13. Juni 2010 - Gojko wird siebzig!
Brüssow, ein Ackerbürgerstädtchen am Nordostende der Uckermark, Heimatmuseum, Stadtmauerreste, LPG, ein paar Läden, kleine Handwerksbetriebe, privat oder PGH, drei Gaststätten, ein Kino, ein Zeltplatz, eine Freilichtbühne, Erntefest, Parkfest – und die Defa-Sommerfilmtage!
Wir befinden uns irgendwann am Anfang der siebziger Jahre. Ein abenteuerromanbelesener Junge reitet mit seinem Vater auf dessen Moped Simson Star SR 4-2 über die Dörfer zu der Freilichtbühne, wo eine Riesenkinoleinwand aufgespannt ist. Im Kassenhäuschen sitzt eine alte Flamme des Vaters, der Junge wird durchgewunken. Er ist höchstens 12, der Film zwar ab 12 zugelassen, die Veranstaltung aber, da erst 22 h beginnend, für ihn nicht erlaubt, Jugendschutzgesetz. Als der Knabe schon neben Papa auf einer Bank sitzt, taucht der ABV auf, guckt streng, sagt aber nichts. Papa repariert immer dessen ollen Moskvich 403.
Dann geht es endlich los! Die Projektoren zaubern einen strahlend blauen Himmel und schroffe Felsen auf die Leinwand (ORWO-Color), ein muskulöser, öliger, nackter Oberkörper, ein Kopf mit sehr langem blauschwarzen Haar, eine Winchester in braunen Fäusten kommen in's Bild – GOJKO!!!
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Der Mann verfügt über fast so viele mimische Ausdrucksmöglichkeiten wie Steven Seagall, genau gesagt eine weniger: Lächeln! Er redet in seinen Rollen bei der DEFA nie viel, Indianer sind eben wortkarg, kennen keinen Schmerz und seit sie die Weißen auf der Pelle haben auch keine Freude mehr. Seine ersten Filmauftritte, noch textarmer als die späteren Haupt-, waren Statisten- und Nebenrollen in einigen westdeutschen Karl-May-Verfilmungen der frühen sechziger Jahre.
Doch dann kamen die Defa-Leute aus der DDR, nutzten das Casting der Karl-May-Verfilmungen schamlos und warben den gutaussehenden schwarzhaarigen jugoslawischen Sportstudenten Gojko Mitić für das Konkurrenzunternehmen ‚Indianerfilme aus der DDR’. A Star was born!
Mitić spielt bei der Defa als erstes den jungen Häuptling Tokei-ihto in der Verfilmung des Romans Die Söhne der Großen Bärin von Liselotte Welskopf-Henrich, mit bürgerlichem Namen Elisabeth-Charlotte Welskopf (geb. Henrich). An der Romanvorlage gemessen, war der Film ein Desaster. Die Autorin hat nie wieder einen ihrer Indianerromane für die Verfilmung freigegeben. Von Hause aus Alt-Historikerin ließ sie in ihre Romane nicht nur Phantasie, sondern im Gegensatz zu Karl May auch fundierte ethnologische und historische Sachkenntnis einfließen.
Der deutlichste Unterschied aber zu den üblichen westlichen Darstellungen der indigenen Einwohner Nordamerikas liegt in der für einen Abenteuerroman erstaunlichen Differenzierung der Figuren und der sozialen und historischen Einordnung ihres (fiktiven) Handelns:
Mattotaupa, zunächst stolzer Kriegshäuptling der Bärenbande, einer Sippe des Stammes der Dakota / Teton-Oglala-Sioux, der Anführer einer gentil-demokratisch organisierten kleinen Gruppe von Jägern und Sammlern, der bis zu seinem Untergang in den beschränkten Vorstellungen seines urgesellschaftlichen kleinen Kosmos befangen bleibt, der, obwohl in der Lage einen ausgewachsenen Grizzlybären mit den Armen zu erwürgen, doch den wirksamsten Waffen der Weißen, Alkohol, Hinterlist und ehrlose Brutalität hilf- und verständnislos gegenübersteht.
Hawandschita, ein fundamentalistischer Schamane, Medizinmann der Bärenbande, der den Untergang seiner spät-neolithischen Welt nicht wahrhaben will, der sich zum Erhalt seiner Macht und seiner ahistorischen Illusionen sogar mit den schlimmsten Feinden seines Volkes verbündet.
Tschapa Kraushaar, Sohn eines kurz vor dem Bürgerkrieg entlaufenen Negersklaven und einer Dakota-Frau.
