Könnte für „Peace“ stehen, meint hier aber „Victory“: Installation vor der russischen Botschaft in Prag
Foto: Michael Cizek/AFP/Getty Images
Die Diversität hier ist ja noch steigerungsfähig!“ Lachen. Die Bemerkung der oder des Teilnehmenden schien den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Im Naturfreundehaus Hannover, wo die Tagung des Bundes für Soziale Verteidigung ein ganzes Wochenende Konzepte für gewaltfreien Widerstand ausloten wollte, versammelten sich meist ältere Friedensfreunde. Auf dem Transparent vor dem langgezogenen Podiumstisch stehen die Parolen „Militär und Rüstung abschaffen“ und „Wehrhaft ohne Waffen“.
Letzteres ist auch der Name einer 2022 ins Leben gerufenen Kampagne. Durch sie soll das ältere Konzept der Sozialen Verteidigung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. In Hannover wird schnell deutlich: Hier treffen sich ke
Konzept der Sozialen Verteidigung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. In Hannover wird schnell deutlich: Hier treffen sich keine „Unterwerfungspazifisten“. Dieser abwertende Begriff zirkulierte vergangenes Jahr, der aktivistische Direktor der Berliner Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, Ralf Fücks, wie der Politologe Herfried Münkler verwendeten ihn. Wer angesichts des russischen Angriffs im Februar 2022 nicht Waffen, am liebsten immer schwerer, für die Ukraine forderte, nach Alternativen suchte oder gar Pazifist blieb, sah sich schnell Anklagen ausgesetzt.Befreiung in SlawutytschNun ist es bequem, Pazifist in Friedenszeiten zu sein. Die pazifistische Gesinnungsethik muss sich ja erst in tatsächlichen Krisen- und Kriegszeiten beweisen. Schaut man genauer hin, hat sie wenig gemein mit den Verzeichnungen, die ein bellizistisches Milieu vornimmt. Soziale Verteidigung ist eine Methode und Strategie des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstands. In den 1980er-Jahren war dieser Begriff bekannter als heute. Auch die Friedens- und Konfliktforschung diskutierte empirisch unterfüttert die Chancen nichtmilitärischer, gewaltfreier oder unbewaffneter Konfliktbearbeitung. Kritische Friedensforschung hatte bereits vor dem 22. Februar 2022 einen schweren Stand. Nun, nach Ausrufung einer „Zeitenwende“, scheint sie vollständig marginalisiert zu sein.Die Grenzen der Sozialen Verteidigung sind offensichtlich. Der dänische zivile Widerstand gegen die Nazis etwa hatte zur Voraussetzung, dass die Dänen in der NS-Ideologie ebenfalls als Arier galten. Bevölkerungsgruppen, die einer genozidalen Gewalt ausgesetzt sind, werden ihren potenziellen Mördern kaum mit gewaltfreier Geste und Ansprache begegnen können. Nur die Waffen der kurdischen YPG-Guerilla konnten deshalb den Islamischen Staat in ihrem Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden aufhalten.Wie der Ruhrkampf 1923?Im Tagungsraum der „Soziale-Verteidigung“-Tagung liegen vergilbte Bücher und Schriften aus wie das Standardwerk von Theodor Ebert mit dem Titel Gewaltfreier Aufstand. Daneben eines jener schmalen roten 1970er-Jahre-Bücher aus der rororo-aktuell-Reihe, es präsentiert Studien über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Genannt werden der Kapp-Putsch 1920, der Ruhrkampf 1923, Algerien 1961 und die ČSSR 1968. Alles anachronistisch? Der Ruhrkampf, immerhin genau 100 Jahre her, ist in Hannover dann auch Thema einer Arbeitsgruppe von Barbara Müller. Sie hat zu dem Thema promoviert und ist im Vorstand des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung.Sie erinnert an Streiks und behördliche Sabotage der Bevölkerung an Rhein und Ruhr nach der Okkupation der bis dahin unbesetzten Teile des Ruhrgebiets durch Besatzungstruppen Frankreichs, um Reparationszahlungen zu erzwingen. Mit Theodor Ebert könnte man hier von einem Beispiel „dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration“ sprechen. Gemeinhin gilt der Ruhrkampf als verloren, der Widerstand brach zusammen. Dennoch konnte eine Übernahme des Ruhrgebiets durch Frankreich verhindert werden und später wurde der Dawes-Plan vorgelegt und entspannte die Lage mittels Neuregelung der aus dem Ersten Weltkrieg resultierenden Reparationszahlungen.