Singularität und Vergessen

Neuer Historikerstreit Die Frage der Singularität des Holocaust ist im deutschen Kontext nicht die erste kontroverse Geschichtsdebatte. Ein Blick auf Debatten der Vergangenheit lohnt sich.

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Die Singularität des Holocaust steht erneut zur Disposition. Abseits der banalen Feststellung, dass jedes Massenverbrechen Singularität aufweist, stellt sich bei vergleichender Herangehensweise die Frage, was das gemeinsame Dritte ist, das den Vergleich rechtfertigt. Die totalitäre Herrschaft einer Staatspartei, die sich durch den Einsatz massiven Terrors, eines Lagersystems und radikaler Feindbestimmungen auszeichnet, schienen Hannah Arendt und anders gelagerten Totalitarismustheorien des Kalten Kriegs der Vergleichspunkt zu sein. Ernst Nolte bemühte den Vergleich zwischen bolschewistischem „Klassenmord“ als ursprünglicher Tat und dem „Rassenmord“ der Nazis als angebliche Reaktion darauf. Dem war freilich eine gute Portion von geschichtsrevisionistischem Bedürfnis beigemischt. Ganz anders ist die Intention heutiger Akteure: Michael Rothberg will eine multidirektionale Erinnerung anstoßen, um eine Art antirassistische Regenbogenkoalition zu schmieden. Er argumentiert mit Hannah Arendts Hinweisen auf die Verschränkung von Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus. Was den Holocaust anbelangt, sucht er den kleinsten gemeinsamen Nenner, den er mit Giorgio Agamben in staatlichen Gewaltverbrechen biopolitischer Art erblickt. Nach Dirk Moses ist das „Streben nach permanenter Sicherheit“ der Kern der Nazi-Weltanschauung, womit er nicht nur das Wesen des Holocaust verkennt, allerdings Anschluss findet an ältere linke Debatten, die auch – gegen Hannah Arendt – Massaker des Westens wie während des Vietnamkriegs in den Horizont von Naziähnlichen Kriegsverbrechen rücken. Der Begriff der „permanenten Sicherheit“ ermöglicht ein assoziatives Entdecken von Ähnlichkeiten unterschiedlicher kriegsführender und gewaltsam gegen Bevölkerungsgruppen operierender Gesellschaften und Staaten. Damit wird nicht nur die Spezifik des Holocaust eingeebnet, die in dem globalen und totalen Anspruch auf Auslöschung jüdischen Lebens besteht, sondern auch die Spezifika anderer Völkermorde, Kolonialkriege und asymmetrischer Kriege verwischt. Diese Verwischung könnte der aktuelle postkoloniale Effekt in der Holocaust-Diskussion genannt werden und erinnert an die sprunghaft-assoziative Lektüre dekonstruktivistischer und postmoderner Philosophen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida. In dieser Haltung steckt allerdings auch ein anarchistischer Effekt, „Staatsräson“ und „nationale Interessen“ zu hinterfragen und nicht gelten zu lassen.

Alle bisherigen deutschen Debatten um den Holocaust endeten paradoxer Weise damit, dass entscheidende Erkenntnisse aus der Diskussion verdrängt wurden. In der Debatte um eine „Ökonomie der Endlösung“ (Götz Aly/Susanne Heim) Anfang bis Mitte der 90er Jahre ging es um die Frage der Rationalität des Völkermords an den Juden. Sie wurde von den beiden Historikern aufgrund von Täterforschung angestoßen und zeigte, wie weitgehend sich Ökonomen, Bevölkerungsplaner, Raumplaner, Statistiker, Agrar- und Ernährungswissenschaftler in die Vernichtungspolitik mit Expertisen und Sachwissen einbrachten. Ohne diese akademischen Eliten, die einer bürokratischen und kapitalistischen Sachzwang-Logik folgten, hätte es den Holocaust nicht in der Form gegeben, so Aly und Heim. Die Debatte endete mit einer Zurückweisung der Thesen von Heim und Aly, dass im Zentrum des Holocaust in erster Linie wissenschaftliche „Vordenker der Vernichtung“ mit raumplanerischen Ideen imperialistischer Völkerverschiebung stünden. Aly widerrief sogar diese These, die doch ein Ergebnis seiner Forschung war. Die historische Fachwelt war sich einig: Die Rolle der rassistischen und antisemitischen Ideologie und ihrer Eigenlogik sei zu gering veranschlagt worden. Ein Schwergewicht lag dann in der Beschäftigung mit dem Holocaust auf der Wirkung des Vernichtungsantisemitismus auf die Opfer („schwarzes Loch des Verstehens“ und “Zivilisationsbruch“ nach Dan Diner). Den Holocaust im allgemeinen Kontext einer imperialistischen und zweckorientierten Politik zu behandeln, war damit der öffentlichen Wahrnehmung entzogen. Diese weitgehend verdrängte Erkenntnis taucht nun in neuer Form bei Dirk Moses Interventionen auf, wobei er auch Wert darauf legt, das Paranoide der Naziweltanschauung herauszuarbeiten, das in ihrem Kampf gegen die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ bestehe.

