Selbstgespräch vor dem Spiegel

Kongressbericht Am Wochenende des 3. und 4. Dezember wurde anlässlich der documenta 15 ein „salonfähiger Antisemitismus“ diagnostiziert. Doch die Ausrichtung des Kongresses ließ Kontroversität nicht zu

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Selbstgespräch vor dem Spiegel

Foto: Gerhard Hanloser

Neben der FDP-Stiftung zeichnete sich das von Volker Beck geleitete Tikvah Institut für die öffentliche Tagung verantwortlich, die im Hans-Dietrich-Genscher-Haus der Friedrich Naumann-Stiftung mit hervorragendem Büffet und recht serviceleistungsoptimiert stattfand.

Als Anlass der Tagung diente die Behauptung, dass immer öfter „im Rahmen von kulturellen Events und wissenschaftlichen Konferenzen antisemitische Positionen an die Oberfläche“ träten. Diese seien „oft verbunden mit der Infragestellung des Existenzrechts Israel und der Singularität des Holocaust“, so in der Einladung formuliert. Dort wird auch behauptet, dass Inhalte und Ziele der BDS-Bewegung im Gewand von Kunst, Kultur und Wissenschaft erschienen. Deswegen wollten die beiden liberalen Institutionen ausgehend von den „Vorfällen bei der documenta 15“ mit Expertinnen und Experten aus Kultur, Wissenschaft und Politik den „komplexen Gründen für offen gezeigte antisemitische Haltungen“ auf den Grund gehen und Wege aufzeigen, „wie diese effektiver identifiziert und abgewendet werden können“. Die ganze Veranstaltung wurde gefördert vom Bundesministerium des Inneren und für Heimat – „aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags“, wie im Programm zu lesen war.

Die Veranstaltung hatte sechs Themenblöcke und wurde am Samstagnachmittag mit hochkarätigen Grußworten eröffnet. Die Antisemitismusbeauftragte aus NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, begann ihre Rede sofort mit Hinweisen auf aktuelle antisemitische Aussagen von Künstlern, wobei sie sich neben dem Rapper Bushido auch im Modus der schlichten Markierung auf Roger Waters bezog. Worin der Antisemitismus des ehemaligen Pink-Floyd-Musikers bestehen sollte, wurde nicht näher ausgeführt, womit die argumentative Marschroute und der Ton bereits zu Beginn gesetzt war: Wer BDS sagte, musste nicht mehr argumentieren, es reichte ein „antisemitisch“ nachzuschieben oder vorzuschalten. Die wissenschaftliche Kontroverse geht zwar in eine andere Richtung, wurde aber von allen Stimmen der Konferenz schlicht ignoriert. So kommt beispielsweise eine aktuelle Publikation der beiden Sozialwissenschaftler Thomas Haury und Klaus Holz mit dem Titel „Antisemitismus gegen Israel“ zu dem Urteil, dass BDS in seiner politischen Ausrichtung nicht antisemitisch sei und selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat den Anti-BDS-Beschluss des Bundestags stark relativiert.

In der an Leutheuser-Schnarrenberger anschließenden Rede verwies die Staatsministerin für Kultur & Medien, Claudia Roth, auf Theodor W. Adornos Bemerkung, Antisemitismus sei das Gerücht über Juden. Eine Ablehnung der Hermeneutik des Verdachts und der Politik des Gerüchts ergab sich daraus weder für ihre eigene kurze Rede noch für einen Großteil der Referentinnen und Referenten der Konferenz. Wer Antisemit sei, blieb oft schlichte Behauptung, verblieb also im Rahmen des Gerüchts. Roths Rede strotzte vor Pathos („Es hätte nicht passieren dürfen“) und einem eigentümlichen Seitenblick auf die Ukraine im Zweiten Weltkrieg, indem sie „ukrainische Nationalist*innen“ neben Juden und Roma zu den Opfern der Nazis erklärte und dies pikanterweise mit einem Plädoyer „gegen die Auslöschung der Geschichte“ verknüpfte, wo sie doch einen Satz davor die ukrainische Kollaboration beim Judenmord in den „Bloodlands“ des Zweiten Weltkrieg ausgelöscht hatte. Aber vielleicht wollte sie auch nur – als von allen Seiten angefeindete Staatsministerin – sagen, was Volker Beck und seine leidenschaftlich pro-ukrainische Stiftung gerne hören mögen.

