Vor dreißig Jahren: Die letzten Tage von 1990

Ein Zeitungsprotokoll Tagebuch des Jahreswechsels: Ende der Sowjetunion, Golfkrieg, Naher Osten, Israel-Palästina-Konflikt und die "deutsche Frage" nach der Wiedervereinigung.

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Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Badische Zeitung berichteten:

"Der Gesundheitszustand des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolaj Ryschkow ist nach Angaben von Präsident Gorbatschow ernst. Zwei Tage nach dem Herzinfarkt sei aber keine weitere Verschlechterung im Zustand des 61jährigen eingetreten, sagte Gorbatschow vor dem Kongreß der Volksdeputierten. "Wir haben die besten Spezialisten geholt. Sie arbeiten rund um die Uhr", sagte der Präsident. "Es wird alles Mögliche getan". Regierungschef Ryschkow hatte den Herzinfarkt am Dienstagabend erlitten. Zuvor hatten die Volksdeputierten dem Antrag Gorbatschows zugestimmt, seinen Ministerrat aufzulösen und ein fünfzehn Minister zählendes Kabinett direkt dem Präsidenten zu unterstellen."

"Die sowjetische Bürgerrechtlerin Jelena Bonner hat die USA aufgefordert, Präsident Gorbatschow nicht länger zu unterstützen. "Gorbatschows Kurs führt nicht mehr in Richtung Demokratisierung, sondern vielmehr zurück zu einem grausamen totalitären System", erklärte die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehen. Statt Hilfen, die den Präsidenten stützen, sollten humanitäre Hilfen, insbesondere Lebensmittel und Medikamente, in die abtrünnigen Sowjetrepubliken geschickt werden. Gorbatschows Politik sei ihm und seinen Mitarbeitern außer Kontrolle geraten, ohne daß sie damit gerechnet hätten, ergänzte die Bürgerrechtlerin."

"Tausende von Sowjetbürgern melden sich derzeit bei der irakischen Botschaft in Moskau als Freiwillige für die irakische Armee, berichtete die Wochenzeitung Kuranty unter Berufung auf einen Sprecher der Botschaft. "Viele Menschen rufen uns an, andere kommen in die Botschaft. Sie haben alle nur den einen Wunsch, den Irak gegen die USA zu unterstützen", sagte der Sprecher nach Angaben der Zeitung. Unter ihnen seinen nicht nur Moslems, sondern auch Christen und sogar Juden. Die Zeitung zitierte aus dem Brief eines Bürgers der georgischen Hauptstadt Tiflis, der sich als Freiwilliger anbot und um "unverzügliche Ausstellung eines Visums" bat. Offiziere meinten: "Wir sind bereit, die Streitkräfte des Irak zu unterstützen." Moslemische Hilfswillige wollten in der Regel "auf dem geheiligten Boden des Orient gegen Ungläubige kämpfen"."

"Michael von Hohenzollern, früherer König von Rumänien, hofft auf eine Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie in seinem Land. In einer Erklärung des in der Schweiz lebenden 69jährigen heißt es, er sei bereit, die Verpflichtungen gemäß seinem Eid auf die Verfassung von 1923 wahrzunehmen. Michael war am Mittwoch nach nur zwölfstündigem Aufenthalt aus Rumänien abgeschoben worden, wo er die Gräber seiner Ahnen hatte besuchen wollen."

"Der Umweltpolitiker Herbert Gruhl hält die ökologische Bewegung für gescheitert. Der Neuen Presse (Hannover) sagte Gruhl, der 1978 als CDU-Bundestagsabgeordneter aus seiner Partei ausgetreten war und kurz darauf die Grünen mitgegründet hatte, er sehe für eine ökologische Politik keine Chance mehr."

"Der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Hupka hat Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) vorgeworfen, bei den Verhandlungen über einen umfassenden Vertrag mit Polen die Vorstellungen der Vertriebenen nicht berücksichtigt zu haben. Von der polnischen Regierung verlangte Hupka Wiedergutmachung für Deutsche, die zwischen 1945 und 1950 zu Zwangsarbeiten herangezogen worden seien oder ihr Eigentum verloren hätten. Er forderte auch ein "Schutzrecht" für die in Polen lebenden Deutschen, die Anerkennung ihrer Sprache als Amtssprache sowie einen uneingeschränkten Zugang zu den Medien. Der im November unterzeichnete Grenzvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen bestätige "das Unrecht von 1945"."

"Unter den etwa 58 000 Wehrpflichtigen, die zum 2. Januar 1991 zur Bundeswehr einberufen wurden, sind erstmals knapp 7000 junge Deutsche aus den fünf neuen Bundesländern. Dies teilte das Bundesverteidigungsministerium mit."