Tokei-itho, als Junge Harka Steinhart Nachtauge Büffelpfeilversender Wolfstöter genannt, der sich von der Illusion, die Prärieindianer könnten den Erhalt ihrer traditionellen Lebensweise erkämpfen, freimachen muss, um eine Alternative in Freiheit und Würde zu finden.
Morris, ein Maler, der Indianer porträtiert, linksliberaler Kulturmensch, Bildungsbürger, der eine Kampagne zur Freilassung des vom US-Militär als eine Art ‚Terroristen’ festgenommenen Tokei-itho führt.
Adams, der verarmte Farmersohn, herabgesunken in das doppelt freie Lohnproletariat, der die Chance bekommt, mit den Indianern in einer Kooperative zu arbeiten und zu leben.
Red Fox, der Gegenspieler von Häuptling Tokei-ihto, kleinbürgerlicher Abenteurer, gewalttätig, rücksichtslos, auf der Jagd nach dem Gold der Black Hills, gedacht als ursprüngliche Akkumulation von Startkapital für sich als Gründerkapitalist.
Roman und Film enden mit der Flucht der kleinen Bärenbande aus der Pine Ridge Reservation, in der die Überlebenden der Dakota interniert waren, über den Missouri nach Kanada. Dort erwerben sie mit dem vor Red Fox geretteten Gold Land und eine Rinderherde, um sich gemeinsam mit Adams in einer Art Kooperative dem Ackerbau und der Viehzucht zu widmen, denn „die Büffel kehren nie zurück!“
Das ist oft als typisch sozialistisch-ideologische Ausrichtung eines Abenteurromans gesehen worden. Der Gedanke kollektivistischer Produktionsweise ist aber in Nordamerika nicht unbekannt. Während des Farmensterbens der Great Depression in den dreißiger Jahren und später in den Hippie-Kommunen wurde er immer wieder aufgegriffen. Heute existieren rund 47 000 Genossenschaften in den USA.
Nach Die Söhne der Großen Bärin (1966) drehte Mitić quasi jedes Jahr einen neuen Indianerfilm mit ihm in der Hauptrolle. Er verkörperte literarische (Chingachkook aus Coopers erster Lederstrumpf-Erzählung) und historisch verbürgte Figuren (den Seminolen Osceola und den berühmten Tecumseh). Filmkünstlerisch wertvoll kann man wohl keinen dieser Streifen nennen. Aber bemerkenswerte Alternativ-Western sind sie ganz bestimmt. Und sie haben uns Knaben, die wir mit diesen Filmen aufwuchsen, eines beigebracht: Parteinahme für alle Indigenas dieser Welt!
Glückwunsch zum 70.! – Und wie wär’s mit einer Neuverfilmung von Die Söhne der Großen Bärin mit Gojko Mitić als alter Medizinmann Hawandschita oder besser als Tatanka Yotanka, den Anführer der Sioux-Stämme, die General Custer am Little Big Horn River schlugen, ihr letzter Sieg?!!
Kommentare 18
also das erste foto, also der sah ja mal richtig, also wie soll ich sagen, also schon!
und danke für die hintergründe! ich kenne das alleszwar kaum, aber die "Parteinahme für alle Indigenas dieser Welt!" scheint doch wichtig zu sein.
liebe grüße
kk
Danke für die schöne Schilderung, goedzak! Von den "Söhnen der Großen Bärin" hatte ich schon gelesen, wusste aber nichts genaues über den Inhalt. Da hilfst Du mir jetzt auf die Sprünge. :)
Merci auch für die wunderbaren Fotos...
Und danke für die Würdigung von Gojko: Es gibt eben nicht nur Pierre Brice!
Ich habe Mitić hier in Bad Segeberg auf dem Kalkfelsen als Winnetou gesehen - bei den Freilichtspielen, da war meine Tochter 10 und hatte gerade sämtliche Karl-May-Bände gelesen.
Obwohl schon etwas älter als Du damals :),bekam ich eine Gänsehaut: DIE Melodie ertönte, ein Adler flog auf, und dann kam... Eben! Er hat so etwas Gravitätisches, und brauchte deshalb keine Mimik, die Ausstrahlung reichte. :)
Schade, dass er da nicht mehr spielt.
Ach ja, und meine Glückwunsche zum 70. natürlich auch noch!
die "söhne der großen bärin" war für mich der erste und ist zudem der eindrücklichste indianerroman geblieben ...
