Katechismus in Aktion

Kommentar Gibt es auch eine andere Geschichte der documenta 15? Die deutschen Feuilletons verweisen gebetsmühlenartig auf den Antisemitismus. Das ist scheinheilig und wird der Kunstschau nicht gerecht

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Waren die Kritiker der documenta überhaupt in Kassel, fragt man sich, wenn man ihre Auslassungen liest?
Waren die Kritiker der documenta überhaupt in Kassel, fragt man sich, wenn man ihre Auslassungen liest?

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Die meisten Kommentatoren in der deutschen Presselandschaft konnten sich auf die immer gleichen Module verlassen: „Antisemitismus-Skandal“, „überfälliger Rücktritt“ und so weiter und so fort... Kaum ein Artikel, dessen Aussage irgendeine interessante Wendung hatte. Erschien ein solcher, musste ihm sofort vehement widersprochen werden. Für die anklagefreudigsten der documenta-Kritiker stellten die entdeckten antisemitischen Bildkomponenten auf einem indonesischen Großcomic gleich den Beweis dar, auf der internationalistisch gestimmten 15. documenta habe sich „der globale Süden“ – was immer das sein soll – mit seinem ihm ureigenen Antisemitismus ausagiert.

Tatsächlich agierte sich ein nordeuropäischer Chauvinismus von weißen, in der Regel älteren, gehäuft männlichen Medienschaffenden an der documenta aus. Eine Vielzahl der Reaktionen zeigte, dass das Urteil des verfemten australischen Historikers Dirk Moses, in Deutschland herrsche ein ungeschriebener „Katechismus“ vor, der um Antisemitismus und Israel-Solidarität kreise, neue Plausibilität erhält. Hatte nicht Moses geschrieben: "Empörung tritt an die Stelle von Nüchternheit, vermutlich noch potenziert durch die Fähigkeit der Sozialen Medien, politische Emotionen zu lenken und für diese Öffentlichkeit zu schaffen. Es scheint, als ob wir zunehmend zu Zeugen von nicht weniger als öffentlichen Exorzismen werden, die unter der Aufsicht selbsternannter 'Hohepriester' den 'Katechismus der Deutschen' bewachen."

Vorneweg im Zug der Inquisitoren bewegten sich die Autoren und Publizisten der Springerpresse. In der Welt steigerte sich Alan Posener von der Unterstellung, das aktuelle documenta-Team, sowie die „Initiative 5.3 Weltoffenheit“ und postkoloniale Aktivisten würden unisono „israelbezogenen Antisemitismus“ betreiben, zu der Vorhaltung, die ausstellenden Künstlern der documenta hofierten Clan- und Sippenstrukturen und begingen eine „Feier der Sippen-Romantik“. Auch hier wird deutlich: Rassismus ist ein Kavaliersdelikt, dem alle Zeilen in Kommentarspalten deutscher Zeitungen offenstehen. Auch der Großkünstler und Ästhetikprofessor Bazon Brock darf von „Schafsstall-Geblöke“ im Deutschlandfunk sprechen und beschwört die „westliche Idee“ der Autorität durch Autorenschaft, die im Kollektivismus des Südens verende. Dass er kurioserweise unter dem Oberbegriff des „Südens“ sowohl Erdogan, Putin und andere Despoten wie in gleicher Weise die antiherrschaftlichen Künstlerkollektive, die zu einer Großzahl in Kassel zu sehen waren, subsumiert, ist in der Presselandschaft 2022 ganz sicher kein „Skandal“. Auch kein Wunder ist es, dass die twitter-Bespucker, die im Geiste des deutschen Common Sense der großen Medien von der „antisemita“ witzelten, dabei die Vielzahl und eindeutige Schwerpunktsetzung von Roma-Kunst und Kunstwerken, die die Verfolgung und Diskriminierung von „Zigeunern“ zum Thema machten, natürlich ignorieren müssen. Die inhaltlich wie geschichtliche Nähe des Antiziganismus zum Antisemitismus ist zwar bekannt, fällt aber aus dem deutschen Katechismus und seinem Moralregime raus.

