Warum brauchen wir einen richtigen Winter?

Die Wetterfee Die Jahreszeiten bürgen für minimale Stabilität in einer aus den Fugen geratenen Welt, findet unsere Kolumnistin: Nur wenn es Winter gibt, kann auch ein Frühling kommen
Warum brauchen wir einen richtigen Winter?

Illustration: Otto

Banken beurteilen ihre Geschäftsperioden quartalsweise, das soll auch fürs Wetter und die vier Jahreszeiten seine Berechtigung haben. Nun stehen wir mit dem Februar im letzten Wintermonat, mit dem März werden je nach Region bereits die ersten Vorboten des Frühlings sprießen. Nein, weh tat dieser Winter bislang nicht.

Jedenfalls nicht, bis der Februar kam und ein heimtückisches Hoch tiefgekühlte Frischluft aus dem Osten brachte und Europa komplett frostete. Nun sei das erst der Anfang des Winters, frohlockt meine Freundin M. bei einer heißen Schokolade drinnen, während draußen die sibirische Kälte lauert. Sie sagt das seelenruhig und nicht etwa seufzend, geschweige denn verärgert. Ich kann mein Entsetzen nicht verhehlen, selbst wenn nun endlich all die Maßnahmen greifen, die ich seit vergangenem August aus lauter Angst vor der Berliner Kälte vorbereitet hatte. „Du glaubst ernsthaft, dass uns im Februar noch ein kompletter Winter bevorsteht – jetzt wo wir bereits gut zwei Monate davon einigermaßen mild überstanden haben?“

„Es hat sich alles verschoben“, sagt M. und argumentiert mit größeren Zusammenhängen, die jeden souveränen Meteorologen erblassen ließen. Um zwei Monate hätten sich die Jahreszeiten nach ihrem Kalender verschoben. Ja, sie habe das nachgezählt. Da war der Oktober vergangenen Jahres, der war so warm wie in anderen Jahren ein kühler August. Und nicht zu vergessen der Juni, der so verregnet war, wie es sonst nur der April sein kann. Entsprechend geriet der viel zu milde Dezember zum Oktober, auch da hat sie nicht Unrecht, und nun eben der Februar zum Dezember – was noch zu beweisen wäre. Eine gewagte, wenngleich faszinierende Rechnung.

Winter garantiert Frühling

Eine Rechnung, die sie tröste, erklärt M. Denn die vier Jahreszeiten sind wichtig. Sie beruhigen in einer aus den Fugen geratenen Welt, bürgen für minimale Stabilität. Klimawandel hin oder her – solange der Winter noch ein Winter ist, stehen die Chancen gut, dass ihm ein Frühling und diesem ein Sommer und schließlich ein Herbst folgen wird. Der Winter ist quasi die Garantie für den Frühling. Und damit ein Winter als Winter gilt, müssen eben die Kälte, der Schnee und das Eis in Kauf genommen werden. Daher rührt die Zufriedenheit von M. angesichts der sibirischen Kälte, die sich in diesen Wochen in unseren Alltag geschlichen hat und die Kälte-Bilanz des bislang gnädigen Winters aufwertet.

Oft mildern zwar wärmere Westwinde den mitteleuropäischen Winter, die Ostwinde ­dagegen bringen das eiskalte Wetter aus der Tundra, das kaum eine Zigarette draußen vor der Bar zulässt, schon kurze Wege ohne Handschuhe zum Martyrium macht und europaweit bislang mehr als 600 Todesopfer gefordert hat. Die ­sibirisch genannte Kälte ist dabei ein äußerst zutreffendes Bild, schließlich kommt das eisige Wetter tatsächlich aus Sibirien. Die sibirische Festlandsluft ist die kälteste Luftmasse, die der europäische ­Winter kennt. Dort, am arktischen Polarmeer, sinken die Temperaturen bis auf ­minus 60 Grad. Der ­Boden ist dauerhaft steinhart gefroren, die Sonne geht dort im Winter nicht auf. Nur am anderen Ende der Welt, in der Antarktis, kann es noch kälter werden.

„Jetzt also ist der Winter endlich da“, resümiert M. zufrieden. Wie lange er noch bleibt, wird sich in diesen Tagen entscheiden. Sollte es weiter frieren, wäre es dennoch keine Katastrophe. Denn sibirische Kälte bei zehn Stunden freundlich-hellem Tageslicht, anstelle deprimierender Dunkelheit, macht den Winter jetzt ungleich erträglicher, als er es noch im Dezember gewesen wäre. So sieht die Rechnung aus, die mich tröstet.

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