Neoliberale Hegemonie oder Zerfall der Demokratie?

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Wir schreiben das Jahr 1994, Édouard Balladur regiert Frankreich in den Zeiten der sogenannten Cohabitation mit der vielleicht typischen technokratischen Arroganz bzw. Kälte eines Grand École – Absolventen, Tony Blairs karrieristische Höhepunkte an der Seite eines jenseits von Links und Rechts salbadernden Anthony Giddens standen uns noch bevor und Bodo Hombachs abgekupferte „New Labour“ – Variante eines weichgespülten Neoliberalismus aus dem Branding des damaligen „Starsoziologen“, damals als „Neue Mitte“ bezeichnet, hätten wir uns nicht einmal erträumen lassen.

Zur gleichen Zeit im Frühjahr besuchte ich das Niederrhein-Kolleg, an dem ich damals mein allgemeinbildendes Abitur nachholte und viel mehr, außer ein paar privaten Randnotizen, welche nicht groß der Rede wert waren, hätte ich in diesen Märzwochen 1994 auch nicht notieren können, wäre da nicht ein Ereignis gewesen, welches in den bundesdeutschen Medien, wenn ich mich recht erinnere, nur wenig Beachtung fand: Der enorme Widerstand mittels öffentlicher Proteste gegen den CIP, eine Art berufliche Eingliederungsregelung für Jugendliche bzw. Berufsanfänger, die damals unter anderem vorsah, das die Mindestlohn-Regelung (SMIC) für die ersten 5 Berufsjahre unabhängig von der Art der Qualifikation aufgehoben werden sollte und wenn ich nicht falsch liege, hieß es sogar, dass die Höhe durch den Arbeitgeber frei bestimmt werden konnte bzw. ein Minimum von 1000 Franc vorsah.

Ich kam aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus, als ich schließlich erfuhr, dass die Regierung aufgrund der öffentlichen Proteste das zwei Wochen zuvor beschlossene Gesetz zurücknahm oder für nichtig erklärte, denn bis dahin konnte ich mich an keinen Vorfall erinnern, der dazu führte, dass eine Regierung innerhalb der EWG/EG bzw. EU ein zuvor beschlossenes Gesetz vollständig und innerhalb so kurzer Zeit aufgrund des „Drucks von der Strasse“(!) nicht nur revidierte sondern komplett zurücknahm. Strategisch hatte sich die Regierung Balladur völlig verschätzt, denn das Gesetz schweißte auf einmal unterschiedlichste Gruppen vom Studenten und Schüler, über den angehenden Ingenieur bis hin zum Bäckergesellen zusammen, die alle gleichermaßen betroffen gewesen wären und die sich sonst in vielen Fällen oft nicht allzu nahe sind bzw. waren. Die sehr wenigen TV-Ausschnitte, die man damals aus den öffentlichen Nachrichtensendungen hierzulande entnehmen konnte, zeigten die Vehemenz der damaligen Proteste mit zum Teil sehr heftigen Ausschreitungen in großen Städten wie Nantes oder Lyon. Was die Berichterstattung in den deutschen Medien damals nicht zeigte oder vorenthielt, war die enorme Mobilisierung und der sehr hohe Organisationsgrad der Proteste, ganz im Gegensatz zu den immer mal wieder aufflackernden Banlieue - Konflikten, auch wenn man diese nicht gleich, wie unartikuliert sie auch sein mögen, als unpolitisch abqualifizieren muss. Dennoch: Fast alle wichtigen sozialen Bewegungen und Institution in großer Breite waren bei den sogenannten Anti-CIP-Protesten vertreten, von den Schüler- und Studentenvertretungen, den Gewerkschaften, bis hin zu den Emmaus - Mitgliedern um Abbé Pierre und vielen anderen. Und ich gestehe, es war mir durchaus eine Freude zu sehen, dass die Proteste in ihrem Wirkungsgrad nicht die üblicherweise mehr oder weniger harmlose Symbolik darstellten, die sonst in so manchen Manifestationen derlei ähnlicher Art einschließlich der dazugehörenden Sonntagsreden von Gewerkschaftsspitzen und Politprominenz wiederzufinden ist. Noch einmal auf die Proteste in Frankreich aufmerksam gemacht, wurde ich einige Zeit später durch unsere damalige Schulleitung, als diese zusammen mit unserer Schülervertretung am Niederrhein-Kolleg in Oberhausen einen der Studenten aus Paris einlud, der maßgeblich an der Organisation der Proteste beteiligt war. Zur Sprache kamen die damals noch relativ neuen Kommunikationsmittel wie E-Mail und Internet, wenngleich der studentische Vertreter aus Paris sehr wohl betonte, dass diese keineswegs ausschlaggebend waren, da selbstverständlich ebenso herkömmliche Mittel wie Telefon ausgereicht hätten...na ja...die neuen Medien waren damals für uns exotisch wie auch neu und entsprechend groß war unsere Euphorie diesbezüglich...