Waren die Kritiker der documenta überhaupt in Kassel, fragt man sich, wenn man ihre Auslassungen liest. Immerhin hat sich die FAZ-Feuilleton-Redaktion auf den Weg gemacht und in erhellenden kleinen Beschreibungen ein weit realistischeres Bild von der documenta geliefert als die ewige Rede vom Antisemitismus-Skandal in Kassel. Das gilt offensichtlich nicht für alle.

Besucher betrachten eine Installation des Kollektivs „Wajukuu Art Project" aus Kenia

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Die wortgewaltigen Anklagen, die der Kritische Theoretiker Gerhard Schweppenhäuser dem Neuen Deutschland lieferte, das eben auch – wie die dazugehörige Partei – immer auf der moralisch guten Mainstreamseite stehen mag, schienen in der fernen Schreibstube entstanden zu sein. Nach Schweppenhäuser müsse der „Antiamerikanismus als ästhetischer Sozialismus der dummen Kerls“ gelten. Aber wo hat er diesen in der documenta ausgemacht? Bei jenen Künstlern, die auf die Verfolgung kubanischer Oppositioneller aufmerksam machten? Man mag Schweppenhäusers Urteil teilen, wonach der „Antisemitismus die Kapitalismuskritik des dummen Kerls“ ist, wie nicht umsonst ein marxistischer Sozialdemokrat einmal festhielt. Und tatsächlich sind Werke, „die aus diesem Geist entstehen (...) widerwärtige politische Propaganda, eine ästhetische Bankrotterklärung“, wie Schweppenhäuser ebenfalls und an anderer Stelle im ND schrieb. Sein politisches Urteil ist allerdings alles andere als nachvollziehbar: „Folie der sogenannten Israel-Kritik ist der Antisemitismus. Er äußert sich als Ressentiment gegen rationale Tauschverhältnisse im Kapitalismus. Diese haben einen historischen Gewaltkern, nämlich die Trennung der Produzierenden von ihren Produktionsmitteln. Doch der wird mit dem Blick des Ressentiments nicht aufgedeckt. Im Gegenteil: Dort artikuliert sich seinerseits irrationale Gewalt. Juden werden als Verkörperungen bürgerlicher Tauschverhältnisse gelesen; als Zielscheibe für Aversionen gegen deren zivilisatorische Errungenschaften, ohne die es, historisch betrachtet, keine liberale Demokratie gäbe.“ Könnte es nicht ganz anders sein? Nämlich so: Folie der Kritik an Israel, die auch von der Kampagne BDS formuliert wird, zu deren Israel-Boykottpraxis sich von 1000 in Kassler versammelten Künstlern etwa 80 bekannten, ist das Aushebeln von menschenrechlichen und demokratischen Standards aufgrund der israelischen Okkupationspraxis in diesen Gebieten. Thema vieler Exponate in der aktuellen documenta ist nicht einmal der Israel-Palästina-Konflikt, schon eher die nachwievor anhaltende Trennung der Produzierenden von ihren Produktionsmitteln.

Viele Werke, die Schweppenhäuser betrachten sollte, zeigen in irritierender Weise, dass es mit den „rationalen Tauschverhältnissen“ im Kapitalismus, die Schweppenhäuser recht affirmativ beschwört, nicht weit her ist. Darauf wird erinnernd in Installationen zum Frauenkampf in Algerien gegen die alte europäische Kolonialmacht Frankreich hingeweisen. Kämpfe der Aborigines werden dokumentieren und das deutsche Publikum mit der siedlerkolonialen Geschichte Australiens vertraut gemacht. Logischerweise spielen hier herrschaftliche Strukturen, Dominanz- und vermachtete soziale Verhältnisse eine Rolle, die konfrontiert sind mit Gegenbewegungen, Widerstandsnetzwerken, eigenen Sprach- und Symbolformen. Bilder von Juden als „Verkörperung bürgerlicher Tauschverhältnisse“ spielten in Kassel keine Rolle, logischerweise.

