Dritte Welle des Dschihad

Islamismus Die Entwicklung in Frankreich folgt ziemlich genau den längst bekannten Plänen des syrisch-spanischen Ingenieurs Abu Musab al-Suri
Ausgabe 23/2016
Öffentliche Ehrung von Opfern der Anschläge in Toulouse und Montauban im März 2012
Öffentliche Ehrung von Opfern der Anschläge in Toulouse und Montauban im März 2012

Foto: Remy Gabalda/AFP/Getty Images

Seit Januar 2005 ist der 1.600 Seiten umfassende Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand im Internet abrufbar. Es handelt sich um ein Konglomerat aus militanter Enzyklopädie und Anleitung für einen Dschihad „3G“. Verfasst hat das Elaborat der Ingenieur Abu Musab al-Suri, ein 40-jähriger syrischer Dschihadist mit spanischer Staatsbürgerschaft. Sein Aufruf sollte dem kommenden Jahrzehnt seinen Stempel aufdrücken.

Der Text zieht eine Bilanz der Erfolge und Niederlagen der dschihadistischen Bewegung in dem Vierteljahrhundert vor seinem Erscheinen und formuliert eine Dialektik der Bewegung mit geradezu hegelianischem Unterton. Suri zufolge begann alles mit dem „Moment der Affirmation“. Dieser umfasst den Sieg des afghanischen Dschihad in den 80er Jahren und die anschließenden fehlgeschlagenen Aktionen in Algerien, Ägypten und Bosnien. In einer weiteren Phase entstand das Terrornetzwerk al-Qaida, für dessen Handeln der 11. September 2001 zum Symbol wurde.

Frankreich-Spezial

Wir beschäftigen uns diesmal ausführlich mit Frankreich, dem Gastgeberland der Fußball-EM – aber dabei geht es eben nicht um die altbekannten Klischees der (vermeintlichen) Grande Nation. Mit Reportagen, Essays und Interviews wollen wir das „andere Frankeich“ zeigen. Ein Land zwischen Aufbruch und Aufruhr: Eine Sonderausgabe über unser Nachbarland

Das sei der „Moment der Negation“ gewesen, so Suri. Statt weiter einen bewaffneten Dschihad gegen den nahen Feind (al adu al qarib) zu führen, der in erfolglose Guerilla-Aktionen mündete und am Schluss der ersten Phase gestanden habe, setzten Osama bin Laden und seine Organisation auf spektakuläre Aktionen gegen einen entfernten Feind in Amerika, der den muslimischen Massen als Koloss auf tönernen Füßen dargestellt worden sei.

Mordserie in Toulouse

Für Suri war diese zweite Phase ein Misserfolg, weil das business model von al-Qaida ausschließlich auf den Terrorismus und auf satellitengestützte TV-Sender, besonders al-Dschasira, vertraut habe. Nach den Attentaten, die auf den 11. September 2001 folgten und bis zu den Londoner Anschlägen im Juli 2005 reichten, habe dieses Modell immer mehr an Bedeutung verloren, auch weil es nicht gelungen sei, die Bevölkerung zu mobilisieren.

Suris Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand stand am Ende der zweiten Phase. Seiner Theorie von der bevorstehenden dritten Welle des Dschihadismus entspricht in der Hegel’schen Dialektik die Negation der Negation, das heißt „Aufhebung“. An die Stelle der pyramidenförmigen Organisation von al-Qaida setzt Suri auf einen Dschihadismus der Nähe, ein Netzwerk, das von der Basis und nicht von der Spitze her in die feindlichen Gesellschaften eindringt. Der spektakuläre Angriff auf Amerika wird hingegen als Hybris, als Symptom der Überheblichkeit eines von seinem medialen Image abhängigen Osama bin Laden abgelehnt.

Suri propagiert stattdessen den Bürgerkrieg in Europa. Teile der schlecht integrierten und rebellierenden muslimischen Jugend mit Migrationshintergrund sollen ihn nach gründlicher Indoktrinierung und militärischer Ausbildung auf einem nahen Kriegsschauplatz entfesseln. Dieser Angriff sollte zum endgültigen Zusammenbruch des Westens führen und Vorbedingung für den weltweiten Triumph des Islamismus sein. Es ist ein Dschihadismus in der Art eines Wurzelgeflechts, das sich unterhalb des Radars des Feindes ausbreitet und seine eigenen oder adoptierten Sprösslinge gegen ihn aufhetzen kann. Dieser Dschihadismus ist das Gegenteil zu dem von Osama bin Laden entwickelten zentralen, fast leninistischen Modell. Suri fasste sein Programm in eine Formel, die unter den Dschihadisten großen Anklang fand: nizam, la tanzim (ein System, keine Organisation).