Entscheidend für den Erfolg der damaligen Proteste war aber viel mehr die konzertierte Aktion der verschiedenen teilnehmenden Gruppen und auch wenn im historischen Vergleich die Erfolge bundesdeutscher Gewerkschaften und ihrem Dachverband vielleicht größer einzuschätzen sind, als die der französischen, so wünsche ich mir doch auch noch Jahre später eine solche Dynamik bzw. Aktionismus der gewerkschaftlichen Gruppen und anderen sozialen Institutionen auch diesseits – derlei Signale hätten schon längst gesetzt werden müssen, pfeift doch heutzutage fast schon jeder zweite Arbeitnehmer, ob zurecht oder zu unrecht, das Lied des zahnlosen Tigers, wenn es um die sozialen Bewegungen oder gar die Gewerkschaften hierzulande geht.

Ein weiteres Ereignis ca. ein Jahr später, welches kaum bis fast gar keine Beachtung in den Mainstream-Medien und der alltäglichen Berichterstattung fand, war das sogenannte „Multilaterale Investitionsabkommen“, kurz MAI (Multilateral Agreement on Investment). Das MAI sah vor, das diejenigen Länder, welche gemäß der Vereinbarung nicht ausreichend Deregulierung und Privatisierung vorantreiben, für die daraus vermeintlich oder auch tatsächlich resultierenden Verluste durch angebliche oder wirklich vorhandene Wettbewerbsnachteile finanziell Entschädigung leisten. Dieser geradezu monströse Angriff auf die staatliche Souveränität konnte durch die Interessensgruppen nicht durchgesetzt werden, er hätte letztendlich tatsächlich ein Zurückfallen noch hinter den Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung bedeutet, welche die im Grunde genommen auf nationaler Ebene sowieso schon nur eher formal und eben nur zum Teil tatsächlich vorhandene Gewaltenteilung, die im bürgerlich-kapitalistischen Staat in einem fortschreitenden Bürokratisierungsprozess, welcher gerade unter neoliberaler Rigide merklich in die Richtung eines autoritären Etatismus voranschreitet, weiter auflöst.

Derlei Strukturveränderungen bürgerlich – kapitalistischer Demokratien im post-fordistischem Zeitalter, die man wertend auch als quasi Erosion der bürgerlichen Gesellschaft und ihren zumindest ideell vorhandenen Rationalitäts- und Fortschrittsversprechen bezeichnen könnte, in der selbst nicht einmal mehr diese Versprechungen glaubwürdig erscheinen, weil einer Enquete-, Meinungsumfragen-, Medien- und Marketingdemokratie, die umfassende Unterstützung aus Exekutive und Verwaltung genießen darf, Platz gemacht werden muss, wurden schon vor den neuen sozialen Bewegungen gegen den Neoliberalismus durch Nicos Poulantzas ganz gut beschrieben - man hätte also gewarnt sein können.

Deregulierung und Privatisierung führen in vielen Fällen der Praxis, ob beispielsweise nun in Form der oft gepriesenen Private Public Partnerships auf der Ebene der Exekutive in den nationalen, regionalen und kommunalen Verwaltungen, auf der Ebene der Legislative mittels der kurios von Otto Schily eingeführten „externen Mitarbeitern in den Bundesministerien“ (Leihbeamte) oder während des inzwischen üblich gewordenen Ausverkaufs öffentlicher Güter, gerade nicht zwingend zu höherer Allokationseffizienz und auch nicht, wie oft behauptet, zu einem Abbau bürokratischer Strukturen.

All diese Ereignisse liegen nun schon einige Jahre zurück und ich erinnere mich noch genauso gut an die mahnenden Worte und die Forderungen Pierre Bourdieus in einem Spiegel-Interview im Jahre 1996, welcher sich im Streit mit dem ehemaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer befand, endlich eine europäische Sozialverfassung zu konstituieren, also die notwendigen Novellierungen und Anpassungen der unterschiedlichen Sozial- und Arbeitsgesetzgebung, ohne die ein gemeinschaftlicher europäischer Wirtschaftsraum lediglich ein Papiertiger bliebe, der lobbyistischen Kräften hilflos ausgeliefert wäre. Ebenso erinnere mich an die ungläubigen Journalisten im besagten Interview, die die Mahnungen Pierre Bourdieus damals möglicherweise für übertrieben hielten.

Seitdem ist fast nichts geschehen und fast alle Befürchtungen haben sich im Grunde bewahrheitet. Unter der Führung der derzeitigen Brüsseler Administration und Regierung, Bourdieu war da noch weniger pessimistisch was die EU-Verwaltung anging und zollte ihr weitgehende Gestalt- und Handlungsmacht zu, wird weiterhin das Loblied deregulierter Märkte angestimmt. Auf eine adäquate Sozialverfassung, wenn es denn dann nicht zu spät sein wird, werden die Bürger der Europäischen Union wohl noch lange warten müssen, zumal der erste Verfassungsentwurf getrost als Farce bezeichnet werden darf!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Giuseppe Navetta

Dipl. Sozialökonom/Sozialwirt

Giuseppe Navetta

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