Anfang 70er jahre lernte ich übrigens einen indianistiker kennen, also freizeitindianer, der sich sehr intensiv mit der kultur und geschichte beschäftigte - heute noch ist er dabei, und es bedeutet ihm mehr als ein hobby ...
"ja mal richtig, also wie soll ich sagen, also schon!"
trifft den nagel auf den Kopf!
Tja der Gojko, als Model gut, als Mime mittel (aber alles noch verkraftbar), als Sänger katastr...
Danke für den Link zu Deinem sehr interessanten Interview. Das sind Menschen, die passen in kein Schema. Der Mann hat eine sehr differenzierte Problemsicht. Den Text solltest Du hier posten unter der Überschrift: DAS ist ein Linker! :))
Vor ein paar Wochen habe ich in einem Antiquariat ein Exemplar aus der Erstauflage der 'Söhne...' von 1951 gefunden. Die anderen Teile des Zyklus, der heute in 6 Bänden verlegt wird, mit der Vorgeschichte sind ja erst später entstanden. Mir geht's damit wie Dir, ich habe erst viel später mal in Karl May reingelesen, auch wegen der Laudatio auf ihn bei Herrmann Kant in der 'Aula'. Aber das hat mich dann nicht mehr recht angemacht.
"Licht über weißen Felsen" wird noch gesucht. hättest du nen tipp?
Freut mich, dass Ihr den Herrn kennt und erlebt habt. Hab' ich gar nicht erwartet. Ich muss gestehen, dass ich, als ich dann über 18 oder so war, mich über diese Filmchen erhaben gefühlt habe. Allerdings, die Romane von LWH haben mir immer gefallen, meine Töchter haben sie dann auch gelesen.
Wenn Du mal Lust auf 'Trivialliteratur' hast, es gibt die Gesamtausgabe in 6 Bd. im Schuber oder einzeln recht preiswert antiquarisch bei zvab.com.
Rahab, schau mal auf Seite ZVAB.com, da gibt es diesen Band so ab 5 €, plus Versand.
@all: "Licht über weißen Felsen" ist ein Band aus einem anderen Zyklus von L. W.-H., der bei den Nachkommen der "Söhne der großen Bärin" in den 60er Jahren des 20. Jh. spielt.
Öhm, "Die Söhne ..." sind nicht "trivialer", als etwa die "Illusions Perdue", sag ich mal. L-WH hat da eine saubere Mythologisierung hingekriegt und dazu ist zu beachten, daß die Flucht der "Bärenbande" - wenn auch nicht unter diesem Namen - nach Kanada historisch ist.
Ebenso die Figur des "Weitfliegender Vogel Gelbhaar mit dem Zauberstab", Morris, dessen Vorbild George Catlin war, dessen Reiseberichte aus den 30ger Jahren des 19.jhd ich wärmstens empfehle.
danke! dann mach ich das, wenn ich wieder in darmstadt bin, zusammen mit meiner mutter. Sie wird sich sehr freuen!
Gibt es einen Hinweis, dass es Catlin war, der als Vorbild gedient hat? Wahrscheinlich wegen der Reiseberichte, denke ich.
Ansonsten waren ja einige Künstler im Westen unterwegs, später auch Fotografen.
http://lh4.ggpht.com/_KzT7aueQ9sM/TBSzmcmOemI/AAAAAAAAAgU/NeIcs6lIv7I/s400/blackfoot_auf_kriegspfad.jpghttp://lh6.ggpht.com/_KzT7aueQ9sM/TBS1-CoJgII/AAAAAAAAAgc/7dry1wYvTdM/s400/indianer_gr.jpg
Z.b. Matotaupa ist ein Häuptlich, Hawandschita ein Medizinmann, die Catlin kennengelernt und beschrieben hat. Morris Lakota-Name "Weitfliegender Vogel" ist der Name Catlins gewesen.
Danke, nun muss ich das wirklich mal lesen!
"Filmkünstlerisch wertvoll kann man wohl keinen dieser Streifen nennen."
Zum Glück gibt es ein Alter, in dem einem das egal ist! Indianer-Filme habe ich genauso geliebt wie Sandalenfilme mit Römern und Helden.
Der Text hat mich daran erinnert, bedankt!
Es gibt aber einen wirklich guten Indianerfilm von der DEFA, "Blauvogel", allerdings spielt Gojko nicht mit. Es geht um einen weißen Jungen, der im 18. Jh. bei Irokesen aufwächst. Gedreht 1979 nach einem Kinderbuch von Anna Jürgen von 1950.