Auch die beiden Skandalbildchen des Murals weisen in eine andere Richtung: Einmal sieht man ein Militärschwein mit Mossad-Helm, was noch unter propagandistischer Geschmacklosigkeit abzuhandeln wäre, zum anderen sieht man einen orthodoxen Juden mit Schläfenlocken, der vampirhaft erscheint und SS-Runen trägt. Dies ist tatsächlich in seiner Judenfeindschaft widerwärtig und skandalös. Weltweit gehören orthodoxe Juden eher zu den Proletarisierten und Beleidigten; aufgrund ihres erkennbaren Jude-Seins sind sie täglich antisemitischen Anfeindungen und abschätzigen Blicken ausgeliefert. Ihnen haftet auch das Odium des „Unmodernen“ und „Unzivilisierten“ an. Insofern die documenta allgemeine westliche Überheblichkeit unterlaufen und das Nicht-Identische, das sich den modernen kapitalistischen Tauschverhältnissen Widersetzende feiern wollte, hat sie mit diesem kleinen Scheissbild gegen ihren eigenen Anspruch verstoßen. In einer aktuellen Analyse hat der Historiker Dirk Moses diesen indonesischen Antisemitismus auf die koloniale und postkoloniale Situation zurückgeführt, in der die Juden zum Sündenbock erklärt werden, und extrapoliert, dass im modernen Indonesien die chinesische Minderheit ein klassisches Vorurteil trifft, das in der europäischen Geschichte den Antisemitismus geprägt hat: Zwischenhändlergruppe zu sein, die Zirkulationssphäre zu okkupieren.

Der Künstler Raychel Carrion steht in seiner politischen Installation über Kuba in der documenta-Halle

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Wenn Schweppenhäuser im Geiste seiner Vorbilder Siegfried Krakauer und Walter Benjamin mit offenen Augen über die documenta flaniert wäre, hätte er etliches entdecken könne, was seine wohlfeilen Bekundungen über Kunstautonomie und die Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft relativiert hätte, was mit Antisemitismus nicht das geringste zu tun hat. Das elitäre Naserümpfen über neue, außereuropäische Kunst gehört zur Kritischen Theorie seit sich Adorno am Jazz deutlich verhoben hat, der Gedanke und die Diskussion einer kollektiv-widerständischen Kunst und Kultur sind allerdings mit dem frühen Horkeimer, Brecht und Benjamin und Eisler durchaus zu haben.

Gäbe es noch ein linkes und interventionsfähiges Milieu, hätte es diese Erfahrungen mit den Künstlern aus dem „globalen Süden“ teilen können; es hätte im übrigen auch mit Leiter und dicken Edding-Stiften bewaffnet die ein, zwei antisemitischen Bildkomponenten des Banners von Taring Padi als solche markieren und übertaggen können. Zwei gezielte Tomatenwürfe auf das Bild, bevor es - angeleitet von höchster Stelle - beschämt-urdeutsch mit Tüchern verhangen wurde, hätte eine andere Praxis jenseits von Staatshandeln offenbart. Was hätte gegen ein Teach-In über Antisemitismus als Pseudo-Antikapitalismus und verdinglicht-verdrehte Herrschaftskritik zum Zweck der Herrschaftsstabilisierung vor dem Wandbild gesprochen? Selbst die recht konservative Jüdische Gemeinde Frankfurtes griff zu APO-mäßigen Mitteln wie einer Bühnenbesetzung als sie in den 80ern ein Theaterstück als antisemitisch empfand. Ein Konflikt auf Augenhöhe hätte vielleicht auch die arg naiv und oberflächlich daherredenden Künstler zu anderem Handeln und Sprechen motiviert.

Doch vom rechten Springer-Posener bis zum gefühlt linken ND-Schweppenhäuser waren Wirklichkeitabstinenz, Erfahrungsnegation, Dialog- und Kritikunfähigkeit und deutsche Moralprojektion in der Auseinandersetzung mit dem Hauptanliegen der documenta vorherrschend.