Über allem schwebt der Ukraine-KriegÜber all diesen Erzählungen wie über der ganzen Tagung schwebt der Ukrainekrieg. Ob die zivilen Elemente des Ruhrkampfs ein Beispiel geben könnten für einen anderen, nichtmilitärischen Weg, um die russische Invasion abzuwehren oder zu unterlaufen? Das wäre ja alles hypothetisch, wehrt Barbara Müller ab. Es liegt an den Gesellschaften selbst, zu entscheiden, welchen Weg sie wählen. Sie könne und wolle keine Vorschriften machen oder Handreichungen geben.Placeholder infobox-1Andere Teilnehmer der Tagung verweisen darauf, dass es bis heute zivilen Widerstand in der Ukraine gebe. So wird dann auch der Professor für Sozialen Wandel, Advocacy und Menschenrechte an der Sciences Po Paris und der Universitat Oberta de Catalunya, Felip Daza Sierra, der zur Zeit an der Kiewer Mohila-Akademie lehrt, für einen Onlinevortrag zugeschaltet. Er berichtet über vielfältige gewaltfreie Aktionen wie in der Arbeiterstadt Slawutytsch bei Tschernobyl, in der es zu einer großen Mobilisierung gegen die russische Besatzung kam – sie endete mit der Befreiung des Bürgermeisters und dem Rückzug der russischen Armee.Dies kann allerdings nur in der Konfrontation mit einfachen Soldaten regulärer Armeen funktionieren, mafiöse Paramilitärs, Privatarmeen und Söldner sind für solche Formen des auf Empathie und Solidarität setzenden Dialogkonzepts nicht empfänglich. Tatsache ist: Die Grundidee der Sozialen Verteidigung, dass Menschenleben und Strukturen einer Gemeinschaft wichtiger sind als politisch-historische Einflusssphären oder die Verteidigung der Nation, kam in der Ukraine angesichts des russischen Überfalls mehrheitlich nicht auf, auch wenn Einzelstimmen sich dem verpflichtet fühlen.In einer weiteren Arbeitsgruppe allerdings wurden die Teilnehmenden mit einer Vielzahl gelungener Beispiele des „Civil Resistance“ vertraut gemacht. Der langjährige Aktivist Jan Stehn stellte die Forschungsergebnisse der hierzulande nicht übersetzten, empirisch arbeitenden Konfliktforscherin Erica Chenoweth vor. Diese hat mehr als 600 Beispiele von gewaltfreien und bewaffneten Aufständen aus den Jahren 1900 bis 2019 miteinander verglichen. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die meisten Konflikte nachhaltiger gewaltfrei gelöst wurden. Bewegungen, die mehrheitlich sozial und gewaltfrei agierten, hatten eine längere Friedenswirkung und konnten mehr Menschen mobilisieren. Dabei waren auch die allermeisten gewaltfreien Bewegungen mit tödlicher Gewalt konfrontiert, wiesen aber eine weniger hohe Opferzahl auf als bewaffnete Aufstände. Wichtig sei eine Flexibilität gewaltfreier sozialer Bewegungen. So beendeten Gewerkschaftsaktivist*innen und Nachbarschaftsnetzwerke im Sudan 2019 nach Militär-Massakern ihre Straßenproteste und riefen zu einem Generalstreik auf.Vorbild Letzte GenerationAktuelle gewaltfreie Bewegungen auf dem ganzen Globus seien dann erfolgreich, wenn Frauen ihnen das prägende Gesicht geben und Bündnisfähigkeit im Aufstand beweisen würden. Um mit dem Friedensforscher Johan Galtung zu sprechen, müssten die Aktionen angemessen und „zielenthüllend“ sein, also für andere deutlich machen, was man damit bezwecken wolle. Das Internet sei Segen wie Fluch gleichermaßen. Es führe zu „leaderless movements“ und könne dezentrale Netzwerke stärken, lädt aber auch dazu ein, den realen Organisationsaufbau zu vernachlässigen.Wer ist Adressat dieser sehr ernsthaften Diskussionen und Überlegungen, die die Raumtemperatur im Naturfreundehaus zuweilen steigen ließen und Frischluftzufuhr nötig machten? In der Anti-AKW-Bewegung der 1970er- und 80er-Jahre, die schließlich einen späten gesellschaftlichen Sieg erheischen konnte, wurden diese Fragen breit diskutiert. Dass Kartoffelbrei-Angriffe auf Kunstwerke und Festkleben auf Straßen durch Aktivist*innen der Letzten Generation Bündnisfähigkeit beweisen oder die Ziele bereits in der Aktion sinnvoll transportieren, wurde von einigen Teilnehmern bestritten. Sicher sei jedoch, dass die Klimabewegung sich aktuell am deutlichsten in der Tradition des zivilen Widerstands bewegen und spannende Lernprozesse durchlaufen würde.Ein Tagungsbesucher war Gründungsmitglied der anarchistischen Zeitung Graswurzelrevolution, eine andere erklärte mir beim Mittagessen resolut: „Anarchisten sind wir nicht!“. Unklar blieb, ob Soziale Verteidigung eher dem herrschaftskritischen Antimilitarismus verpflichtet ist oder, realpolitisch gestimmt, einer als notwendig erachteten „Landesverteidigung“ zur Seite gestellt werden soll. Den nationalen Rahmen überschreiten jene Aktivisten, die sich föderalistisch auf widerständige Regionen wie das Wendland beziehen und dort vor Ort an partizipativen Konzepten feilen.Um die Diversität nicht nur im Naturfreundehaus in Hannover, sondern in zivil-gewaltfreien Kampagnen und Bewegungen zu stärken, plädierte der Geograf und Friedensforscher David Scheuing, Redakteur von Wissenschaft & Frieden, dafür, dass Soziale Verteidigung „intersektional gedacht“ werden muss. Bei der diesbezüglichen AG-Vorstellung fragte eine ältere Friedensfreundin irritiert nach, was denn dieses „inter...sektional“ bedeuten würde. Auch der Pazifismus sieht sich mit spezifischen Zeitenwenden konfrontiert.
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