Krieg der Erinnerung

Kriegslegitimation „Entnazifizierung“, „Genozid“, „Kampf gegen Faschisten“ – im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine kommen historische Vergleiche nicht zu kurz. Ein Einspruch

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Ukrainer:innen suchen Schutz in U-Bahnhöfen
Ukrainer:innen suchen Schutz in U-Bahnhöfen

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Wie jeder Krieg nach dem letzten großen, gerät auch der russische Krieg gegen die Ukraine zu einem Krieg der Erinnerung. Der Großhistoriker Dan Diner wollte im ersten Krieg nach dem, oder besser: inmitten des Zusammenbruchs der Kalten-Kriegs-Ordnung einen „Krieg der Erinnerungen“ erblicken, womit er suggerierte, dass die Akteure im Jahre 1991 von einem aktualisierenden Erinnern angetrieben seien: die USA als ewige Heimstätte eines Rooseveltschen Internationationalismus gegen einen vertragsbrüchigen Diktator, die Friedensbewegten in Deutschland von einem antiplutokratischen Antiamerikanismus nazistischer Provenience. Daran stimmte freilich nichts, nur eines konnte geleistet werden: Der Großtheoretiker selbst, ein ehemaliger neuer Linker der 68er-Zeit, fand seinen festen Platz an der Seite des US-dominierten Westens.

In einem dicht gedrängten Essay hatte 2014 inmitten der Ukraine-Krise die Berliner Philosophin Ilse Bindseil festgehalten: „Die Epoche ist vorbei, in der Antifaschismus ein hinreichendes Kriterium der Orientierung und Identifizierung, ein ebenso ethisches wie politisches Kriterium bot.“ Der Satz hatte damals etwas Prophetisches und er beweist seine Gültigkeit jetzt. Er ließe sich allerdings auch auf den NATO-Kosovo-Krieg von 1999 beziehen. Denn weder war Joschka Fischers Begründung der Bombardierung Serbiens mit „Nie wieder Auschwitz“ ethisch wie politisch korrekt. Im Endeffekt war es nicht viel mehr als die Legitimation eines eklatanten Verstoßes gegen das Völkerrecht. Noch waren die hilflosen Versuche der Gegenseite – von Peter Handke bis Hermann L. Gremliza – der Realität der blutigen Zerfallskriege und der darin situierten Rolle der serbischen Armee angemessen, wenn sie Serbien als Opfer einer pangermanischen, deutsch-völkischen und faschistischen Ideologie imaginierten.

Nur noch scheinbar, so Ilse Bindseil, sei der Antifaschismus „der stabile Pol innerhalb einer Wirklichkeit, in der er die Realität, die Realität aber nur noch das Willkürliche repräsentiert.“ Willkürlich erscheinen aktuell die Behauptungen Putins, man plane lediglich die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Leicht als Ideologie zu durchschauen ist die antifaschistische Rhetorik des Kreml, die gegen die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine in Anschlag gebracht wird. Niemand darf allerdings meinen, Ideologie könne sich nicht mit Wirklichkeitspartikeln aufladen: die ukrainische Faschistenszene ist groß, die Verehrung der Bandera-Tradition reicht bis zum hiesigen ukrainischen Botschafter. Gänzlich willkürlich sind die demagogischen Manöver des Kreml also nicht.

Ein Missbrauch der Worte und des Gedenkens

Darüber hinaus steckt im Ideologischen neben dem bösen Manöver, dem Westen die völkerrechtswidrige eigene Melodie von 1999 vorzuspielen, und der Legitimation eines Angriffskrieges, auch etwas Unbewusstes: Es sind die Begriff der Jalta-Ordung, die hier von Putin bemüht werden. Entmilitarisierung und Entnazifizierung sind die großen Worte der Anti-Hitler-Koalition der Potsdamer Konferenz. Es sind damit Begriff einer Epoche vor dem Untergang der Sowjetunion, der „weltpolitischen Katastrophe“ nicht nur in den Augen Putins. Insofern ist die antifaschistische Rhetorik hier auch erinnernder Anspruch auf Wiederherstellung verlorener Größe. Die traditionskommunistischen Freunde des alten Antifaschismus drohen dem auf den Leim zu gehen und ihr Antifaschismus, der sich mit diesem oder jenem empirischen Beweis eines aktuellen ukrainischen Faschismus auszustatten vermag, wird zu einem Legitimationsgesang des russischen Imperiums.