In der gleichen Logik stellte sich auch Leutheusser-Schnarenberger unumwunden hinter die Aktivitäten einer jüdischen Studiengruppe, die den vermeintlichen Antisemitismus des Theaterstücks „Die Vögel“ skandalisierte und dessen Aufführung an der Staatsoper München verhinderte, worüber sich die Antisemitismusbeauftragte „freue“ – wie sie offenherzig bekundete. Dass selbst der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, die Antisemitismusvorwürfe gegen das Theaterstück für grundfalsch hält und den Kritikerinnen und Kritikern ein bedenkliches Kunstverständnis vorhält: geschenkt.

Der dann folgende Antisemitismusbeauftrage des Bundes, Felix Klein, machte wenigstens deutlich, worauf er sich bezieht, wenn er Antisemitismus meint ausmachen zu können, nämlich auf das Konzept des „israelbezogenen Antisemitismus“ und den Drei-D-Test, wonach Dämonisierung, Delegitimierung und ein Doppelstandard in der Behandlung Israels antisemitisches Denken anzeige. Einen Tag später machte folgerichtig der ehemalige linksradikale Antideutsche Stephan Grigat, der nun als Professor vom Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien und der Katholischen Hochschule NRW vorgestellt wurde, deutlich, dass ihm eine ähnlich schwammig gelagerte Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die Kritik an Israel schnell in den Bereich des Antisemitischen zu schieben erlaubt, politisch passe, er aber auf Definitionen lieber ganz verzichten wolle. Unterscheidungsvermögen wird dadurch gewollt aufgegeben und Felix Klein schaffte es so auch, zwischen einer „Stürmer“-Karikatur und dem in Kassel gezeigten Wandbild „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi „keinen großen Unterschied“ zu erkennen. Von einem kaum mit der Geschichte und Wirkkraft des Antisemitismus vertrauten Zeitgenossen mag man Unterscheidungsvermögen nicht erwarten können, von einem Antisemitismusbeauftragten jedoch schon. Und Klein differenziert offensichtlich nicht zwischen einer geschlossenen Weltanschauung, die den Juden zum Übel der Welt stilisiert und deswegen auch seine Auslöschung anstrebt, und einem Befreiungsmural in Diego-Rivera-Manier, in das sich aufgrund eines originären indonesischen islamischen Antisemitismus, aber auch aufgrund einer besonderen Erfahrung der Kooperation der Suharto-Diktatur mit dem israelischen Geheimdienst tatsächlicher, Juden verzeichnender und sie generalisierend mit der Politik Israels kurzschließender Antisemitismus finden lässt; wohlgemerkt: als Bildelemente, nicht als zentrale Aussage.

Kleins vorschnelles und wissenschaftlich kaum zu haltendes Urteil, das zwischen einem linken Agitationsplakat und rechtsradikalem Weltanschauungsantisemitimus in Karikaturform nicht zu unterscheiden weiß, wurde auch im Folgenden nicht durch Expertisen und Untersuchungen der Referierenden korrigiert. So zeigte Prof. Dr. Julia Bernstein von der Frankfurt University of Applied Sciences in rascher, zu rascher PowerPoint-Präsentation einige judenfeindliche und antisemitische Bilder – vom Mittelalter, über den NS, den sowjetischen Hochstalinismus, Syrien der 80er bis zu heutigen Karikaturen. Darin gelang ihr festzuhalten, dass die beiden Bildelemente von Taring Padis Wandebild mit Schweinemotiv und einem Vampirismusmotiv einen klassischen antisemitischen Zoomorphismus bediene und mit SS-Runen, die einem orthodoxen Juden auf den Hut gemalt wurden, eine Täter-Opfer-Umkehr betreibe. Allerdings machten andere PowerPoint-Folien überhaupt keinen Sinn, so eine Bilderreihe von einer faschistischen Boykottaktion jüdischer Geschäfte in Hamburg 1933, dem bekannten Wandbild der autonomen Hafenstraße von 1988, das zum Höhepunkt der Intifada ein in Anführungszeichen gesetztes Israel und seine „Waren, Kibbuzim + Strände“ boykottiert sehen wollte – und als Drittes ein Foto eines Plakats, das zum Ende der documenta von Künstlerinnen und Künstlern platziert wurde, auf dem „BDS: Being in Documenta is a struggle“ stand. Bernstein hatte die Folie mit „Personifizierung von Machtverhältnissen“ überschrieben. Ähnlich ideologisch überformt oder schlicht das Thema verfehlend gestaltete sich eine weitere Folie, die unter dem Stichwort „Echo der Vergangenheit, Instrumentalisierung der Schuld“, zwei typisch antisemitische Karikaturen, eine deutsche, eine US-amerikanische, die eine angebliche jüdische Erpressung mit dem Holocaust zeigen, neben ein documenta 15-Plakat stellen, auf dem steht: „Free Palestine from German guilt“ und „Nakba is a Part of Erinnerungskultur“. Offensichtlich ist die Antisemitismusexpertin nicht gewillt oder nicht in der Lage, die auf der Hand liegenden Unterschiede, ja sogar diametralen Vorstellungen zu verstehen.

