Gelebte Utopie

Zionismus Die Kibbuz-Idee war progressiv. James Horrox beschreibt, was aus ihr wurde
Ausgabe 05/2022
1955 in Israel: Kinder in einem Kibbuz
1955 in Israel: Kinder in einem Kibbuz

Foto: George Pickow/Three Lions/Getty Images

Ein kurzer Sommer der großen Utopien war auch zu Beginn der Corona-Pandemie zu konstatieren. Alles muss sich ändern: privatisierte und deregulierte Arbeitsverhältnisse, das Mensch-Natur-Verhältnis, die Globalisierung, die nur zugunsten der großen Kapitalinteressen funktioniert. Wenig ist davon gesamtgesellschaftlich ins Bewusstsein gedrungen – und neben Kritik und Skeptizismus litt auch das utopische Denken angesichts der Notwendigkeiten der Pandemiebekämpfung.

Warum sollte auch gerade in einer Zeit, wo es um Leben und Tod zu gehen scheint, eine bessere Welt angestrebt werden können? Interessanterweise wurde allerdings eine solche immer in extremen Situationen und unter kaum gemütlich zu nennenden Umständen angepackt. Erinnert sei an die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, aus denen sich die Idee von antiautoritären Räten, die die Belange des alltäglichen Lebens organisieren sollten, entwickelte; erinnert sei an die freien Kollektivierungen während des Bürgerkriegs in Spanien, die anarchistisch geprägte Landarbeiter und Arbeiter bewerkstelligten.

Und nun liegt mit Gelebte Revolution ein Buch im Heidelberger Verlag Graswurzelrevolution vor, das auf eine gelebte Utopie von unten ausgerechnet in einem Landstrich verweist, der mit Besatzung, religiös überwölbten Konflikten und ewigen Kriegen assoziiert wird.

Anarchismus in der israelischen Kibbuzbewegung – der englische Publizist James Horrox schildert die Ideenwelt, die zwischen 1880 und 1919 unter den ersten Einwanderern nach Palästina grassierte, die vornehmlich aus Osteuropa kamen. Mit dem Zionismus verband sich hier eine am Anarchokommunismus Peter Kropotkins und dem „Verwirklichungssozialismus“ Gustav Landauers ausgerichtete neue Gemeinschaft.

Äthiopisch-jüdische Projekte

Ursprünglich war der Kibbuz als freie Kommune konzipiert. Eigentum sollte kollektiv sein, Arbeit und Bedürfnisse gemeinsam abgesprochen und geregelt werden. Zuweilen wurden sogar Versuche gestartet, die Kleinfamilie zu überwinden und eine kollektive Kindererziehung zu proben. Diese Versuche wurden wiederum in der Zeit der letzten größeren Kommunebegeisterung rund um 1968 euphorisch rezipiert. So zirkulierte zwischen dem wenig romantischen Elternpaar Gudrun Ensslin und Bernward Vesper immerhin der positive Verweis auf die Kibbuze, wenn es um den gemeinsamen Sohnemann und seine Betreuung ging.

Horrox extrapoliert die revolutionäre Dimension, die dem Kibbuz als sozialistischem Experiment innerhalb des nicht-staatlichen Mandatsgebiets zukommt. Beleuchtet werden äthiopisch-jüdische Projekte oder arabisch-jüdische Kibbuze. Aber er schont nicht mit der Darstellung des Zerfalls dieser herrschaftsfreien Strukturen zu kollektivistischen Trägern des siedlerkolonialistischen Staates Israel, der gerne auf das Arbeitskräftereservoir aus den Kibbuzen zurückgriff und aus den Kollektiven einige seiner Militäreinheiten rekrutieren wollte. Deswegen sorgen die Kibbuze auch in der heutigen anarchistischen Linken in Israel, die sich mehrheitlich dem Kampf gegen Militarisierung und Okkupation verschrieben hat, kaum mehr für größere Begeisterung.

Das politische Anliegen von Horrox’ Darstellung der faszinierenden Frühgeschichte der jüdischen Kibbuzbewegung besteht so auch darin, erinnernd auf die prä-staatliche Utopie zu verweisen. Nach der schweren Krise der Kibbuzbewegung in den 1980ern, in deren Folge sich viele umfassend privatisierten, bürokratisierten oder auflösten, scheint es seit den Nullerjahren wieder einen kleinen Höhenflug der freien Kibbuze zu geben, allerdings in anderer Gestalt als der historischen von Anfang des 20. Jahrhunderts. Viele neue kleine Kollektivsiedlungen sind urban und nicht mehr landwirtschaftlich geprägt. Traurige Berühmtheit erlangte der Kibbuz Migvan in der Stadt Sderot in der westlichen Negev-Wüste. Er sieht sich ständiger Angriffe durch Quassam-Raketen aus dem Gazastreifen ausgesetzt seit dem Rückzug der Israelis aus Gaza im September 2005. Und wieder ringt die Utopie mit der Bedrohung.

Info

Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung James Horrox Verlag Graswurzelrevolution 2021, 259 S., 24,80 €

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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

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