrissenen Gegenstands. Es geht um Politik und staatliche Interessensverfolgung. Und hier wird gelogen, betrogen, verdreht und denunziert. Dies nicht in aller Klarheit herausgestellt zu haben, mag das Manko dieses großen Bündnisses sein, das die neue Definition der Jerusalemer Erklärung auf den Weg gebracht hat. Ansonsten kann man froh sein, dass nun auf Wahrheitsfähigkeit und Wahrhaftigkeit gedrungen wird und etwas Ordnung in einen entgrenzten Diskurs gebracht wird, dem sich ja nicht nur israelischen Besatzungsapologet*innen verschrieben haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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