Geschichtsrevisionismus und NATO-Apologetik

"Holodomor" Ein breit getragener Antrag zum "Holodomor" als Völkermord an den Ukrainern 1931 aktualisiert ältere geschichtspolitische Manöver, kennt aber neue Akteure

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Als Ernst Nolte den ersten Historikerstreit 1986 eröffnete und die rhetorische Frage in der FAZ stellte, ob der „Klassenmord“ der Bolschewiki nicht viel ursprünglicher war als der "Rassenmord" der Nazis an den Juden, war seine Absicht klar erkennbar: Hier sprach ein deutsch-nationaler Historiker voller Entlastungsbedürfnis für die Deutschen. Dementsprechend antworte auch Jürgen Habermas als Wortführer links-liberaler Intellektueller, dass Nolte von geschichtsrevisionistischen Motiven getrieben sei. Er hielt daran fest, dass Auschwitz und der deutsche Völkermord an den Juden unvergleichlich sei und einen einmaligen Zivilisationsbruch darstelle, ein Begrifflichkeit, die allerdings vom Historiker Dan Diner stammte.

In Habermas Gegen-Rede zu Nolte in der ZEIT hatte sich allerdings auch eine merkwürdige Vorhaltung eingeschlichen, die damals zwar zur Kalten-Kriegs-Zeit passte, aber dem Adressaten nicht so ganz anzuheften war: Nolte betreibe NATO-Apologetik, so Habermas. Natürlich war der Totalitarismustheorie, zu der Nolte hätte gezählt werden können, eine pro-westliche politische Haltung eingeschrieben – und so schien sich niemand an dem NATO-Apologie-Vorwurf von Habermas an Noltes Adresse zu stoßen. Nolte war allerdings eher nicht als Transatlantiker bekannt, sondern schöpfte viel mehr aus einem tief empfundenen Deutschnationalismus, der ihn schließlich auch in seinen letzten Veröffentlichungen vollständig ins rechte Lager abdriften ließ, obwohl er noch rund um 1968 mit Werken wie „Der Faschismus in seiner Epoche“ von Linken, besonders der Neuen Linken, rezipiert wurde.

Nun hat sich der Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit von Grünen über SPD, FDP bis CDU genau so positioniert wie es Habermas Nolte Mitte der 80er Jahre vorhielt: geschichtsrevisionistisch und NATO-apologetisch. Den sogenannten Holodomor in der Ukraine von 1931 wurde als Völkermord eingestuft. Der Text über das Gedenken an den von der Sowjetunion planvoll herbeigeführten Hungertod von Millionen Ukrainern wurde in Anwesenheit des ukrainischen Botschafters mit den Stimmen der Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP sowie der Union verabschiedet. Darin steht unter anderem: dass die „Repressionen (...) die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen“ betroffen hätten und damit aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahelege“. „Naheliegen“ ist keine wissenschaftliche Kategorie. Und die Bezeichnung „Holodomor“ ist unter Historikerinnen und Historikern ähnlich umstritten, wie er eindeutig einer nationalistischen ukrainischen Geschichtsschreibung folgt. Jenseits aktivistischer Historiker wie Timothy Snyder, der sich an einer neuen, historische Räume untersuchenden Totalitarismustheorie versucht und im politischen Tagesgeschäft zu einem parteiischen Fürsprecher der ukrainischen Sache geworden ist, gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Stimmen, die die ethnische Dimension der Hungersnot von 1931 zurückweisen. Sicherlich wurde der Hungertod von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern von der Sowjetführung bewusst in Kauf genommen, die Völkermord-Dimension ist damit allerdings noch bei weitem nicht bewiesen, so waren auch andere ethnisch zusammengesetzte Gebiete wie Kasachstan von der großen Hungersnot betroffen. Im Kern war der Hunger eher der rapiden und brutalen Industrialisierungspolitik unter Stalin geschuldet, einer „ursprünglichen Akkumulation“, wie sie in England wesentlich milder und langgestreckter verlief.

