Die Fälscherwerkstätten der Berliner Republik

Diskussion Zum aktuellen „Historikerstreit“ um Dirk Moses, dem der Begriff des „Schuldkults“ in den Mund gelegt wird

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Mitunter läuft das Feuilleton in der Debatte etwas zu heiß
Mitunter läuft das Feuilleton in der Debatte etwas zu heiß

Foto: Privat

Für ein Sommerlochthema ist es zu wichtig: der sogenannte zweite Historikerstreit um den australischen Genozid-Forscher Dirk Moses. Schließlich geht es um nichts weniger als um die Frage, welchen Stellenwert Auschwitz erinnerungspolitisch einnehmen kann und soll, welche Lehren aus dem beispiellosen Massenverbrechen gezogen werden sollen. Dennoch verhalten sich einige Protagonisten als hätte ihnen die Sonne zu lange auf den Kopf gebrannt. So behauptet taz-Chefredakteur Jan Feddersen in einer Diskussionsrunde mit Aleida Assmann und Meron Mendel über multidirektionales Erzählen, dass post-koloniale Forscher „ärmlichst an historischer Expertise“ ausgerüstet seien – und trägt diese Anklage nach einer Stunde eines Gesprächs vor, das gänzlich frei war von jeder historisch unterlegten Argumentation. Bei der Live-Veranstaltung dieses taz-Talk am 12. Juli behauptete er noch ungerührt von Selbstzweifeln, Dirk Moses beklage wie die Rechten um den AfD-Politiker Höcke einen „Schuldkult“ in Deutschland. Diese Passage ist nun in der youtube-Aufzeichnung herausgeschnitten.

Ist dem taz-Redakteur hier etwas unterlaufen, was einem journalistischen Praktikanten der auch im Medienbereich zusammengesparten Berliner Republik hätte passieren können? Er hatte einfach Verlautbarungen anderer Presseorgane weitergetragen ohne selbst zu recherchieren. Die Welt hatte am 12.6. den Reigen eröffnet, die FAZ folgte einen Tag später und schließlich wanderte der von Moses nie gesagte Begriff Ende Juni zur ZEIT. Der allererste, der Moses in die Sieferle-Eckerle schob, also in die rechte Ecke der Deutschnationalen um den Antaois-Verlag auf dem ehemaligen Rittergut Schnellroda, war interessanterweise ausgerechnet Patrick Bahners von der FAZ in einem Tweet vom 23. Mai 2021: „'Katechismus', 'Heilsgeschichte', 'heiliges Trauma', 'sakrale Erlösungsfunktion' - oder kurz gesagt: Schuldkult. Versatzstücke deutsch-nationalistischer Kritik der Vergangenheitsbewältigung, multidirektional-universalistisch gewendet. Sieferle von links.“ Der Deutschlandfunk hatte immerhin, offensichtlich nach äußerer Intervention, seinen Beitrag gelöscht, der ebenfalls dem deutsch-australischen Forscher die neu-rechte Rede von der „Schuldkult“ andichtete. Ob das Nachrichtenportal perlentaucher von Thierry Chervel, das sich eindeutig gegen Moses positionierte und ebenfalls die Schuldkult-Behauptung kolportierte, davon distanzieren wird, ist offen. Wie auch immer: Der ideologische Eifer, der Fälschungen in Kauf nimmt, um den Gegner zu diskreditieren, ist erklärungsbedürftig.

