Heimkommen

Brauchtum Im Oktober kehren die Appenzeller Sennen von der Alm zurück ins Tal: Gelebte Tradition oder historische Kulisse?

Jedes Jahr im September bringen die Sennen im Appenzell das Vieh von der Alm zurück ins Dorf herunter. Doch nicht nur dort, im gesamten Alpenraum ist der Herbst geprägt von Ernte und Heimkehr. Die Sömmerungszeit von Mai bis September oder Oktober haben die Berufskäser mit Kühen und Geißen auf den Hochweiden verbracht. Nun kehren sie zurück ins Tal.

Die Appenzeller Sennen laufen also am Tag des Alpabzugs frühmorgens von der Alm los, um mittags gemessenen Schrittes mit Vieh und einem ertragreichen Sommer im Gepäck durch das Dorf Urnäsch zu schreiten. Der Stolz ist ihnen ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie ihn nicht richtig zeigen wollen.

Die Appenzeller sind kauzige Menschen, durchaus so, wie man sie in Deutschland aus der Werbung für Appenzeller Käse kennt. Stets in gleicher Formation laufen sie den Alpabzug: Zuvorderst der Geiß-Bub und manchmal auch ein Geiß-Meitli in seiner Tracht. Die jungen Geißen kommen mit, sobald sie laufen können, erklärt Res, ein Senn, den ich später hinter einem Schuppen treffe, als er sich gerade die wohlverdiente Pfeife anzündet.

Lange nur ein Männerberuf

Dem Geiß-Bub folgen die weißen Ziegen, die mit langen, zotteligen Bärten die Straße entlangtrotten. Hinter ihnen läuft der Untersenn, nach ihm kommen je nach Größe des Betriebs bis zu ein Dutzend Leute, die beim Hüten der Herde und beim Melken helfen. Aus der Milch stellen sie Käse, „Ziger“ (ein Molkenkäse) und Butter her. Die Sennerei war bis ins 20. Jahrhundert ein reiner Männerberuf. Erst seit den siebziger Jahren werden überhaupt Frauen zu Sennerinnen ausgebildet. Damals kehrten Städter aufs Land zurück und interessierten sich für die Traditionen. Seither wird auch das Brauchtum wieder stärker gepflegt.

Aus jedem Haus im Dorf, das etwas auf sich hält, springen Kinder herbei, die den Sennen Weingläser in die Hand drücken und sie begrüßen; die Geiß-Buben und -Meitli bekommen Sirup. Ab und an fordert auch ein Autofahrer, der sich zwischen die Kühe drängt, Weißwein. Auch er hätte schließlich Kühe im Auto, sagt einer und zeigt auf seine grinsenden Mitfahrenden.

Die Touristen, die von weiter herkommen als der Autofahrer aus dem benachbarten Kanton, bilden mit ihm gemeinsam das Publikum des Alpabzugs: Viele sind für das „schöwüeschte“ („schön und wüst“) Spektakel extra angereist, aus Zürich, aus Deutschland, sogar aus Japan.

Das muss man gesehen haben

Mit überdimensionalen Teleobjektiven bewaffnet stellen sie sich vor die Alpzüge und schießen das perfekte Foto für ihre Sammlung. Das Schweizer Fernsehen überträgt den Alpabzug sechs Stunden lang live. Außer den wenigen Kühen, die alle paar Stunden mal vorbeitrotten, gibt es indes wenig zu sehen. Doch der Alpabzug gehört zur bundesamtlich verbrieften Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz.

Das „Viech“ kümmert das kaum. Die Kühe trotten durch das Dorf, so wie sie morgens durch einsame Wiesen von der Alm losgelaufen sind. Manche beherrschen die Kunst, sich während des Gehens gänzlich unprätentiös zu entleeren. Zum Alpabzug begibt man sich nicht in festlicher Garderobe. Die Schaulustigen, die in Scharen in Autos angereist sind, tragen Rucksack und Wanderschuhe. Sie stehen geduldig am Straßenrand und harren der verschiedenen Formationen, die früher unabhängig voneinander über mehrere Tage verteilt ankamen. Unterdessen versucht man die Alpabzüge zu konzentrieren, damit das Publikum zu seiner Show kommt. Trotz oder auch wegen seiner folkloristischen Vermarktung im Tourismus hat das Brauchtum der Sennen überlebt.

Beim Bauernhaus von Esther Ferrari verliert sich der Trubel. Die lokale Journalistin hat ihr Haus an einen Bauern verpachtet, dessen Sennen gerade hier ankommen. „Arrogant“ seien die jungen Sennen geworden, warnt mich Ferrari auf dem Weg dorthin, um gleich zu ergänzen: „Das Brauchtum hat sich halt verändert.“ Die Sennen wüssten inzwischen, dass sie interessant sind, und verlangten für ein Porträt jetzt Geld. Sie sehen ihresgleichen nun schließlich in der Werbepause im Fernsehen.

Die meisten sind Angestellte

Die Sennen bei Ferraris Hof haben keine Gelegenheit, aus meinem Besuch Kapital zu schlagen, sie bitten die „Frau Journalistin“ an ihren Tisch. Köbi, Martin, Res, Hansjöggel, Hansi und „der Chef“ sind höflich, aber wortkarg. Man könnte auch sagen: cool. Sehr cool. Es ist ihr Tag, der Höhepunkt ihres Jahres. Ihm bedeute der Tag viel, erklärt Res hinter dem Haus, bevor er wieder zu den anderen geht. „Das Herz ist angespannt. Man ist stets in Sorge, dass alle richtig laufen.“ Schließlich ehre man mit dem Alpabzug nicht nur den Sommer, sondern auch den Pächter.

Denn die Alm gehört den Sennen nicht, die meisten sind Angestellte, Pächter einer Alpgenossenschaft etwa, jeweils für die Dauer der Sömmerung. Sie sind verantwortlich für die ihnen anvertrauten Kühe (im Appenzell hat jeder üblicherweise 24 Kühe und einen Stier), für die Ställe und das Werkzeug, das sie für die Käserei brauchen. Jetzt im Herbst bringen die Sennen Vieh und Ertrag den Besitzern zurück.

Zurück zum Haus von Ferrari. „Die Füße tun mir weh“, meint ein Senn zu seinem Kollegen. Hier sind die Sennen unter sich und müssen nicht mehr Folklore für die Touristen spielen. Losgelaufen, erzählt mir Chapf Köbi in schwer verständlichem, aber wunderschönem Dialekt, seien sie früh morgens von der Alp Fischegg. Jetzt, mittags um eins, greift sich jeder ein kühles Bier aus dem Brunnen. Die Bauersfrau schöpft Kartoffelsalat mit Wienerli. Nach dem Essen „zäuerln“ die Sennen in ihren braunen und blauen Trachten – eine Art Jodel, der wie Jauchzer klingt.

Sehr ernst blicken die Sennen dann und werden erst wieder lustig, wenn sie vor der Frau Journalistin derbe Sprüche über pissende Geißböcke reißen.

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