Gelsenkirchen als Beweis

Antisemitismus Die judenhassenden Bekundungen von Gelsenkirchen und andernorts scheinen den Stichwortgebern eines "Israelbezogenen Antisemitismus" recht zu geben

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Gelsenkirchen als Beweis

Foto: Frederick Florin/Getty Images

Also doch: allerorten “Israelbezogener Antisemitismus”! In der FAZ trumpft Jürgen Kaube auf: Diejenigen, die diese Kategorie als Erfindung zur Verteidigung der Kolonialpolitik Israels ablehnten, würden nun angesichts des manifesten Antisemitismus auf den Straßen schweigen. Und das internetportal “perlentaucher” jubelt: “Jürgen Kaube attackiert in der FAZ, ohne sie namhaft zu machen, jene mächtige Fraktion deutscher Intellektueller und höchster Kulturfunktionäre, die jüngst noch forderte, BDS-Sympathisanten auftreten lassen zu dürfen, ohne persönliche Karrierenachteile befürchten zu müssen.” Ein halbwegs historisch bewanderter Leser merkt bei dieser gedrungenen Darstellung auf: “Kulturfunktionäre”? “Karriere”? “Mächtige Intellektuelle”? Bislang kennt man solche Invektiven aus einem anderen Kontext und eher weniger von Kritikern des Antisemitismus. Liest man Kaube im Original, quatscht er gottseidank nicht so antisemitisierend daher, wie es der perlentaucher affirmativ suggeriert.

"Allerweltsbekundungen über “Israelbezogenen Antisemitismus”, die jeder und jede Journalistin nun brav rekapituliert, stellen eine Verschleierung dar"

Ja, auf den Straßen in Deutschland, aber eben nicht nur hier, artikuliert sich ein widerwärtiger Judenhass. Und dieser ist auch in deutlicher Form bezogen auf die Geschehnisse in Israel. Ob diese Ereignisse allerdings unumwunden mit dem Begriff “israelbezogener Antisemitismus” das richtige Schlagwort erhalten, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Wer die Geschichte des Antisemitismus vor Augen hat, weiß, dass dieser sich vom religiösen Antijudaismus löste, sich rassistisch auflud und dass er gegen eine staatenlose Minderheit gerichtet war, der eine verborgene Macht unterstellt wurde. Juden waren in den Augen der Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts eine die eigene Nation zersetzende “Nation in der Nation”. Sie wurden verantwortlich gemacht für die neuen unpersönlichen Machtstrukturen und Marktmechanismen. Das internationale Börsengeschehen wurde als “jüdisch” markiert, Protokolle einer jüdischen Verschwörung wurden gefälscht und von russischen reaktionären Antisemiten über US-amerikanisch Innovationsantisemiten wie Henry Ford bis zu Adolf Hitler durchgereicht. Hier verblieben sie nicht, sondern fanden nach 1945 auch in Indien, Ägypten oder dem Gaza-Streifen ihre Verbreitung. Bilder einer jüdischen Weltverschwörung zirkulieren seit einigen Jahren auch im Hip-Hop. So weit, so schlecht, so bekannt.

Und doch stellen die moralstolzen Allerweltsbekundungen über “Israelbezogenen Antisemitismus”, die jeder und jede Journalistin nun brav rekapituliert, eine Verschleierung dar. Denn auf der Frankfurter und New Yorker Börse prangerte freilich kein Davidstern, den mussten die Antisemiten dieser Welt der Börse erst aufkleben. Auf israelischen Panzern, die die seit 1967 bestehende Besatzung militärisch absichern, prangert hingegen sehr deutlich ein Davidstern, als nationalstaatliches Hoheitszeichen. Israel ist eben Akteur in einem komplexen Konflikt um Land und Ressourcen. Den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts dürfte man kaum als solcherart gestalteten Konflikt um Land und Ressourcen betrachten. Zumal Israel - wollte man dieser materialistischen Spur nachgehen - der Enteigner von Land ist und nicht der Enteignete. Dieser Enteigner nennt sich selbst “jüdischer Staat” und hat Züge einer “Ethnokratie” angenommen, weil er Vorrechte der Eigenen religiös-ethnisch legitimiert. Israelische Kritiker drängen seit Jahrzehnten darauf, dass Israel sich als “israelische” Gesellschaft und nicht als jüdische Gemeinschaft selbst definieren, allen Bürgern gleiche bürgerliche wie soziale Rechte gewähren und vom Kurs in Richtung Apartheidsstaat abrücken soll. Nichts davon passiert, sicherlich auch unter dem Druck einer feindlichen Umgebung. Hass auf den Enteigner, der einem als Kolonialist begegnet, verweist allerdings eher auf die Geschichte antikolonialer Befreiungskämpfe als auf die Geschichte des (deutschen) Antisemitismus. Antikoloniale Befreiungskämpfe wurden niemals zimperlich geführt, siehe Algerien, siehe Südafrika. Lies Frantz Fanon oder Jean-Paul Sartre!

Warum aber der erschreckende Hass auf Juden - und nicht nur auf Israel?