Wissenschaft sollte Unterscheidungen vornehmen können, sie hätte in komplizierten Angelegenheiten Politikerinnen und Politiker, die einer moralisierenden Öffentlichkeit und Medienwelt gegenüberstehen und deren Bedürfnisse immer stärker berücksichtigen, nachhaltig zu korrigieren und zu kritisieren. In dieser Hinsicht fiel Julia Bernstein aus. Bei solchen Expertinnen und Experten muss man sich über Staatsvertreter nicht wundern, denen wie Klein regelmäßig jeder Maßstab verloren geht. So bemerkte er in seinem Grußwort, die Künstlergruppe hätte „Juden direkt bedroht“ und dies mit dem Halleschen Synagogenanschlag kurzschloss. Den Unterschied allerdings wollte der Antisemitismusbeauftrage nur darin ausmachen, dass es bei Rechtsextremisten einen Sturm der Entrüstung auf linksliberaler Seite gäbe, wohingegen ein solcher Entrüstungssturm angeblich angesichts der ähnlich schweren Tat, wie sie Klein in Kassel hat sehen wollen, ausgeblieben sei. Halle, ein rechtsextremistischer terroristischer Anschlag, und Kassel, einige wenige Bilder mit antisemitischer Symbolsprache, erscheinen also wie ein und dieselbe antisemitische Bedrohung ...

Doch auf diesem Niveau blieb die Konferenz schließlich doch nicht. Jürgen Kaube von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ lieferte einen lakonischen Rückblick des Kassler Skandals, den er als Tragödie schilderte. Er machte auch deutlich, dass am Anfang ein Verdacht aufkam ohne Beleg, aus dem sich bereits sehr früh, noch vor der Entdeckung des Wandbildes, ein handfester Streit ergab. Er machte deutlich, dass der Disput von Seiten der Kuratorinnen und Kuratoren ins Absurde gedreht wurde mit Bemerkungen man wolle „lernen“, man sei „traurig, Gefühle verletzt zu haben“, um sich schließlich als Opfer zu präsentieren, das rassistisch unterdrückt werde. Tatsächlich konnte man den Eindruck gewinnen, dass Kuratorenkollektiv wie Geschäftsführung der Documenta völlig außer Stande waren, angemessen und politisch aufklärerisch zu agieren. So machte auch Marina Chernivski vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment deutlich, dass das indonesische Kuratorenteam sehr viel Macht hatte, sich aber wohl aus taktisch-strategischen Gründen in die Opferposition der immer überraschten und missverstandenen Künstler brachte. Am Sonntag versuchte sich Olaf Zimmermann vom Bundeskulturrat an einer Beantwortung der wichtigen Themenstellung des Kongresses, wer denn welche Verantwortung für eine solche Kunstausstellung und etwaige Verletzung der Würde des Menschen habe. Er stellte die These auf, dass die Künstler sich ohne Wenn und Aber auf die Kunstfreiheit beziehen können sollten, während die Geschäftsführung jedoch die Verantwortung zu übernehmen habe.

Lasse Schauder vom Sarah-Nussbaum-Zentrum aus Kassel lieferte einige wichtige und interessante Hintergrundinformationen zu diversen Exponaten der Documenta 15. Er betonte, dass das inkriminierte Wandbild ein Agit-Prop-Plakat sei, das zwar vor dem Hintergrund des Kampfes gegen das Suharto-Regime zu verstehen ist, aber ein ganzes Weltbild präsentiere. Auf einem anderen Panel erklärte der Künstler Leon Kahane, dass ihn als Kind der DDR das Wandbild an sozialistischen Realismus erinnere und verwies darüber hinaus auf den Muralismus eines Diego Rivera. Sicherlich ist hier ein linker Manichäismus anzutreffen, der naturgemäß bei den Rezipientinnen und Rezipienten in den liberalen Hallen der Friedrich-Naumann-Stiftung auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte. „Linke Weltrettung“, die Olaf Zimmermann dem BDS unterstellte, ist natürlich nicht die Sache eines FDPlers und erst recht nicht jener Besucherin, die ich beim Kaffeetrinken kennenlernen durfte und die sich als protestantische bibeltreue Christin voller „Liebe zum jüdischen Volk“ zu erkennen gab und Israels Wirken als von der Bibel gedeckt behauptete.

