Die grosse Sehnsucht nach dem Zufall

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Ortstermin re:publica 2010: Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel sprach am letzten Tag der Konferenz über "die Grenzen menschlichen Ermessens und das Ermessen menschlicher Grenzen"

Gehe man von einer Geschichte aus, müsse man sie zu Ende denken, zitiert Miriam Meckel Dürrenmatt, der diesen Satz einst im Zusammenhang der Physiker geschrieben hatte. Der Satz ist Ausgangslage für Meckels Argumentation darüber, wie sich das menschliche Denken durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten verändert.

Denn, wo bleibt Spielraum für kleine Nuancen, wenn uns die Software vorschreibt, ob und was wir mögen? Wenn uns Profile statt wir uns selber im Netz vertreten? Die Wissenschaftlerin erzählt dazu von Beispielen aus ihrem Leben, die jedermanns sein könnten: Etwa wenn Facebook beim Hochladen einer Geburtstagstorte mit der Meldung kontert "this object cannot be liked", wenn uns iTunes Genius zum x-ten Mal mit einem "Zufall" zu überraschen versucht oder wenn – im Falle von Meckel – Amazon nicht nur Bourdieu sondern ihr auch ihr eigenes, gerade erschienenes Buch vorschlägt. Dann spätestens stellt man sich die philosophische Frage: Können Computer Denken simulieren? Meckels Antwort auf die altbekannte Frage ist keineswegs eine kulturpessimistische sondern vielmehr eine nachdenkliche.

Nichts ist Zufall

Selbst wenn einer Maschine Zufälligkeit implementiert wird, funktioniert sie nicht zufällig. Die "Denkstruktur" einer Maschine ist immer die Berechnung, nie der Zufall. Zwar mag uns das Ergebnis – etwa des Shuffles – zufällig erscheinen, tatsächlich aber ist es berechnet. Was bedeutet das für unser Weltbild, wie werden wir zukünftig denken? Wenn der Computer keine Zufallskompetenz hat, er aber immer stärker unsere gesellschaftliches Leben durchdringt?

Meckel also zitiert bei dieser Frage Dürrenmatt und versucht die Geschichte zu Ende zu denken: Vordergründig, meint sie, sei es zwar vordergründig unproblematisch, dass uns die Algorithmen in einem deterministischen System gefangen hielten. Theoretisch aber bedeute das, dass alles auf bereits Vorhandenem basiere. Und damit ist die Zukunft bereits jetzt angelegt: Denn die Zukunft ist immer die Replikation des in der Vergangenheit angelegten Materials. "Das heisst nichts anderes, als dass wir im Status Quo bleiben."

Und diese Erkenntnis, sagt Miriam Meckel, beeinflusse unsere kulturelle Entwicklung. So ist sei eben ein Unterschied, ob man morgens die Zeitung aufschlägt (oder anklickt) und sich einen Überblick zu schaffen versucht, was der Tag an Überraschungen für einen bereit hält. Im Idealfall sucht man dann nach nichts Bestimmtem und landet bei bisher gänzlich Unbekanntem. Neuere Technologien schliessen jedoch den Zufall aus (oder kontrolliert ihn). So vergleicht Meckel etwa das I-Pad mit einer Pauschalreise von Neckermann: Jede Möglichkeit wurde bereits im voraus durchgespielt und ist entsprechend angelegt – das betriebseigene Werbesystem I-Ads inklusive. Die Nutzer werden so zu banalen Konsumenten, und können nicht mehr Produzenten sein, wie das einst die Idee des Netzes war. "Das ist nicht mehr meine Vorstellung von einem freien Netz", sagt Meckel und erntet Applaus aus dem Publikum.

Ein Plädoyer für mehr Freigeist

Auch wenn die vorgestellten Beispiele Einzelfälle sind, immer mehr Konzepte gibt es, die eben genauso die Freiheiten einschränkten. Es ist dieser Backlash den Meckel als "seltsame Entwicklung des Netzes" beschreibt, die letztlich die Freiheit unseres Denkens beschneide. Denn wenn der Mensch in zu vielen Belangen nicht mehr selber denkt, gibt er einen wachsenden Anteil seiner selbst an den Computer ab und beseitigt damit ein menschliches Moment: den Zufall.

Berechnete Denkmuster sind das eine – weitaus problematischer ist die Kombination des technologisch-induzierten Determinismus mit der wachsenden Überwachung. Denn auch hier wird der Zufall vereitelt: Die Politesse, die bei einem banalen Verkehrsvergehen ein Auge zudrückt, und einem damit den Tag rettet, wird das nicht mehr tun, wenn ihr eine Überwachungskamera über die Schulter blickt. Solche Spielräume aber seien für das menschliche Leben unabdingbar, sagt Meckel, denn Privatsphäre sei absolute Bedingung für eine freiheitliche Gesellschaft. Wie etwa wird sich die Sozialisation unserer Kinder verändern, wenn sie unter steter Kontrolle stehen?

Den Determinus kann aber auch noch in eine andere Richtung weiter denken: Was wenn eine genetische Analyse ergibt, dass man in 63 Jahren an Alzheimer erkrankt? Technologische Innovation hin oder her: Will man das wissen? "Freiheit gibt es nur unberechenbar", bilanziert Meckel.

Da ist es doch tröstend, dass (bisher) kein Algorithmus der menschlichen Logik gerecht wurde. Spätestens bis dann sollten wir Bugs zu schätzen wissen.

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