Heimat und Widerstand

Literatur Vergleichen wir „Die Brücke vom Goldenen Horn“ der aktuellen Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar mit dem Flucht- und Exilroman „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers, der im Jahre 1942, also vor genau 80 Jahren, erschienen ist.

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Was verbindet „Das siebte Kreuz“ mit „Die Brücke vom goldenen Horn“? Auf den ersten Blick wenig. Im Roman „Das siebte Kreuz“ begegnen uns politisch Verfolgte des Dritten Reiches, die Hauptprotagonisten sind Kommunisten, Antifaschisten, Nazigegner. Der scheinbar eindeutige Migrationsroman „Die Brücke von goldenen Horn“ von 1998 schildert anfänglich die Situation einer jungen türkischen Gastarbeiterin in Deutschland und entwickelt sich aufgrund der Beschreibung der Genese der türkischen Militärdiktatur ab den frühen 70er Jahren zu einer Art modernem Exilroman, löst unter der Hand gängige Vorurteilsbilder vom unwissenden „Arbeitsmigranten“ auf und stellt gleichzeitig eine literarische Verarbeitung des „roten Jahrzehnts“, also der Nach-68er-Zeit, dar. Beide könnten als Flucht- und Exilromane gelesen werden. Seghers Werk könnte als der große Roman der alten Linken gelten, das Buch von Özdamar wirft einen migrantisch-linken Blick auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse der 70er Jahre.

Seghers beschwört die zerrissenen, dennoch aktivierungsfähigen sozialistisch-kommunistischen Netzwerke, den nie zum Verstummen zu bringende Humanismus der spontanen Hilfe für einen Gehetzten. Die versprengten Reste der kommunistischen Opposition stellen schwache Hoffnungsträger dar, Knotenpunkte, die das überall anzutreffende „Gute“ im Menschen verbinden, das laut Seghers der „innere Bestand“ ist. Viele Protagonisten in „Das siebte Kreuz“ sind verlässlich als Freunde wie als Fremde, und unzuverlässig im Sinne der Herrschaft – wie der Pfarrer, der die alten Klamotten von Heisler verbrennen lässt, wie der HJ-Junge Fritz, der nicht mehr auf Teufel-komm-raus seine von Heisler entwendete Jacke wiederhaben will, sondern sich plötzlich mit dem Flüchtenden identifiziert, wie die unzähligen anderen, die Heisler erkennen, aber (man mag es nicht glauben) nie denunzieren. Bei Özdamars „Die Brücke vom goldenen Horn“ sind die personen, die den weg der Protagonistin kreuzen, weit weniger gut, eher tragisch, lächerlich, in ihren Egoismen und Marotten aber ungefährlich. Und was den Hauptprotagonisten anbelangt, der hier eine hauptprotagonistin ist, so stellt nicht so sehr ein über allem stehendes sozialistisches Bewusstsein das tragende Motiv dar, sondern tatsächlich werden Lernprozesse in den Vordergrund gestellt, die allerdings selbstironisch geschildert werden. Die Arbeiterinnenerfahrungen in der Fabrik wie im Wohnheim, die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und das Erleben von Kunst und Schauspiel als performative Akte der Selbstdarstellung wie der Kommunikation sind die Erfahrungswelten, die die Protagonistin durchschreitet. Sie beobachtet mit spöttischer Distanz die Diskussionen in sozialistischen Arbeitervereinen der 70er Jahre, bemerkt, dass die Diskussionen in solchen politischen Gruppen oft eigenen Diskursregel unterworfen sind. Das beständige Sich-Unterbrechen in den hitzigen Polit-Diskussionen wird in das Bild der sprechenden Scheren, die sich gegenseitig die Sätze abschneiden, gebracht.

Die Protagonistin geht ihren Weg, raus aus der Arbeitswelt, rein ins Theater, das nicht als Schillersche moralische Anstalt, sondern im Brechtschen Sinne als Ort fungiert, an dem Erkenntnisprozesse denkend und reflektierend durchlaufen werden. Die Produktion, die Arbeitswelt scheint kaum mehr Ort der privilegierten Erkenntnis und der Herausbildung eines "enormen Bewusstseins" (Marx) zu sein.

Dass die Ich-Erzählerin schließlich Huren und politisch Radikale zusammen auf die Bühne führt, ist ein Wiederauftauchen einer alten Utopie, eines Motivs wie sie im Bild vom „Anarchisten und dem leichten Mädchen“ präsent ist oder in der Literatur von Baudelaire besungen wird. Darin beerbt sie den sozialkritischen und moralkritischen Impetus von Bertolt Brecht.