"Als die Sowjetunion vor einem Jahr die Grenzen für auswanderungswillige sowjetische Juden öffnete, wurde für zahllose Zionsten in Israel ein Traum war. Der Zustrom von einer, ja zwei Millionen Menschen - so prophezeiten sie - werde den jüdischen Staat wirtschaftlich und politisch stärken. Israel, versprach Ministarpräsident Izchak Schamir, werde künftig für seine arabischen Feinde unangreifbar. Doch ein Jahr nach Beginn der beispiellosen Einwanderungswelle, die in der hebräischen Sprache "Alija" heißt, steht die ratlose und kaum handlungsfähige Regierung in Jerusalem vor einer unlösbaren Aufgabe. Der Segen, den die "Alija" dem Volk bringen soll, droht jetzt zum Flucht zu werden. Genau 200 000 Juden trieb es 1990 aus dem unsicheren Reich Gorbatschows in die ungewisse israelische Zukunft. Hält die Einwanderungsflut zum Jahresende an, dann werden 1991 bis zu 600 000 Sowjets im jüdischen Staat zuflucht suchen. Bis Ende 1992 soll Israel um mindestens eine Million und bis Mitte der 90er Jahre um zwei Millionen Menschen wachsen: Das sind 45 Prozent seiner heutigen Gesamtbevölkerung. Doch der jüdische Staat steht der übermächtigen Herausforderung schon jetzt hilflos gegenüber. Es mangelt an allem, vor allem aber an Geld. Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und die daraus folgenden sozialen Spannungen scheinen mittelfristig unausweichlich zu sein."

"Jüdische Extremisten haben nach einer Meldung des israelischen Fernsehen auf drei Palästinenser im Westjordanland geschossen und dabei einen getötet und die beiden anderen verletzt. Der Sender bezeichnete den Anfgriff als "vorsätzlichen Racheakt". Die Schüsse wurden in der Nähe von Gush Etzion aus einem Fahrzeug mit israelischem Kennzeichen abgefeuert. Später bekannte sich zu dem Anschlag ein Anrufen bei dem Sender, der sich als Mitglied einer bisher unbekannten Gruppe "Zionistische Rächer" ausgab. Er sagte weiter, es würden solche Angriffe folgen, solange die palästinensische Intifada jüdische Menschenleben fordere."

"Auch ein Jahrhundert nachdem Soldaten der US-Kavallerie am 29. Dezember 1890 bei Wounded Knee in South Dakota ein Blutbad unter Sioux-Indianern angerichtet haben, trauern die Indianer um ihre Toten. Was an diesem Tag an den Ufern des Flusses geschah, ist zischen Weißen und Indianern immer noch umstritten. "Es war Mord an unseren unbewaffneten Stammesbrüdern", sagt Sam Eagle Staff, dessen Onkel unter den Opfern war. Für die US-Armee ist Wounded Knee nach wie vor eine Schlacht, die letzte große bewaffnete Auseinandersetzung mit den Indianern. Die Aufzeichnungen der Kavallerie verzeichnet rund 150 tote und 44 verwundete Indianer sowie 30 tote Soldaten. Die Sioux sprechen hingegen von mindestens 300, vielleicht sogar von mehr als 400 ermordeten Indianern. Für sie war es ein Massaker, ein grundloses Abschlachten von zumeist unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern, die sich unter der Führung von Häuptling Big Foot in das Reservat im Südwesten South Dakotas zurückziehen wollten."

"Die Hoffnung auf einen baldigen wirtschaftlichen Aufschwung in den fünf neuen Bundesländern hat Bundeskanzler Helmut Kohl geäußert. Zwar stehe man jetzt mitten in einer schwierigen Übergangszeit, aber alle Anzeichen sprächen dafür, daß es im Osten Deutschlands im Laufe des neuen Jahres "aufwärtsgehen wird". Die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der alten Bundesrepublik sei ungebrochen. "Auf diesem Fundament wollen wir während der kommenden Jahre möglichst einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland schaffen"."

"Die Londoner Financial Times und die Pariser Zeitschrift Le Point haben unabhängig voneinander Bundeskanzler Helmut Kohl zum "Mann des Jahres" gekürt. Das amerikanische Magazin Times verlieh diesen Titel dem US-Präsidenten George Bush. Mit der Vollendung der deutschen Einheit und seinem dritten Wahlsieg hintereinander habe der Kanzler einen triumphalen Einzug in die Geschichtsbücher gehalten, schrieb die Financial Times. Le Point nannte neben der Vereinigung Deutschlands als zweiten Grund für ihre Wahl das Engagement Kohls für Europa. Die Londoner Zeitung sprach von einer "offenkundigen Wandlung des Kanzlers vom Stümpfer zum Staatsmann". Im jahr 1990 habe sich seine charakteristische Stärke ausgewirkt, "instinktiv und entschieden ein Ziel zu verfolgen, an das er immer geglaubt hat". Times zeigte auf dem Titelblatt seiner Ausgabe zwei Gesichter Bushs. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß sich der US-Präsident 1990 innenpolitisch als "schwankend und verwirrend" erwiesen habe, wohingegen er in seiner Außenpolitik ein Beispiel der Entschlossenheit gegeben habe."

AUS: Tagebuch von Manfred Hanloser, Zeitungsauschnitte vom 28.12.1990-31.12.1990 aus Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Badische Zeitung (wird forgesetzt)

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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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