Alan Posener sprach schließlich davon, dass es nur einen Dialog auf Augenhöhe geben könne, „wenn wir unsere Staatsräson, unsere Werte, unsere geschichtlichen Erfahrungen und heutigen Interessen auch vertreten und nicht in vorauseilendem Gehorsam vor einem Popanz namens 'Globaler Süden' in die Knie gehen.“

Diesem deutschen Katechismus-Wir sollte tatsächlich die kalte Schulter gezeigt werden. Für fortschrittliche, linke Kräfte war die „Staatsräson“ noch nie ein positiver Bezugspunkt – Noam Chomskys Vietnamkriegskritik bei suhrkamp trug nicht zufällig diesen Titel („Aus Staatsraison“), und zwar in kritischer Absicht. Die geschichtlichen Erfahrungen eines „Negro Workers“, Titel einer kommunistischen Zeitschrift aus den späten 20er und 30er Jahren des International Trade Union Committee of Negro Workers, die als Ausstellungsexponat an prominenter Stelle in Kassel zu besichtigen ist, sind andere als jene, die Posener im Geiste der Springer-Verlagsleitlinien vor Augen hat und vertritt.

Einige anonym bleibende Künstler, die in Kassel ihre Werke ausstellen, haben nun eine um Verständnis und Empathie erbittende Stellungsnahme verfasst (dokumentiert im Anhang). Sie ist über weite Strecken naiv und freundlich. Und sie zeigt, dass im postkolonialen Milieu die Erkenntnis verloren gegangen ist, dass man es mit herrschenden Klassen, ihren Staatsapparaten und Organen zu tun hat. Sich als Herrschaftskritiker mit Trägern der Herrschaft ins Benehmen setzen zu wollen, erscheint lächerlich. Allerdings bewegen sich die Künstler mit ihren Auslassungen in angenehmer Weise auch jenseits des deutschen Katechismus. Sie fordern. Und sie präsentieren eine andere Geschichte der documenta 15: ein Geschichte der Anfeindung von Transmenschen, von Nicht-Deutschen, Nicht-Europäern, Nicht-Christen. Im besten Fall werden sie dafür Paternalismus ernten, im schlimmsten Fall Spott oder gar die neuerliche Vorhaltung, Teil einer antisemitischen Verschwörung des „globalen Süden“ zu sein.

Erklärung der documenta-Künster*innen aus Anlass der Empfehlung des Aufsichtsrats der documenta vom 16.7.22, "in einen Prozess der Konsultation mit Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus einzutreten".

„Sehr geehrte Mitglieder des Aufsichtsrats der documenta gGmbH,

wir, die UnterzeichnerInnen dieser Erklärung, wenden uns heute an Sie als teilnehmende KünstlerInnen und Kollektive sowie an ruangrupa und Mitglieder des künstlerischen Teams der documenta fünfzehn.

Im Anschluss an die Erklärung des Aufsichtsrats der documenta und Museum Fridericianum gGmbH vom 16. Juli 2022 nehmen wir die Gelegenheit wahr, eine Stellungnahme zu den Empfehlungen des documenta-Aufsichtsrats zu verfassen, insbesondere zu der Empfehlung, "in einen Prozess der Konsultation mit Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus einzutreten".

Wir erkennen und bedauern den Schmerz, den die Abfolge der Ereignisse im Zusammenhang mit Taring Padis Werk "People's Justice" verursacht hat, sind jedoch der Meinung, dass dies nicht zu einer allgemeinen Atmosphäre der Untersuchung und Zensur führen sollte. Wir bekräftigen noch
einmal unsere Haltung gegen alle Formen der Diskriminierung, einschließlich Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Transphobie, Islamophobie, antipalästinensische, romafeindliche, antischwarze, antiasiatische, behindertenfeindliche, kastenbezogene,
klassenbezogene und altersbezogene Handlungen und Angriffe.

Wir sind zutiefst enttäuscht, dass Sie sich entschieden haben, den Rassismus und die Gewalt zu ignorieren, denen die Künstler, die künstlerische Leitung und das Team in den letzten acht Monaten ausgesetzt waren. Viele von uns haben Zeit, Ressourcen, Liebe und guten Willen in das gemeinsame Projekt der documenta fünfzehn investiert. Die Künstlerinnen und Künstler haben Monate und Jahre fernab von ihrer Heimat und ihren Familien verbracht, um Deutschland und den Kasseler Gemeinden eine kollektive, gemeinschaftliche Arbeit zu ermöglichen. Diese Geschenke wurden in veröffentlichten Erklärungen von Politikern, in Pressemitteilungen und in der Medienberichterstattung nicht anerkannt oder gewürdigt.