Politik, Sex und Theater werden dem Leser von „Die Brücke vom goldenen Horn“ als offene Räume, als Orte, die Möglichkeitshorizonte eröffnen, präsentiert. Der Roman lässt jeglichen erhobenen Zeigefinger und eine allzu deutliche Moral, wie sie in Seghers Text transportiert wird, vermissen. In „Die Brücke vom goldenen Horn“ existieren zwei Erzählhaltungen: eine jugendlich-naives erlebendes Ich und eine aus der Distanz zu dieser Naivität entwachsene souverän-ironische Erzählerin. Ironie ist in diesem Roman ein wichtiges Stilmittel und gleichzeitig eine Überlebensstrategie. Dies zeigt sich auch in der gewitzten Zeichnung der Sexualität in „Die Brücke vom goldenen Horn“: Die Protagonistin hat ein spielerisches Verhältnis zur Libido. Bei Özdamar ist der „Verlust des Diamanten“, also die angestrebte Entjungferung der Protagonistin als Emanzipationsprozess gezeichnet, die selbst den Stellenwert der Sexualität bei dem „Epikuräer“ Heinrich Heine, der sie augenzwinkernd in Bildern von Nahrungsmittelgenuss im „Wintermärchen“ besingt, in den Schatten stellt. Die junge Frau findet Sicherheit, neue Selbst- und Fremdwahrnehmung, ein neues Körpergefühl, ein anderes Verhältnis zu ihren Eltern, selbst eine andere Sprache im Prozess der libidinösen Triebbefriedigung – ohne dass jedoch die hochtrabenden Sexualtheorien von Wilhelm Reich bis Herbert Marcuse, die immerhin zu der Zeit, in der der Roman spielt, also um 1968, zirkulierten, angesprochen würden.

Und bei Anna Seghers? Obwohl ihr Volksfront-Roman eine starke Moral transportiert, und in der Phase der Volksfrontkulturproduktion ja auch eine Rückbesinnung auf bürgerliche Werte und Ideale erfolgte, weist Anna Seghers kleinbürgerliche Moralvorstellungen von sich. Der Protagonist Georg Heisler ist im Umgang mit Mädchen und Frauen kein Held, er wird als reichlich egozentrisch, wenig verlässlich und treu beschrieben. Gleichzeitig hält er den Verhören stand und verrät niemanden. Seghers lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die politisch relevante Haltung ihres Protagonisten die privaten „Verfehlungen“ bei weitem überflügelt. Darüber hinaus wird der Protagonist zu einer mittleren Identifikationsfigur, er ist kein absoluter, unerreichter Held. Das Politische nimmt eine klar dominante Rolle ein – auch in Liebesbeziehungen. So gewinnt eine erlahmte Ehe in dem Maße wieder Kraft und gegenseitiges Zutrauen, wie sich gegen Ende des Romans das ungleiche Paar – der kühle Intellektuelle Kreß und seine offensichtlich vamphafte Frau Gerda – bei der Unterstützung der Flucht des Georg Heisler auf eine gemeinsame „dritte Sache“ beziehen können.

In beiden Romanen geht es um „Heimat“. In Anna Seghers Roman fungiert ein Rezept für Dampfnudeln als Code der Widerständigen, dennoch duften und schmecken die realen Dampfnudeln. Sie bleiben den Protagonisten als das erhalten, was sie in einer „normalen Gesellschaft“ auch sind: sinnliche Genussmittel. Die wiederholten Diminutive, die Seghers in ihrem teils märchenhaft anmutenden Roman verwendet – die Wäldchen, Häuschen, Schühchen, Frauchen –, stehen für eine an und für sich unschuldige, wenn nicht sogar „gute“ Welt, die man lediglich von der faschistischen Herrschaft, die sich parasitär darübergelegt hat, befreien könnte. Es stellt sich in der Beschreibung der einfachen Dinge des alltäglichen Lebens – besonders angesichts der Dampfnudeln einer Arbeiterfamilie, die vielleicht Hilfe für den Lagerflüchtigen bereithält, und in so einigen weiteren Küchenszenen – eine heimelige Atmosphäre eine. Die an Märchenerzählungen erinnernde Sprache korrespondiert mit dem naiv anmutenden Optimismus von Seghers Werk, dessen Autorin aber noch kritisch genug ist, um auch Ideologien des Alltagslebens nachzuspüren. Alle Dampfnudel-Wohligkeit wird durch plötzliche Distanzierung konterkariert: Georg Heisler nimmt sehr genau den Nippes und Kitsch in der Wohnung des augenscheinlich volksgemeinschaftlich-integrierten ehemaligen Jugend- und Schulfreundes Paul Röder war und erkennt darin die Gefahr, die dann allerdings – Hoffnung! – doch nicht vom alten Schulfreund droht.

In der "Brücke zum Goldenen Horn" gibt es nichts vertrautes, keine „Heimat“. Die Ich-Erzählerin findet sich einem gehetzten Hin-und-Her ausgeliefert, in dem das „Wohnheim“ für Vertragsarbeiter das fremde „Wonaym“ ist: „In den ersten Tagen war die Stadt für mich wie ein endloses Gebäude. In München aus der Zugtür raus mit den anderen Frauen, rein in die Bahnhofsmission. Brötchen – Kaffee – Milch – Nonnen – Neonlampen, dann raus aus der Missionstür, dann rein in die Tür des Flugzeugs, raus in Berlin aus der Flugzeugtür, rein in die Bustür, raus aus der Bustür, rein in die türkische Frauenwonaymtür, raus aus der Wonaymtür, rein in die Kaufhaus-Hertietür am Halleschen Tor.“

Existiert bei Seghers noch ein links zu besetzender Heimatbegriff, in dem Kennen und Gekannt-Werden zur Voraussetzung von widerständischem Überleben wird, ist bei Özdamar „Heimat“ mit einem Unbehagen behaftet: Anatolien erscheint als rückständig, der türkische Nationalstaat ist diktatorisch, Deutschland fremd. Nur große Namen wie Marx oder Brecht stiften theoretisch-ideologische Verbundenheit zwischen einigen alteingesessenen Linken und der selbstemanzipierten jungen Frau. Aber „Heimat“ ist das nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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