Die Debatte um „Hitlers Willige Vollstrecker“ von Daniel Goldhagen 1996/97 verlief vor einem ungeahnt großen (Medien-)Publikum. Goldhagen schob den christlich ausgeprägten kulturellen Code des Antisemitismus, den alle Deutschen geteilt hätten, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. „No Germans, no Holocaust“ war das von ihm stammende Schlagwort und er zeigte die Enthemmung und Grausamkeiten unter normalen Deutschen im Vernichtungskrieg im Osten. Die Zuspitzung, alle Deutschen teilten einen eliminatorischen Antisemitismus, wurde schließlich von den historischen Fachkollegen zurückgewiesen. Zwar waren zehntausende Deutsche an den Mordaktionen beteiligt, ihre Motivlage sei jedoch unterschiedlich und die Führungsgruppen des Reichssicherheitshauptamtes, der SS und der Einsatzgruppen müssten als Kerngruppe des Völkermordes angesehen werden, welche aus der Mitte und den Führungsschichten der deutschen Gesellschaft entstammten.

Antipode zu Goldhagen war Norman G. Finkelstein, der in Deutschland 2001 die Streitschrift „Die Holocaustindustrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird“ vorlegte und eine breite Debatte auslöste. Bekannte Historiker meldeten sich zu Wort und relativierten in der Regel Finkelsteins Thesen. In feuilletonistischen Beiträgen und von deutsch-linker Seite wurde ihm das strategische Argument entgegengehalten, er bekomme mit seiner Kritik Beifall von der falschen Seite. Mehr noch als um Fragen der Entschädigungszahlungen ging es Finkelstein darum, provokant die Frage aufzuwerfen, wie künftig dem Mord an den europäischen Juden erinnert werden soll, womit er einen Vorgriff dessen wagte, was nun durch Dirk Moses der deutschen Öffentlichkeit angetragen wird.

In der deutschen Öffentlichen stehen seit den Nullerjahren das persönliche Bedürfnis der Erforschung eigener Familiengeschichte(n) im Vordergrund. Dadurch, durch die Desavouierung des Umgangs der DDR mit den Naziverbrechern und aufgrund der juristischen Verfolgung wegen Beihilfe an Massentötungen in Konzentrationslagern, die durch den deutschen Demjanjuk-Prozess eröffnet wurde, steht allerdings – im Sinne Goldhagens – der „kleine Täter“ im Fokus, dahingegen scheinen die Trägergruppen, Eliten und Profiteure des Völkermords vergessen. Erkenntnisse der DDR-Historiographie und linker Geschichtswissenschaft (OMGUS-Berichte der Ermittlungen gegen I. G. Farben, Deutsche und Dresdner Bank) wirken in der Öffentlichkeit anachronistisch und werden folglich ignoriert.

Jede Holocaust-Debatte war überwölbt von politischen Fragen, die sich aus Weltanschauungen, Zeitströmungen oder tagespolitischen Geschehnissen ergaben. Heim/Alys Intervention wurden unter Historikern und weitgehend abgeschotteten linken Zirkeln diskutiert, kaum in einer relevanten Öffentlichkeit. Ihre Thesen könnten als Versuch gesehen werden, den Fokus auf karrieristische Eliten, Profit- und Verwertungsinteressen, bürokratische Abläufe, also einen kapitalismuskritischen Fokus, den die antikapitalistische Nach-68er-Linke vornahm, auch in der Holocaustforschung geltend zu machen. Dass dies Anfang der 90er Jahre anachronistisch wirkte, könnte auch auf den Zerfall linker Weltbilder und Terminologie zurückgeführt werden.