Doch für das Publikum kann man bekanntlich nichts, wenden wir uns also den Referaten zu. Zuweilen unterliefen auch den informiertesten Rednern einige Irrtümer: Lasse Schauder wollte in dem Wandbild von Taring Padi irrtümlicherweise einen Kampf zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“ – wesentliche Leitideologien der NS-Weltanschauung – erkannt haben. Tatsächlich machte er hier eine falsche Dichotomie aus. Taring Padi folgt einer internationalistischen und antiimperialistischen Klassenkampfideologie, keiner faschistischen Weltanschauung, für die die genannte Unterscheidung in zwei Kapitalformen bestimmend ist. Auch hier, zwischen links-antiimperialistischem Kampfvorstellung und faschistischer Ideologie nicht unterscheiden zu können, zeigt lediglich, wie weit aktuelle Antisemitismusbehauptungen, die sich mit ihrem Gegenstand auseinander setzen, totalitarismustheoretisch unterfüttert sind. Darüber hinaus werden Theoriebrocken der ideologisierten und allerhand Geraune hervorbringenden antideutschen Diskussion der Nuller-Jahre aufgegriffen und in die eigene politisierte Antisemitismusbeschäftigung eingebaut.

Kaum auf den Gegenstand selbst, sondern der eigenen identitätspolitischen Ideologie folgend agierten schließlich Anna Staroselski von der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands, die darüber hinaus noch Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft ist, sowie Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland. In den Ausführungen der beiden erschien die gesamte postkoloniale Debatte als etwas, das zielstrebig darin münde, Israel zu delegitimieren. BDS geriet zur unfassbaren Gefahr. Zwar wollte Kiesel der Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte beispielsweise in Namibia angemessen gedenken, die sich aufdrängende Frage, warum Israel in den Fokus von antikolonial oder postkolonial eingestellten Akteurinnen und Akteuren kommt, wurde beständig umschifft. Über Begriffen wie „Siedlungen“, „Besatzung“, „palästinensische Gebiete“ schien das Tabu ausgebreitet. Als Marina Chernivski dafür plädierte, den postkolonialen Diskurs nicht zu delegitimieren, beklatschten dies gerade mal zwei Personen im Publikum, einer davon Micha Brumlik.

Und so sorgten im Großen und Ganzen nur zwei Interventionen für etwas anderen Wind auf der Veranstaltung: In einer sehr dichten Videorede bezog sich der Soziologe Nathan Sznaider auf die Theorie der Ambiguitätstoleranz und -intoleranz von Else Frenke-Brunswik, hielt eine Mehrdeutigkeitsscheu und falsche Übereindeutigkeit den Kuratoren vor, die sich in falschen Klarheiten wiegten, wie ihren redundanten Bemerkungen, die ausgestellte Kunst sei „eindeutig nicht antisemitisch“. Doch Sznaider brachte seinen Ausführungen zur Ambiguitätsintoleranz so augenzwinkernd vor, dass sie auch wie eine Art Ermahnung an die Konferenzteilnehmer selbst verstanden werden konnten. So ließ Sznaider auch lakonisch bissige und unbequeme Kunst, Kritik an Israel, scharfen Antikolonialismus mit einem „ja bitteschön, warum nicht?“ gelten. Doch es war einzig dem Autoren Ofer Waldman aus Israel vorbehalten, die Ausrichtung des Kongresses nicht nur implizit, sondern deutlich zu kritisieren. Er verwies auf die Abwesenheit eines Diskurses über ein zusehends rassistisch sich gerierendes Israel und bezeichnete die Konferenz als ein Selbstgespräch vor dem Spiegel.