Seit den ersten Medienangriffen im Januar werden palästinensische, pro-palästinensische, schwarze und muslimische Künstler von den Medien und den Politikern ins Visier genommen und diskriminiert und sind in der Folge bereits der Zensur durch die Institutionen ausgesetzt. Diese Diskriminierung hat uns deutlich gemacht, dass wir dem Vorschlag des Aufsichtsrates nicht trauen können. Um an einige dieser Vorfälle zu erinnern, erwähnen wir hier nur einige wenige:

Am 23. Juni 2022 wurde das WH22 Werner-Hilpert-Straße 22, ohne die Künstler oder Kuratoren zu informieren, für mindestens zwei Stunden geschlossen, bis Mitglieder von ruangrupa und des künstlerischen Teams es wieder öffneten. Am selben Tag wurde ein Teil des Hübner-Areals, in dem die Kunstwerke von Subversive Film ausgestellt waren, für den ganzen Tag geschlossen.

Am 10. Juli 2022 wurden Teile des Archivmaterials, die sich auf Palästina beziehen, ohne Wissen und Zustimmung des Kollektivs Archives des luttes des femmes en Algérie (Archiv der Frauenkämpfe in Algerien) entfernt. Es wurde erst am 11. Juli 2022 auf Ersuchen der Künstlerinnen zurückgestellt.

Diese Angriffe haben ein Klima der Feindseligkeit und des Rassismus gegenüber den Künstlern geschaffen, was dazu führte, dass sie weiteren Angriffen ausgesetzt waren:

Am 27. Mai 2022 wurde in WH22, dem Ort, an dem die Künstlerkollektive Question of Funding, Party Office und Hamja Ahsan untergebracht sind, eingebrochen und Vandalismus verübt, indem Parolen wie "187" und "Peralta" aufgesprüht wurden. Die Künstler vermuteten, dass sich die Slogans auf den kalifornischen Strafrechtsparagraphen über Mord und die spanische Neonazi-Aktivistin Isabel Peralta beziehen, die zu Gewalt gegen den Islam aufgerufen hat. Die Künstler beschlossen, das Graffiti am Veranstaltungsort zu belassen, und die documenta erstattete Strafanzeige.

Am 13. und 17. Juni 2022 wurde die Kirche St. Kunigundis, in der die Arbeiten der Atis Rezistans|Ghetto Biennale (Haiti/international) ausgestellt werden, nach fünf Tagen Beobachtung durch eine Frau in einem Auto von einem Mann gestürmt, der die anwesenden Künstler der Atis
Rezistans|Ghetto Biennale bedrohte und anschrie. Er filmte auch mit seinem Handy, und das Video ist im Umlauf. Am 17. Juni 2022 lungerte derselbe Mann draußen herum.

Am 2. Juli 2022 wurden Mitglieder des Party Office Kollektivs auf den Straßen Kassels von transphobischen Männern angegriffen und anschließend von der Kasseler Polizei angegriffen. Die Angreifer wurden laufen gelassen. Das Parteibüro fordert eine Entschuldigung für den Umgang mit der Situation und weitere Schritte, um ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen zu gewährleisten.

Zahlreiche Cyberstalking-Attacken und Drohungen gegen Mitarbeiter und Künstler wurden vom JuFo (Junges Forum DIG), insbesondere auf seinem Instagram-Account, verübt.

Es gab viele weitere dokumentierte Vorfälle sowie institutionelle rassistische, islamfeindliche und transphobe Diskriminierung. KünstlerInnen und Teammitglieder, die für die documenta fünfzehn arbeiten, sind bis heute auf verschiedenen Ebenen von Belästigung und Mobbing betroffen.

