Wie reich sollen die Reichen sein?

Essay Paul Krugman und die Rechte des Individuums

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"How rich do we need the rich to be?" - Wie klingt dieser Satz in Ihren Ohren? Es ist der Satz, mit dem Paul Krugman seine Januar-Kolumne in der New York Times beginnt; ins Deutsche lässt er sich mehr schlecht als recht übersetzen mit: "Wie reich sollen unsere Reichen sein?"

Kommt Ihnen der Satz idealistisch, fürsorglich und barmherzig vor, als wäre er ein direktes Zitat aus dem Munde Robin Hoods? Steckt hinter der Fragestellung eine berechtigte Forderung? Oder gilt für sie in exemplarischer Weise, was Wittgenstein als das Hauptanliegen der Philosophie festgehalten hat: "Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen."? Ist Krugmans Satz anmaßend oder gar ... böse?

Wie schnell klar wird, wenn man Krugmans Satz ein wenig verändert, versteckt sich hinter der Formulierung "How rich do we need the rich to be?" eine Menge an Prämissen, Urteilen, Vorurteilen, Bewertungen, ja: ganze Weltbilder sind hier nur notdürftig verborgen. Wer beispielsweise fragte: "How healthy do we need the healthy to be?" oder "Wie gebildet müssen unsere Gebildeten sein?", wird im besten Fall Kopfschütteln und verständnisloses Lächeln ernten. Er würde implizit eine Berechtigung postulieren, die wir als ungerecht und unmoralisch verwerfen würden. Wer sollte das Recht und die Macht haben, über die Gesundheit oder den Bildungsgrad eines Menschen zu entscheiden? Nicht dem König, nicht dem Papst, nicht dem Großen Vorsitzenden, nicht dem Präsidenten, nicht einmal der Mehrheit wollen wir heutzutage, nach einem Vierteljahrtausend Aufklärung, zugestehen, was früher vielleicht selbstverständlich gewesen wäre. Das Individuum in seinem Eigenwert ist uns, in der Tradition von John Locke und Immanuel Kant stehend, sakrosankt, und diese Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist es, die als notwendige Bedingung für Fortschritt, Wohlstand und die Möglichkeit persönlichen Glücks gelten darf.

Hinter Krugmans Frage nun aber schaut listig die Unterstellung hervor, es gäbe gewisse Menschen, denen man eine solche Würde absprechen könnte. Sie müssen nur genug Geld besitzen, dass wir - zum Wohle der Allgemeinheit, versteht sich - in ihre persönlichen Rechte eingreifen dürfen. Wer fragt, wie reich die Reichen zu sein brauchen (also wann und wie viel man ihnen wegnehmen sollte), sagt auch, dass ab einer gewissen Höhe an persönlichem Besitz die Freiheit des Individuums eingeschränkt werden muss.

Eine Medizinerin, die nach dem Höchstmaß für Gesundheit pro Patient fragte, ein Bildungsforscher, der das individuell zugeteilte Maximum für Bildung bestimmen wollte, sie würden ausgelacht oder für verrückt gehalten werden. In den Wirtschaftswissenschaften aber kann man es mit einer solchen Logik zum Nobelpreis bringen.

Krugmans Frage ist umrahmt von äußerst prekären Annahmen, die, weil unausgesprochen und unbewusst, ihre geheimnisvolle Macht über die Leser entfalten. Wer ist das "Wir" in Krugmans Frage? Die Experten? Die Mehrheit? Die Armen? Die Politiker? Wer sind "die Reichen" und ab wann zählt man dazu? Was bedeutet "rich" und was bedeutet "need" in diesem Zusammenhang, wer hat ein Recht, die dahinter verborgene Einschränkung vorzunehmen, und woher nimmt er es? Und was würde aus einer Antwort folgen? Wenn die Rechte des Individuums dem Gutdünken von anderen unterworfen sind - wie und mit wem geht es dann weiter? Wer ist der nächste, dessen Freiheit wir nicht benötigen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Kaiser

Schriftsteller und freier Journalist, Köln

Gunnar Kaiser

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