Die Erklärung von Mitgliedern der internationalen Komitees und der nationalen Vereinigungen der Nazi Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Buchenwald-Dora, Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Natzweiler-Struthof, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen erinnert stattdessen daran, dass Russen und Ukrainer „von den Nazis als dieselbe Kategorie von Häftlingen registriert worden“ waren, schließlich waren sie „denselben Entbehrungen, Demütigungen und lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt“. Sie konnten sich, so der Appell zum Ende des Krieges, nur auf die Solidarität unter den Deportierten verlassen, um zu überleben und hatten als Bürger der Sowjetunion ihren Teil am gemeinsamen Kampf gegen den Nazi-Aggressor beigetragen. Der Appell ist eindeutig: „Als Träger des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus verurteilen die Unterzeichner:innen dieses Aufrufs die Verwendung der Worte Entnazifizierung und Völkermord zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine. Wir sind legitimiert, das Gewicht der Tragödie, die diese Worte bedecken, geltend zu machen. Wir können nicht akzeptieren, dass diese Worte so missbraucht werden.“

Auch der vom Schauspieler zum ukrainischen Präsidenten gewordene Selenskyi weiß sich allerdings in historische Kostüme zu schmeißen. Nachdem die Gedenkstätte Babyn Jar zu Beginn des Krieges zum Objekt von Kriegshandlungen wurde, erklärte er umgehend, es drohe die Gefahr, dass der Holocaust sich wiederhole. Selenskyi setzt in einer Rede nach diesem Vorfall das Schicksal der Juden im Holocaust mit dem möglichen Schicksal der Ukrainer in der Gegenwart gleich. Babyn Jar steht für eines der brutalsten Massaker auf dem Territorium der Sowjetunion, als innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD ermordeten wurden. Wehrmachtssoldaten wie ukrainische Hilfspolizisten waren an dem Massaker beteiligt.

Verzerrung historischer Fakten

Im Westen sorgte Selenskyis geschichtspolitisches Manöver kaum für Irritation und Kritik, zuweilen wurde es sogar affirmativ aufgegriffen. Erst als er in seiner Rede an das israelische Parlament die russische Invasion mit der „Endlösung“ verglich, erhob sich Kritik. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem wies „Trivialisierung“ und Verzerrung der historischen Fakten des Holocaust zurück. In einer klug ausgewogenen Stellungnahme erklärte die israelische Gedankstätte mit kritischem Blick sowohl auf Putin als auch auf Selenskyi: Es werde im Zusammenhang mit den Kämpfen Propaganda verbreitet, die falsche Vergleiche mit der Ideologie und den Taten der Nazis ziehe.

Als Jitzchak Rabin am 12. und 13. September 1995 die Gedenkstätte Babyn Jar besuchte, erklärte er: „Und hier in diesem Höllenschlund endete die Geschichte einer großartigen jüdischen Welt – der Welt der ukrainischen Juden, aus deren Mitte die ersten Träumer von Zion hervorgingen, die besten jüdischen Dichter und Schriftsteller, die großen Pioniere und Wegbereiter des Zionismus.“ Diese zionistische Geschichtsmythologie mag man im kritischen Geiste von Peter Novick ablehnen. Mit der präsentierten Kontinuitätslinie von jüdischen Opfern zu jüdisch-zionistischen Helden spricht sie nicht nur der israelischen Staatsräson dienendes Falsches, sondern auch empirisch Wahres aus. In Hinblick auf die ukrainische Geschichte ist eine solch lineare Rezeption von vornherein verstellt: dafür gab es unter den Ukrainern der 40er Jahre empirisch zu viele Täter, die sich den deutschen Haupttätern andienten. Das ist, so Ilse Bindseil: „eine Sternstunde der Wahrheit, aber von gestern“. Für den jetzigen russisch-ukrainischen Krieg sind diese Erkenntnisse nämlich kaum von Nützlichkeit, nur ideologiekritisch, als negative Einsprüche gegen Mythen können sie Geltung beanspruchen.

Ilse Bindseil Antifaschismus – Kritik contra Geschichte, in: G.Hanloser (Hg.), Deutschland.Kritik, Münster 2015, S.352-364.

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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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