Moses hatte in polemischem Ton einen neuen deutschen Katechismus in der Gedenkpolitik ausgemacht, der den Holocaust verabsolutiere, so der Historiker in dem Schweizer Onlinemagazin „Geschichte der Gegenwart“ am 23. Mai 2021. Der Erinnerung an den Massenmord an den Juden komme in der offiziellen Gedenkpolitik des deutschen Staates eine sakrale Rolle zu, man schotte sich gegen Ansprüche kolonialer Gewaltopfer ab und positioniere sich in einer Art Identitätspolitik von oben, die als „Staatsräson“ ausgegeben wird, bedingungslos an der Seite Israels, wobei man antizionistische und israelkritische Stimmen mit dem Antisemitismusvorwurf mundtot mache. So weit, so diskussionswürdig. Moses verdichtet in seinem Essay einige Beobachtungen, die unterlegt sind von seiner Forschung sowohl zu genozidalen Massenverbrechen, wie auch zur deutschen Erinnerungspolitik. 2007 erschien von ihm „German Intellectuals and the Nazi Past“ bei Cambridge University Press, darin macht er einen Kampf zweiter Gedenklinien aus: jene der „Non-German Germans“, welche sich dafür aussprechen, die deutsche Gedenkkultur zu transformieren: Der Holocaust solle nicht mehr minimiert, beschwiegen oder die Verstrickungen der Deutschen gar negiert werden. Man solle sich endlich der stigmatisierenden Vergangenheit stellen. Habermas wird von Moses als ein solcher Protagonist dieser erinnerungspolitischen Linie begriffen. Und es gäbe jene „German Germans“, die sich dieser Transformation widersetzten, wie Martin Walser und andere, die die Herausbildung einer „Non-German German memory culture“ kritisieren. Mit der AfD ist dieses Milieu nun in einer Partei situiert, die „Schuld“ negiere, könnte man von heute aus ergänzen. Allerdings stemme sich dieses Erinnerung verweigernde Milieu – folgt man Moses von 2007 – wenig erfolgreich einem Generationenwechsel entgegen. In seiner damaligen Veröffentlichung schreibt er, dass das Berliner Holocaustdenkmal weniger zu einem Stigma wurde, sondern zu einer lukrativen Touristenattraktion, einem Ort der Indifferenz oder einem schlichten Spielplatz. Er zitierte den britischen Primierminister Tony Blair, der während er Weltmeisterschaft 2006 erklärte, dass die alten Klischees ersetzt wurden durch ein positives und besseres Image Deutschlands. Überall werde die Gedenkpolitik Deutschlands gelobt. Gleichzeitig machte Moses darauf aufmerksam, dass sich Stimmen erheben, die Deutschlands Unwille, sich militärisch im „War on terror“ zu engagieren, als Elemente einer unaufgearbeiteten Vergangenheit skandalisieren. Paradoxerweise, so schrieb der australische Forscher, wurde der Pazifismus in Deutschland als Zeichen angesehen, dass hier die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde. Man denke nur an die Antisemitismus- und Antiamerikanismusvorhaltungen an die Friedensbewegung. Moses verweist dabei auf Autoren wie den in Deutschland damals randständig, heute begeistert rezipierten Jeffrey Herf. Doch Moses beendete dieses 2007er-Buch über die deutschen Intellektuellen und die Nazi-Vergangenheit voller Optimismus: „Jüngere Deutsche sind nicht mehr anfällig für solche Versuche, das deutsche Stigma der Vergangenheit im Dienste einer parteiischen Geopolitik zu aktivieren. Die Leute, die in Deutschland leben, werden ihre Identitätsprobleme entlang der Achse von Ethnizität und Einwanderung aushandeln, so wie alle anderen Staaten auch.“ Der Veröffentlichung von Moses wurde im renommierten fachhistorischen Rezensionsjournal H-Soz-Kult attestiert, dass sie „durch ihre Urteilssicherheit und ihr ausgleichendes Temperament besticht“. Das ist vierzehn Jahre her. Ein Jahr später, am 18. März 2008, hielt Angela Merkel vor dem israelischen Parlament die bekannte Staatsräson-Rede und einige Jahre später erfolgte der Bundestagsbeschluss zum Verbot von besatzungskritischen BDS-Aktivitäten in Deutschland. Junge Akademikerinnen mit arabisch klingenden Namen werden bei universitären Vorstellungsgesprächen zuweilen gefragt, wie sie zu der Israel-Boykottbewegung stünden. Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik nannte diese Praxis einen neue Form des McCarthyismus. Moses Polemik über den deutschen Katechismus ist vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehbar.

Zumal das zweite große Forschungsfeld von Moses, die vergleichende Genozidforschung dafür spricht, dass Etiketten wie „Niemandsland des Verstehens“ oder „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) für den Holocaust wenig Ertrag haben, wo die deutsche Massenvernichtung der europäischen Juden doch eingewoben war in ein koloniales und imperialistisches Unternehmen zur Gewinnung von Raum und Ressourcen. In Moses jüngstem Buch „The Problems of Genocide“ wird die Singularität des Holocaust keineswegs bestritten, aber die Orientierung des Genozid-Begriffs und -Konzepts am Holocaust als „Archetyp“ von Massenverbrechen wird von dem seit 2020 an der University of North Carolina at Chapel Hill lehrenden Professor in Frage gestellt. Denn daraus entstehe eine strikte Hierarchie des Genozid-Begriffs. Natürlich rücken mit dieser Kritik massenhafte Verbrechen, die sich im globalen Süden ereigneten, in den Fokus der Betrachtung. Nach Moses ist das Phantasma „permanenter Sicherheit“ verbindendes Element von Genoziden. Auch ferngesteuerte Drohnenangriffe und Embargos von lebenswichtigen Gütern gegenüber als „böse“ stigmatisierten Staaten verfallen der Kritik von Moses. Damit erscheint der Westen und seine Kriegspolitik nicht im so hellen Lichte, wie die neuen Nato-Apologeten es gerne hätten. Interessanterweise rekrutieren sich diese Lautsprecher des Westens aus dem Milieu der ex-linken, nun prowestlichen Liberalen. Jürgen Habermas irrte als er während des klassischen Historikerstreits annahm, der deutsche Revisionist und Totalitarismustheoretiker Ernst Nolte und seine Fürsprecher aus dem konservativen Lager verfolgten eine „Nato-Philosophie“. Die Nato-Bellizisten kommen nicht erst seit dem Kosovokrieg von 1999 vornehmlich aus dem ehemals linken Lager. Als der grüne Außenminister Joschka Fischer den deutschen Kriegseintritt gegen Serbien mit Auschwitz legitimierte, hörte man von den heutigen linksliberalen Streitern für die „Einzigartigkeit“ des Holocaust nicht viel der Gegenrede. Auch die FAZ, die sich heute mit Jürgen Kaube gegen die post-koloniale „Relativierung“ des Holocaust ausspricht, war damals voll des Holocaust-Vergleichs, wenn es um „die Serben“ ging. Es ist eine bittere Ironie, dass nun einige „Non-german germans“ von Alan Posener bis hin zu den unsäglichen Antideutschen über Moses herfallen, indem sie ihn unredlich zu einem Stichwortgeber der „German Germans“, also der Noltes und AfDler erklären. Die Art, in der sie es tun, ist allerdings verbüffend, denn sie sprengt selbst die Regeln der noch verhandelbaren Polemik.