Dass sich die LINKE dem Antrag nicht angeschlossen hat, ist folglich richtig, die Rede von Gysi zeigte allerdings eklatante Schwächen. Denn Gysis Herabsetzung der Russischen Revolution und seine Erinnerung, dass Lenin Marx falsch korrigiert hätte, wenn dieser festgestellt hätte, dass auch in einem Bauernland und nicht erst in einem hochentwickelten, durchkapitalisierten Land eine sozialistische Revolution möglich sei, folgt kaum den rätekommunistischen, anarchistischen, linkssozialistischen Stimmen, die den Bolschewismus ähnlich kritisierten, sondern ist eine opportunistische neo-kathedersozialistische Position, die den revolutionär-aktivistischen Anspruch des Bolschewismus zugunsten von Reformpolitik plus ein wenig Marxologie abwehrt. Den aggressiv anti-linken Kurs, der von grüner Fraktion bis AfD unterschiedlich orchestriert wird, wird man so nicht abwehren können. Mit der Festlegung, dass diese Hungersnot ein Genozid war, ist nämlich nicht nur verbunden, dass dies zu bestreiten in den Bereich der maximalen Skandalisierung gerät, wenn nicht sogar strafbar werden könnte. Darüber hinaus scheint eine Tür zu einem modernisierten Antikommunismus geöffnet, der zu unterbinden trachtet, sich auf sozialistische Ideen, die real wurden, positiv zu beziehen. Ähnlich, nur in Hinsicht auf Solidarität mit Palästinensern unter israelischer Besatzung, wirkt ja bereits der BDS-Beschluss des Bundestages.

Dass sich die AfD dem Antrag verweht hat, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Sicherlich läge die Großzeichnung der Verbrechen des Kommunismus auf der Linie ihres Geschichtsrevisionismus, der genauso wie Nolte bestrebt ist, das deutsche Menschheitsverbrechen zu verkleinern. Gaulands Rede zum „Vogelschiss“ ist schließlich bekannt. In diesem Sinne und mit dieser Absicht erinnerte auch ihr Sprecher Marc Jongen – historisch auf der ersten Blick korrekt - recht wortreich an Lenins Terror, an die Kulakenverfolgung und den Hungertod in der Kornkammer Ukraine, um schließlich die „sozialistische Ideologie“ mit Hass auf Individualität und Freiheit und „Gleichmachungsterror“ zu geißeln. Dabei schiebt er sogar in seiner Rede den deutschen Faschismus, der sich Nationalsozialismus nannte, in die linke Ecke, wo er mit diesem auch Gleichheit, Solidarität und Fortschritt entsorgen will.

Wenn der AfD-Sprecher dann allerdings die geschichtspolitischen Interessen benennt, die hinter dem Antrag stehen und begründet, ihn deswegen nicht teilen zu können, ist ihm leider Recht zu geben. Besonders der Grünen-Vertreter bewarb den Antrag mehr im predigenden, als politisch oder gar wissenschaftlich argumentierenden Ton und kombinierte historische Darstellungen mit Schilderungen aktueller russischer Kriegsführung. Tatsächlich verflechtet der Antrag ein historisches Gedanken an ein Verbrechen des Stalinismus mit aktuellem Entsetzen über den Ukraine-Krieg. Der historische Hungertod 1931 und der aktuelle russische Krieg um die Ukraine werden damit zusammengezogen zu einer Narration einer ewig russischen Auslöschungspolitik gegenüber der Ukraine. Damit werden unter anderem wesentliche Kontexte des aktuellen Krieges eskamotiert, wie die Frage der NATO-Erweiterung und der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Wofür Nolte in den 80er Jahren nicht in Gänze stand, steht dieser Antrag und Beschluss des Bundestages, vorneweg die GRÜNEN, die sich nicht scheuen, beständig Putins Russland "Zivilisationsbruch" und "Völkermord" zu unterstellen: dies ist in der Tat NATO-Apologetik und Geschichtsrevisionismus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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