Zwar wurde betont, man habe sich auch um Einladungen der „Gegenseite“ bemüht, aber es sei niemand gekommen, doch als Zuschauer konnte man doch den Eindruck gewinnen, dass der Rahmen und das Ziel von vorneherein gesetzt waren. Die „Gegenseite“ war schließlich auch durchgehend mit Keywords wie „Amnesty Bericht“, „Dirk Moses“, „Schmerz der Anderen begreifen“, Initiative Weltoffenheit“ „Hijacking Memory“ raunend und andeutungsreich Objekt eines Insiderspotts. Außerdem war der Auftrag sowieso schon erteilt, so wünschte sich Felix Klein zu Beginn seiner Rede, man wolle eine „offenen Meinungsaustausch, um den BDS-Antrag durchzusetzen“. Offenheit sieht anders aus. Und mit zwei Referenten wurden bekannte ehemals radikal linke Antideutsche eingeladen, nämlich der erwähnte Stephan Grigat und Ingo Elbe von der „Roten Ruhr Uni“ Oldenburg, die die Konferenz nutzten, den Iran als antisemitische Weltgefahr zu überzeichnen, postkoloniale Theorien unisono als strukturell antisemitisch zu geißeln und einer Wehrhaftigkeit Israels und eines Kampfes gegen Antisemitismus das Wort zu reden, die weder menschenrechtlich fundiert zu sein haben noch auf bürgerliche Rechte Rücksicht nehmen müssen, von Fragen der Pädagogik ganz zu schweigen. So war für Elbe die Nachfrage, wie er denn mit einem palästinensischen Schüler in Berlin im Geschichtsunterricht umgehen würde, dessen Familiengeschichte ja nicht im deutschen Täterraum angesiedelt sei, nur die hämische und im Grunde rassistische Bemerkung zu entlocken: „Weltweit existiert Antisemitismus, vor allem im arabischen und muslimischen Raum. Und das soll nichts mit dem palästinensischen Schüler zu tun haben?“ Interessant zu beobachten war, dass diese beiden ehemals Linken an Autoritarismus und Schärfe die anwesenden liberalen Stimmen weit überflügelten. Dies dürfte dem Renegatenphänomen geschuldet sein – im Gegensatz zu gestandenen Liberalen, die Meinungsfreiheit achten, ist dies bei den neokonservativ gewendeten Ex-Linken oftmals nicht der Fall.

Die Konferenz hatte ein wichtiges Thema. Zu wichtig für die präsentierten Einseitigkeiten. Die mangelnde Schärfe bei der Definition dessen, was Antisemitismus ist, beziehungsweise, die kalkulierte Unschärfe, durch die Israelkritik, Kritik an der Besatzungspolitik und Sorge um die Demokratie in Israel den Stempel des Antisemitischen aufgedrückt werden kann, sowie die gewollten Auslassungen wurden so zum Ärgernis. Die Konferenz folgte einer Logik der Synonymisierung von Antisemitismus und Israel, wie Ofer Waldman beklagte. Das Selbstgespräch wurde zur Selbstbestätigung ohne Irritation. Zwar zeigte man sich von auf der Documenta ausgestellten 70er-Jahre-Videos der terroristischen japanischen Roten Armee Fraktion, die mit der palästinensischen Gruppe PFLP kooperierte, schockiert, man war aber nicht fähig, gerade vor diesem Hintergrund eines jahrzehntelangen blutigen nationalistischen Konflikts um Land BDS als gewaltfreie Praxis ins rechte Licht zu setzen. Man mag BDS – wie der Autor dieses Berichts – in seiner Praxis völlig falsch finden. Aber wissen, warum dieses Boykottbündnis existiert und was es von anderen politischen Kampfstrategien unterscheidet, sollte man schon. Will man das nicht, sollte man – um eine schreckliche Politikerphrase zu benutzen – sich ehrlich machen und einfach sagen: Wir finden die Besatzungspolitik in Ordnung. Oder in vulgär: Palästina, halt's Maul.

Halten wir fest: Die Fähigkeit Mehrdeutiges zu ertragen, so beispielsweise dass Israel eben neben Schutz- und Heimstätte für Juden auch siedlerkoloniales Unternehmen war und ist, Besatzungsrecht herrscht und Palästinenser im Westjordanland eingeschränkte Rechte haben, war der Mehrheit des Publikums wie wohl leider auch den Veranstaltern nicht gegeben. Ingo Elbe war es dann auch, der aussprach, was wohl die meisten dachten: Eine Debatte und Diskussion mit der Gegenseite mache doch gar keinen Sinn. Es lägen Welten zwischen den Kontrahenten. Nun wurden also die eine Seite gefördert aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestags. Geht so Demokratie und ist das noch Liberalismus oder bereits autoritärer Liberalismus?




Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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