Bei einem Teil jener, die nun der Logik des Gerüchts folgen und selbstfabrizierten Mist um sich werfen, in der Hoffnung, beim anderen bleibe was kleben, während man selbst strahlend da zu stehen meint, ist das Motiv recht einfach: Er bewegt sich auf einer schlichten Matrix, wonach Israelunterstützung und antifaschistischer Abwehrkampf die einzig angemessene politische Haltung sei. Dafür steht ein Artikel der antideutschen Wochenzeitung Jungle World, eine der kleineren, aber aggressiven Fälscherwerkstätten der Berliner Republik. Dem australischen Historiker wurde hier angedichtet, über einen „Genozid an den Palästinensern in Gaza“ gesprochen zu haben. Am 20. Juli musste die Redaktion der Wochenzeitung im Onlinebereich des Artikels von Ali Tonguç Ertuğrul, Sabri Deniz Martin und Vojin Saša Vukadinović eine Richtigstellung mit den Worten präsentieren: „Dirk Moses hat die Formulierung 'Genozid gegen die Palästinenser in Gaza' nicht verwendet.“ Der gesamte Artikel allerdings ist gespickt mit Invektiven, die dazu dienen, dem Historiker seine akademische und politische Würde im Geiste des deutschen Provinzialismus zu nehmen. So wird Moses in die Kloake der Wiener Identitären um Martin Sellner, des AfD-Politikers Wolfgang Gedeon und sogar der Nazi-Skinhead-Gruppe „Böhse Onkelz“ gestoßen.

Desweiteren wird Moses vorgehalten, „wie Oswald Spengler“ von einer „unerbittlichen Allgewalt der Geschichte“ zu schwadronieren – was pittoresker Weise eher auf den „Schuldkult“-Stichwortgeber und FAZ-Redakteur Bahners zutrifft, der noch im April 2002 „unsere Vorfahren“ als Opfer einer immerwährenden „Gewalt des Geschichtsprozesses“ zeichnete, was diejenigen nicht verstünden, so Bahners in der FAZ, die „dem Deutschen Reich die Schuld am Ersten Weltkrieg und damit der Propaganda der Alliierten recht geben.“ Spricht hier Bahners oder bereits Sieferle? Es ist auf jeden Fall sehr "german german", folgt man der Terminologie Moses. So mag es auch individuelle psychobiographische Gründe des ein oder anderen geben, sich an Moses abzuarbeiten. Diese dürften, wenn auch anders gelagert als bei Bahners, ebenfalls bei ehemaligen Linken und 70er-Revolutionären wirken wie bei dem ehemaligen Sponti-Leninisten Thomas Schmid, der bereits dem Literaturwissenschaftler Michael Rothberg alles mögliche, nur nichts, was dieser über „Mulidirektionale Erinnerung“ geschrieben hatte, andichtete. Für ihn wie für den ehemaligen maoistischen K-Gruppen-Linken Alan Posener gilt, dass sie die militaristische Pro-Palästina-Position des „roten Jahrzehnts“ (Gerd Koenen) schlicht den neuen zivilgesellschaftlichen und gewaltfreien Akteuren um BDS andichten, um sie vehement ablehnen zu können. Haben sie auch eine Antwort auf die Frage, wie denn die einem Okkupationsregime unterliegenden Palästinenser ihre Interessen durchsetzen sollen, wenn nicht mittels einer gewaltfreien Boykottinitiative? Oder lautet die Antwort darauf schlicht: „Palästina, halt's Maul!“?

Hierin, in der Herabsetzung postkolonialer und antiimperialistischer Anliegen, ja ihrem rassistischen Ausschluss aus der eigenen Wahrnehmung, trifft sich allerdings die konservative FAZ als „Zeitung für Deutschland“ mit den exlinken Renegaten und den linksidentitären „Antideutschen“. Querfronten dieser Art gibt es schon länger. Antideutsche Jungle-Autoren führen gegen die BDS-Bewegung einen Feldzug, ohne davon irritiert zu sein, dass sie durch die pro-israelische AfD in aggressiver Denunziationspolitik noch überflügelt werden. Nun stemmen sie sich zusammen mit einem Teil der maßgeblichen Stichwortgeber der Berliner Republik gegen einen globalhistorischen australischen Historiker, der jenseits deutscher Staatsräson forscht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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