G7-Gipfel 1992: München erprobt Polizeikessel gegen friedliche Demonstranten
Zeitgeschichte Beim G7-Gipfel in München 1992 stößt eine linke Kultur des Protests auf eine polizeiliche Taktik der Repression, die vor Freiheitsberaubung nicht zurückschreckt – und Schule macht
Der Weltwirtschaftsgipfel, meist auch G7- oder G8-Gipfel genannt, fand bislang fünfmal in Deutschland statt: im Mai 1985 in Bonn, im Juli 1992 in München, im Juni 2007 in Heiligendamm, 2015 und 2022 in Elmau. Die Proteste eines breiten Spektrums von kirchlichen Dritte-Welt-Soligruppen bis hin zu radikalen Kapitalismuskritikern gegen die „Mächtigen der Welt“ fehlten nie. Dabei sollte das Treffen von 1992 in München besonders aus zwei Gründen in die Protestgeschichte der Bundesrepublik eingehen. Zum einen kam es am 6. Juli 1992 zu einer rechtswidrigen Einkesselung friedlicher Demonstranten, und das über Stunden hinweg. Das Ganze blieb als „Münchner Kessel“ in Erinnerung. Auf diese polizeitaktische Maßnahme wurde nicht zum ersten
ten Mal zurückgegriffen. 1986 kam es auf dem Hamburger Heiligengeistfeld beim Widerstand gegen das Kernkraftwerk Brokdorf zu einer vergleichbaren Freiheitsberaubung. Zum anderen erschien ein Gipfelprotest, der vom 4. bis 6. Juli als „Internationaler Kongress gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992“ stattfand, wie das letzte große Aufbäumen einer Widerstandskultur, die Internationalismus, Antikolonialismus und Antiimperialismus verband. Zu Schikanen gegen die mannigfaltigen Aktionen, die den G7-Gipfel von München begleiten, irritieren und stören sollten, kam es von Anfang an auf mehreren Ebenen. In diversen Städten wurden die Vorbereitungsmeetings behindert und von der Polizei aufgesucht. Nachdem die Zusage, die Hörsäle der Ludwig-Maximilians-Universität in München für den Gegenkongress benutzen zu dürfen, einen Tag vor dessen Beginn zurückgezogen wurde, konnte man gerade noch in kirchliche Räume ausweichen. Für die aus 60 Ländern angereisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer lautete das zentrale Motto „No justice – no peace“. Diese Parole war entscheidend von Ereignissen in den Vereinigten Staaten beeinflusst, wo es kurz zuvor einen antirassistischen Aufruhr gegeben hatte. Der Schwarze Rodney King war von vier weißen Polizisten misshandelt worden, ohne dass ein Gericht die Täter dafür haftbar machte. „No justice – no peace“, skandierte eine wütende Menge in Los Angeles.Auf dem G7-Gegenkongress wurde über Demokratie und Menschenrechte in der „Neuen Weltordnung“ diskutiert. Die Bewegung gegen den Anfang 1991 von den USA und etlichen Verbündeten geführten Golfkrieg war noch nicht verebbt. Hinzu kam die nachdrücklich erhobene Forderung nach einer anderen Weltwirtschaftsordnung. Der Widerstand gegen die G7 in München war zudem verbunden mit einer scharfen Anklage des „500-jährigen Reichs“. Schließlich feierte man 1992 den 500. Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“. Bereits zur „Expo 92“ in Sevilla, die mit der Ausstellung „Das Zeitalter der Entdeckungen“ und gigantischen Feiern zum Amerika-Jubiläum aufwartete, gab es international viel Gegenwind. In den Augen derer, die ihn entfachten, verhöhnten die 500-Jahr-Feiern nicht nur die Opfer „eurokolonialistischer Sklaverei“. Die antikolonialen Gipfelstürmer verwahrten sich ebenso gegen die Suggestion, das halbe Jahrtausend Kolonialgeschichte werde nun mit dem vollendeten EG-Binnenmarkt abgeschlossen. Man müsse sich lediglich noch darum kümmern, die Märkte in Osteuropa aufzuteilen. Weiter hieß es in einem Flugblatt: Ohne die Ausplünderung der „Neuen Welt“ hätte sich der Kapitalismus in Europa nicht in dem Maße entwickeln können, wie das geschehen sei. 1992 feiere man in Sevilla wie in München nicht nur den Erfolg dieser Reichtumsproduktion, der zur Schau getragene Stolz verkünde zugleich eine angestrebte Perspektive: die nächsten 500 Jahre. Der alte Sound eines neulinken AntiimperialismusViele der internationalen Referenten auf dem Gegenkongress in München wiesen auf ungebrochene und modernisierte Kontinuitätslinien zur Eroberung des amerikanischen Kontinents durch