Heute erscheint Suris Aufruf weitsichtig, da er als detaillierte Anleitung für terroristische Aktionen fungierte. Zu diesen kam es im März 2012 mit dem Amoklauf von Mohamed Merah in Toulouse und Montauban wie am 13. November 2015 mit dem Massenmord von Paris, dessen Planer der belgische Islamist Abdelhamid Abaaoud war. Inzwischen steht Suris Appell auf Arabisch und Englisch im PDF-Format auf den Facebook-Seiten arabischer, französischer oder aus anderen Staaten Europas stammender Dschihadisten.

Die von dem norwegischen Orientalisten Brynjar Lia schon 2008 veröffentlichte Monografie Architect of Global Jihad und das Buch des Autors dieser Zeilen mit dem Titel Die Spirale des Terrors (Piper 2009) wiesen auf die Bedeutung des Textes von Abu Musab al-Suri hin, doch wurden die Warnungen kaum beachtet. Zu zeitraubend sei die Lektüre des Aufrufs, hieß es, das Werk ein Sammelsurium theoretischer Gedankenspiele, die propagierte Netzwerk-Strategie zum Scheitern verurteilt.

Dabei kam es zu der von Suri vorausgesagten Phase der „Aufhebung“ tatsächlich, wozu zwei Ereignisse maßgeblich beigetragen haben. Das erste ergab sich aus dem Auftreten sozialer Netzwerke – am 14. Februar 2005 wurde das Markenzeichen YouTube eingetragen, im Monat darauf ging das Portal online. Derartige Plattformen erwiesen sich schon bald als ideale Träger einer dschihadistischen Indoktrination der dritten Generation, wie es satellitengestützte TV-Sender, etwa al-Dschasira, für die zweite Generation waren und das Fax-Gerät für die erste. Westliche Geheimdienste erkannten die Bedeutung dieser neuen Medien zu spät und überwachten stattdessen weiter die mit al-Qaida verbundenen Aktivisten in den Moscheen.

Diese Methode erzielte durchaus Erfolge. So konnten 1995 in Frankreich der Franko-Algerier Khaled Kelkal und ein Terrornetzwerk, das für islamistische Attentate verantwortlich war, ausgeschaltet werden. Im Jahr 2001 wurde Kelkals Landsmann Djamel Beghal, der ein Bombenattentat auf die US-Botschaft in Paris plante, in Präventivgewahrsam genommen. Auch die Zerschlagung der Islamistengruppe Buttes-Chaumont, die Jugendliche aus Paris als neue Al-Qaida-Rekruten in den Irak schickte, war der Überwachung zu verdanken.

Daher wiegte sich Frankreich lange in Sicherheit, bis es im März 2012 zum Amoklauf des Franko-Algeriers Mohamed Merah kam. In Toulouse ermordete der Attentäter zunächst den 30-jährigen Fallschirmjäger Imad Ibn-Ziaten mit einem Kopfschuss, vier Tage später waren in der Stadt Montauban zwei französische Soldaten nordafrikanischer Herkunft die Opfer tödlicher Schüsse, bis es am 19. März 2012, wieder in Toulouse, zum Anschlag auf eine jüdische Schule kam, bei dem ein Rabbiner und zwei Kinder starben. Die Mordserie traf all jene völlig unvorbereitet, die Suris Aufruf für einen unbedeutenden Text gehalten hatten.

Das zweite Ereignis, das dem Plan des syrisch-spanischen Ingenieurs in die Hände spielte, war der Ausbruch des Arabischen Frühlings, der ab 2011 in arabischen und nordafrikanischen Ländern, vorrangig in Syrien und Libyen, zu Chaos und Auflösung führte. Die Revolutionen boten vorzügliche Bedingungen für Propaganda und militärische Ausbildung, und das in einer Region, die von Europa aus in wenigen Flugstunden erreichbar war. Hier konnten junge Europäer, die sich nicht zuletzt über die sozialen Netzwerke dem Islamismus zugewandt hatten, ihre Fantasien von einer uneingeschränkten Herrschaft des Islams verwirklichen. Sie schnitten den „Ungläubigen“ die Kehle durch, wie zuvor den Avataren in ihren Videospielen. Die Bilder dieser Gräuel stellten sie ins Internet, um den Feind einzuschüchtern und die Anhänger zu mobilisieren. So entstand eine direkte Verbindung zwischen den Gebieten des nahöstlichen Dschihad und den Vorstädten Europas. Einige der europäischen Dschihadisten kehrten in ihre Heimat zurück, um ihre mörderische Mission fortzuführen, und setzten damit, wie der 13. November 2015 in Paris zeigen sollte, die im Aufruf formulierte Vision in die Tat um.

Gilles Kepel ist Sozialwissenschaftler und lebt in Paris. Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch Terror in Frankreich, das Mitte September im Kunstmann-Verlag erscheint

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