"Wer Jude und israelische Regierung gleichsetzt, ist in der Tat ein dummer Antisemit"

Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo spricht von einem digitalen Impuls-Antisemitismus. Damit trifft er was. Der Hass entfaltet sich vor dem Hintergrund eines religiös und nationalistisch aufgeladenen Konflikts, der durch die neuen Medien eine rasche Verbreitung und Befeuerung findet. Allerdings abstrahiert Lobo von den viral gehenden Bildern selbst. Der Molotowcocktail, geworfen durch extremistische Juden irgendwo in Israel, der eine palästinensische Wohnung trifft, kommt durch die sozialen Netzwerke rasch in der Welt des www an, auch in Gelsenkirchen. Pogrome sind im Kontext des Nahostkonflikts keine rein antijüdische Angelegenheit mehr. Von Pogromstimmungen sind in Israel zuweilen auch arabische Familien betroffen und Pogromakteure können dort eben auch Juden sein. "Nie wieder Antisemitismus auf deutschem Boden" zu beschwören hört sich moralisch integer und staatsmännisch an, negiert aber die Realität in Israel und verläuft oberhalb und jenseits der global vernetzten Gesellschaften, die als Migrationsgesellschaften nun mal divers zusammengesetzt sind und in denen sich Zugehörigkeit, Solidarität und Identität anders artikulieren als es die deutsche Staatsräson gerne hätte und bräuchte.

Für diese ist allerdings der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein zuständig. Er beklagt zurecht den Antisemitismus, dessen Kennzeichen nun mal Hass auf Juden als Juden ist, und der auch unter Teilen der arabischen und muslimischen Einwanderungsgesellschaften grassiert. Israelisches Regierungshandeln auf der einen Seite und jüdisches Leben auf der anderen Seite seien zwei paar Schuhe, erklärt er sinngemäß. Wer Jude und israelische Regierung gleichsetzt, ist in der Tat ein dummer Antisemit. Klein plädiert dafür dies zu “dekonstruieren”. Das ist eine treffende Formulierung, die besonders Vertreter der Postmoderne erfreuen dürfte. Unter ihnen befinden sich ja nicht wenige postkoloniale Aktivisten. Die Gelsenkirchener “Scheiss-Jude”-Krakeler werden eher textfremd und universitätsfern sein. Was ein Felix Klein sagt, dürfte ihnen herzlich egal sein. Und Dekonstruktion ist ein Begriff, der im Deutsch-Rap selten auftaucht. Deutlich mehr subversive und aufklärerische Wirkung dürfte dem in Berlin auf einer pro-palästinensischen Demonstration gezeigten Plakat zukommen, auf dem stand: “I’m Jewish and I want Israels Gov’t to stop killing Palastinians!”

"Es ist ein Kampf gegen alle Imperialisten"

Es sind die von Felix Klein in der Vergangenheit angefeindeten Israelkritischen Juden, die selbst Zeugnis davon ablegen, dass nicht jeder Jude mit dem israelischen Regierungshandeln identisch ist. Diese Tradition reicht zurück bis zu dem linken jüdischen Antizionisten Erich Fried, dessen 100. Geburtstag jüngst gefeiert wurde. In einem Gedicht mit dem Titel “Vergesst nicht!” schrieb er: “Die Türken waren/eure Unterdrücker/ aber Nazim Hikmet war Türke/ und war nicht euer Unterdrücker./ Vergeßt nicht: es war kein Kampf/ gegen alle Türken.// Die Israelis/ sind eure Unterdrücker/ aber Morderchay Avi Shaul/ und Israel Shahak/ sind Israelis/ und sind nicht eure Unterdrücker./ Vergeßt nicht: es ist kein Kampf/ gegen alle Israelis.// Die Imperialisten/ sind eure Unterdrücker/ aber die Imperialisten haben keinen Israel Shahak/ keinen Morderchay Avi Shaul/ und keinen Nazim Hikmet./ Vergeßt nicht: es ist ein Kampf/ gegen alle Imperialisten.”

In diesem Geiste versuchen bis heute linke Antiimperialisten zu wirken. Sie konfrontieren sich im übrigen auch mit der türkischen AKP und ihrer neoimperialen Ideologie, in der propagandistischer Antisemitismus und Hass auf Kurden sich die Hand reichen. Es ist die deutsche Staatsräson mit ihren konservativen Kulturdialogen, die den reaktionären türkischen Islamisten Tür und Tor öffnen, auch weil diese in der Türkei das Tor für Migrantinnen und Migranten nach Deutschland verschließen. Dass die internationalistische Linke von den Vertretern deutscher Staatsräson von Felix Klein bis Cem Özdemir zu schlimmen Figuren, die einen “israelbezogenen Antisemitismus” vertreten würden, erklärt werden, ist eine der vielen aktuellen diskursiven politischen Verdrehungen, an denen nichts real und wahr ist. Seit den politisch aktiven Jahren Erich Frieds, seit den 60ern ist man das aber bereits gewohnt.



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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