weiße, europäische Kolonialisten hin. Der Kalte Krieg schien zwar vorbei zu sein – der DDR-Sozialismus wie auch die Großmacht Sowjetunion, die sich Ende 1991 aufgelöst hatte, waren am Ende. Doch kam 1992 nicht der Eindruck auf, die linken Debatten und Aktionen seien von Resignation oder Verzagtheit überlagert. Anfang der 1990er Jahre existierte zumindest im Westen Deutschlands noch ein vitales außerparlamentarisches, vor allem linkes Milieu. Die eigene Geschichtserzählung schien zu stimmen. Das „Ende der Geschichte“, sofern man es in den Untergang des realsozialistischen Lagers hineininterpretierte, wurde von vielen aktivistischen Linken nur als vorläufiger Sieg des Kapitalismus gedeutet. Trotzig wurde in München vor 30 Jahren auf das standhafte Kuba, auf die Kämpfe in Kurdistan und Palästina verwiesen. Antiimperialisten würdigten lateinamerikanische Befreiungsbewegungen wie die Frente Farabundo Martí (FMLN) in El Salvador, die sich gerade von der Guerilla zur politischen Partei transformierte. Die Initiative „Libertad“ warb dafür, sich über das Schicksal politischer Gefangener weltweit auszutauschen. Man wollte nicht Teil der „imperialistischen Wohlstandsinseln“ sein – das war der vorherrschende Geist einer politischen Gegenkultur, die sich in München Geltung verschaffte. Vielleicht erklang zum letzten Mal laut und eindeutig der alte Sound eines neulinken Antiimperialismus, der auf 1968 zurückging. Das heftige Agieren der Polizei war für viele Teilnehmer keinesfalls so traumatisierend wie das Erleben von Repression fast zehn Jahre später während der Proteste gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua. In München waren SEK-Einheiten aus verschiedenen Bundesländern zusammengezogen, und Beamte aus dem sogenannten Unterstützungskommando (USK) langten heftig zu, als Demonstrantinnen und Demonstranten eingekesselt wurden. Der linken Politikerin Jutta Ditfurth wurde die Hand gebrochen, viele Betroffene berichteten von Fußtritten und Nierenschlägen. Doch tat das in den Transportwannen der Polizei und den Gefangenensammelstellen einer ungetrübt aufmüpfigen Stimmung keinen Abbruch, wenn Arbeiterlieder oder die Internationale gesungen wurden. Von den seinerzeit Eingekesselten erhoben gut ein Jahr später, am 6. Juli 1993, 129 Klage gegen den Freistaat Bayern. Sie verlangten einen symbolischen Betrag von 150 D-Mark Schmerzensgeld pro Person. Als es eine verbindliche gerichtliche Entscheidung gab, lag der gewährte Betrag bei 50 D-Mark. Wer geklagt hatte, legte mit anderen zusammen, um dem international bekannten US-Gefangenen Mumia Abu-Jamal zu helfen.Max Streibl: „Hartes Hinlangen ist bayerische Art“Auch wenn es heutzutage irreal erscheint: Einige glaubten gar, in den Repressionen von München offenbare sich die Hilflosigkeit des Staates gegenüber einer ungebrochenen Protestkultur. So formulierte ein Autor der Humanistischen Union: „Ein übermächtiger Staatsapparat ist letztlich ohnmächtig. Er vermag den Staat auf Dauer nicht zu sichern, nicht zu schützen, wenn dieser Staat die Freiheit seiner Bürger beschränkt und die Menschenrechte missachtet. Da helfen auch noch so blumige oder großkotzige Politikersprüche nicht weiter.“Doch die Haltung der offiziellen Politik ließ sich davon nicht sonderlich beeindrucken. Sie agierte alles andere als ohnmächtig und erging sich eher in ungerührter Arroganz der Macht. Der damalige bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) kommentierte die Ereignisse mit dem Satz: „Wenn einer glaubt, sich mit Bayern anlegen zu müssen, dann muss er wissen, dass hartes Hinlangen bayerische Art ist.“ Und der christdemokratische Bundeskanzler Helmut Kohl ließ verlauten: „Ich fühle völlige Sympathie mit den Polizisten und verurteile die Demonstrationen scharf. Wer kommt, um Gäste anzupöbeln, schadet bewusst unserem Land.“Wenige Wochen später kam es in Rostock-Lichtenhagen zu einem rassistischen Pogrom – ein hartes polizeiliches Hinlangen lernten in dieser Situation wiederum nur antifaschistische Gegendemonstranten kennen, nicht aber ein ausländerfeindlicher Mob.
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