Mit Goldhagens Betonung der individuellen Verantwortung der Täter und seiner expressiven Darstellung von Gewalt traf Goldhagen einen Nerv beim Publikum, sodass historische Fachwelt und rezipierende deutsche Öffentlichkeit auseinandertraten. Die Goldhagen-Debatte zeigte ein gesteigertes und zuweilen kuriose Formen annehmendes Bedürfnis unter jüngeren Deutschen, sich mit der deutschen Tätergeschichte auseinanderzusetzen und sich zu ihr zu bekennen. Damit markierte sie einen radikalen Wandel und Bruch zu der jahrzehntelang eingeübten apologetischen und auf Verdrängung setzenden Nicht-Kultur von Erinnerung. Erst wenige Jahre davor protestierten Teile der Öffentlichkeit lautstark und apologetisch gegen die ab 1995 initiierte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“.

Gleichzeitig zeigte die Goldhagen-Debatte auch, dass sich das Holocaust-Gedenken globalisierte und der Holocaust zu einem „universellen moralischen Schlüsselwort“ (Daniel Levy/ Natan Sznaider) wurde. „Nie wieder Krieg“ war als Lehre aus dem Faschismus an den Rand gedrängt. Goldhagen selbst sprach sich vor dem Hintergrund seiner Forschung für Interventionen in Bürgerkriegssituationen und bei „ethnischen Säuberungen“ aus wie anlässlich des Kosovokriegs und war damit eine der vielen, global wirkenden Stimmen, die Interventionen und Kriege mit geschichtspolitischen Argumenten unterfüttern und legitimieren.

Finkelsteins Motivation konnte in der deutschen Öffentlichkeit, die sich darin noch als post-nazistische erwies, nicht nachvollzogen werden, weil sich die große Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit gerade scheinbar empathisch „ihrer Verbrechen“ widmete und Finkelstein als Störenfried abgewehrt werden musste. Dirk Moses Intervention taucht im Kontext neuer identitätspolitisch grundierter Ansprüche postkolonialer Akteure auf. Den eurozentristischen Fokus auf den Völkermord an den Juden wollen diese skandalisieren und verschieben. Sie attackieren eine identitätspolitische Gleichsetzung von Holocaustgedenken und Israelunterstützung. Die Verbindung von dem Bekenntnis zur „deutschen Schuld“ mit einer außenpolitischen Solidarität mit Israel soll gelöst werden, um einer Kritik an israelischem Siedlerkolonialismus und Menschenrechtsverletzungen Gehör zu verschaffen. Dabei scheint Moses selbst keine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust als kulturindustriellem und staatslegitimatorischem Produkt zu suchen, wie es Peter Novick oder Detlev Claussen betrieben haben, sondern behauptet, es existiere eine Koppelung von prowestlicher, zuweilen auch zionistischer Ideologie mit dem juristischen Konzept des Völkermords, um das Erinnern anderen Unrechts abzuwehren. Seine Kritik staatlicher „permanenter Sicherheit“, die Attacken auf Zivilisten mit dem Verweis, Terrorismus, Völkermord oder einen „zweiten Holocaust“ zu verhindern, zielt nicht nur, aber auch auf Israel. In Moses polemische Intervention gegen einen „deutschen Katechismus“ ist ein palästinasolidarisches Engagement eingeschrieben, das mit den Debatten um das BDS-Verbot im Zentrum internationaler und deutscher Aufmerksamkeit steht. Identitätspolitisch wird Moses Intervention zuweilen als Unterfangen wahrgenommen, die Lebensleistung alter weißer jüdischer Männer aus der Holocaustforschung zu marginalisieren. Die skandalisierende, verfälschende und mit Unterstellungen arbeitende Zurückweisung von Moses Argumenten, denen zuweilen eine antisemitische Intention unterschoben wird, folgt ebenso einer identitätspolitischen Cancel-Logik der Unterbindung freier Diskussion und der Konservierung liebgewonnener Allgemeinplätze.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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