Neben diesen direkten rassistischen und transphoben Vorfällen haben Künstler und Lumbung- Mitglieder strukturellen Rassismus und Vernachlässigung erfahren. Diese wurden durch Probleme im Zusammenhang mit Visa, Unfreundlichkeit und Vernachlässigung von Daten und Kommunikation im Zusammenhang mit Künstlern und Arbeitnehmern, die sich als BIPOC, nicht-binäre und Trans-Künstler identifizieren, deutlich. Dies hat ihr physisches und psychisches Wohlergehen und ihren künstlerischen Prozess behindert. Dazu gehört auch, dass mehreren Künstlern und Ruangrupa-Mitgliedern kein oder nur ein befristetes Visum erteilt wurde und dass die Künstler unter entsetzlichen Bedingungen untergebracht wurden. Es ist uns ein Bedürfnis zu betonen, dass wir diese Verantwortung nicht den überarbeiteten, unterbesetzten und oft ungerecht behandelten Mitarbeitern des documenta 15 Teams aufbürden.

Die Empfehlung des documenta-Aufsichtsrats, "in einen Prozess der Konsultation mit Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus einzutreten", wurde gegen die Meinung von ruangrupa und dem künstlerischen Team ausgesprochen. Der Aufsichtsrat hat die beteiligten Künstler nicht konsultiert. Der Aufsichtsrat hat diese Vorgehensweise gewählt, obwohl er sich vertraglich zu gegenseitigem Respekt, Wohlverhalten und Loyalität gegenüber ruangrupa verpflichtet hat (Klausel 12.1 des Vertrages zwischen Documenta gGmbH und ruangrupa).

Warum wir die Empfehlung des Aufsichtsrates ablehnen, "in einen Prozess der Konsultation mit Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus einzutreten":

Wir möchten daran erinnern, dass wir im vergangenen Jahr versucht haben, mit dem Forum "Wir müssen reden! Kunst, Freiheit und Solidarität" im vergangenen Mai versucht haben, einen Dialog zu beginnen, wobei wir einen ehrenwerten, aber vergeblichen Versuch unternommen haben, eine gute Antwort auf eine schlechte Frage zu formulieren. Wir möchten auch daran erinnern, dass der Dialog nach intensiven Gesprächen mit den Forumsteilnehmern, in denen deutlich wurde, dass eine freie und produktive Diskussion unmöglich war, abgebrochen wurde. Vorausgegangen war die Kritik von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, an der Zusammensetzung des Forums. Einige Teilnehmer zogen sich wenige Tage vor der geplanten Eröffnung des Forums zurück oder zogen es in Erwägung, sich zurückzuziehen.

Die Kunstwerke sind nun seit mehr als 30 Tagen ausgestellt. Sie waren für die Öffentlichkeit in voller Transparenz zu sehen. Mehr als bei jeder anderen documenta waren und sind die Künstler in den Ausstellungsräumen präsent, um sich mit dem Publikum auszutauschen. Das Publikum hat mit großer Begeisterung auf die Ausstellung reagiert. Kunstwerke und Künstler zu untersuchen, ist anklagend und respektlos. Wir sehen es als eine Untersuchung, die implizieren könnte, dass jeder Künstler oder jedes Kunstwerk antisemitisch ist, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Die Untersuchung von Kunstwerken, die Geschichte und Gegenwart in Frage stellen und vorantreiben, bedeutet, dass Kunstwerke sich nicht mehr mit der Komplexität dieser Geschichte auseinandersetzen können. Die Rolle des Publikums ist es, sich auf gleicher Augenhöhe damit
auseinanderzusetzen, nicht in anklagender Weise. Wenn die Kunstwerke einer Prüfung unterzogen werden, hat dies tiefe Auswirkungen auf ihre lokalen Gemeinschaften und politischen Kontexte.

Die Aufnahme eines Beirats wird zu einem Präzedenzfall und schafft ein Umfeld der Angst und Selbstzensur, das es den Kuratoren und Künstlern unmöglich macht, sich in einem sicheren Umfeld offen mit der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. In der Kunst geht es nicht nur um Ästhetik und Komfortzonen, die Kunst spielt eine wichtige Rolle bei der Öffnung von Kanälen und der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, lassen Sie es zu. Das ist es, was künstlerische Freiheit bedeutet.

Dieses Umfeld der Einschüchterung, des Misstrauens und der Zensur ist unhaltbar, und einige der Kollektive in der Ausstellung haben diese Erfahrung schon viel zu lange gemacht. Daher lehnen wir gemeinsam und kategorisch Ihre Empfehlung ab, "in einen Konsultationsprozess mit
Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus einzutreten", oder eine erneute Überprüfung der Kunstwerke. Wir werden kein Ergebnis akzeptieren, das aus einer solchen Überprüfung resultiert. In einer am 25. Juni 2022 an die Direktion gesendeten E-Mail forderten wir die Institution auf, die erneute Prüfung unserer Werke unverzüglich einzustellen und alle Ausstellungsorte und Kunstwerke zu öffnen, damit unsere Kunstwerke von der Bevölkerung ohne Unterbrechung erlebt und angenommen werden können. Wir bitten Sie hiermit erneut, Ihre
Empfehlung zurückzuziehen.

Wir möchten Sie daran erinnern, dass Zensurbehörden ihre Geschichte und ihren Kontext in Deutschland und weltweit haben. Wir kommen aus vielen Ländern, in denen wir mit Zensurgremien und Unterdrückung konfrontiert sind und uns auch weigern, sie zu befolgen. Zensurgremien entziehen dem Publikum die Verantwortung, sich zu engagieren, zu lernen und zu verlernen. Sie entziehen dem Publikum die Möglichkeit, sich eine unabhängige politische Meinung zu bilden. Zensurausschüsse sind das Ende einer Ära der Kunst, wie wir sie kennen; sie stehen für den Beginn einer neuen Ära (oder vielmehr für die Rückkehr zu einer Ära), in der die Kunst im Dienste politischer Regime steht.

Abschließend erwarten wir vom Aufsichtsrat Folgendes:

1. dass die Empfehlung, ein Gremium von Wissenschaftlern mit der Überprüfung der Kunstwerke zu beauftragen, unverzüglich zurückgezogen wird.

2. Dass KünstlerInnen und documenta fifteen Teammitglieder (namentlich Parteibüro, Hamja Ahsan), die zahlreiche E-Mails über physische und Cyber-Attacken geschickt haben, beantwortet und weiterverfolgt werden und dass solche Nachrichten auf den offiziellen facebook- und instagram-Seiten der documenta fifteen sofort abgerufen werden.

3. Dass die Täter und Täterinnen der bisher registrierten Übergriffe von der documenta und der Stadt Kassel zur Rechenschaft gezogen werden.

4. Dass ein sicheres Umfeld frei von jeglicher Form von Diskriminierung und Übergriffen in Kassel gewährleistet wird, indem ein Verhaltenskodex, ein Beschwerdeprotokoll und eine Reaktionsstruktur (wie z.B. der Zugang zu den Anwälten der documenta gGmbh) für solche Diskriminierungen erarbeitet wird.

Wir erwarten bis zum 22. Juli 2022 eine Rücknahme Ihrer Empfehlung zum Beirat. Andernfalls behalten wir uns vor, weitere Schritte gemeinsam zu unternehmen.

Außerdem erwarten wir bis zum 30. Juli 2022 eine öffentliche Entschuldigung für das Versäumnis, die rassistischen, islamfeindlichen und transphoben Angriffe weiterzuverfolgen oder zu erwähnen, sowie eine konkrete Strategie, um die oben genannten Diskriminierungen vieler KünstlerInnen zu beseitigen.

Wir sind hier, um zu bleiben und wollen diese Ausstellung offen halten, aber mit der Garantie der künstlerischen Freiheit. Wir sind überzeugt, dass die Kunstwerke für sich selbst sprechen können, und wir glauben an die Fähigkeit des Publikums, sich als mündige Bürger ohne staatliche Aufsicht mit den komplexen Zusammenhängen der Kunstwerke auseinanderzusetzen. Wir sind für offene und aufrichtige Gespräche und kollektiven Austausch hier. Wir sind hier als Menschen mit unseren Schwächen, unserer Stärke, unserem Mut und unserer Kunst, und wir wollen so lange wie möglich bleiben, um einen kritischen und freudigen Dialog mit denen zu führen, die uns in unserer Vielfalt als gleichwertig akzeptieren.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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