Es gibt in den ostdeutschen Programmen RBB und MDR einen Sendeplatz, wochentags und sehr spät, an dem Filme der DDR wie Nackt unter Wölfen, Ich war neunzehn oder Die Abenteuer des Werner Holt wiedergesehen werden können. Sie hatten zu wichtigen Daten des Gedenk-Kalenders Premiere und bekamen im Staatsfernsehen natürlich die exponierten Sendeplätze.
Am Tag der deutschen Einheit ist die ARD das staatstragende Medium, das ein bedeutendes Datum mit bedeutungsgeladenem Stoff in aufwendiger Produktion ehrt: Uwe Tellkamps Der Turm. Als der zweite Teil am Abend darauf zu Ende ist, stellt sich die Frage: Werden wir den Film in 20 Jahren auch nur noch auf hinteren Plätzen sehen?
Solche Gedanken machen empfänglich für weitere Analogien. Richard Hoffmann ist bei Tellkamp ein etablierter Mediziner, der als junger Bursche in der Nachkriegszeit seine Bildungschance bekam und den Weg begann, der ihn dann dahin führt, wo ihn Roman und Film zeigen.
Das erinnert an eine Figur des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, Joachim Kippenberg, die genauso eingeführt wird und die im gleichnamigen Roman als schon ziemlich etabliert und saturiert gezeigt wird. Einen weiteren historischen Schritt zurück findet man die Hauptfigur des ersten Noll-Romans, Werner Holt, der sich nach Kriegserlebnissen und dem Wegbrechen der Nazi-Gewissheiten durcharbeitet zu einer Art konstruktivem DDR-Aufbau-Standpunkt.
Elitäre Kreise
Der junge Werner Holt, nach weiteren Irrungen in die lichte Zukunft der Errichtung einer alternativ gedachten Gesellschaft eintretend, ist eine Ideal-Figur, die aber als Joachim Kippenberg, Arzt, Forscher, 20 Jahre älter geworden (Handlungszeit sechziger Jahre), bereits relativiert wird und die bei Tellkamp als Richard Hoffmann (Handlung achtziger Jahre) dann moralisch, praktisch, historisch an ihr Ende kommt.
Beide, Noll und Tellkamp, schreiben eine thesengestützte, mit wiedererkennbaren Ideologemen unterlegte Prosa, die durchaus unterhaltsam wie ein Kolportageroman oder eine Familiensaga ist. Beide malen eine unbedingt authentisch wirken sollende historische Kulisse mit zusammengesuchten Details, die so korrekt sind, dass es schon wieder unwirklich wirkt. Und beide fühlen sich wohl in der Nähe der Macht, in den oberen Etagen der politischen Kaste und der Medien. Noll ist ein Liebling der Parteifunktionäre, „Werner Holt“ Schulstoff. In einem offenen Brief an Honecker bezeichnet er Stefan Heym und andere dissidente Schriftsteller als „kaputte Typen“. Tellkamp zeigt sich in seinem Romanerstling „Der Eisvogel“ als eine Art Jünger-Epigone, ist Preisträger der Adenauerstiftung und Darling konservativer elitärer Kreise und ihrer Medien.
Je nach Gusto werden Noll und Tellkamp heute geschätzt oder verachtet. Vielleicht aber kann man diese beiden politisch protegierten Schriftsteller gelassener lesen, wenn man ihre Texte als Material ansieht, mit dem man eigenwillig umgehen kann. Erklären wir Tellkamp kurzerhand zum Noll-Fortschreiber.
Drei-Generationen-Figur
Es ist dabei uninteressant, dass der eine die Zerstörung des Bürgerlichen will, der andere es als Befreiung ansieht, das Bürgerliche in die alten Rechte zu setzen. Die desillusionierende Metamorphose der Hauptfigur vom tatkräftigen Aufbau-Idealisten zum handlungsunfähigen Privilegien-Klammerer ist eine durchgängige Geschichte aus einer Hand.
Dieter Noll hat sich so angestrengt – und herausgekommen ist Uwe Tellkamp. Der befreite Christian von 1989, Alter Ego seines Schöpfers, ist ein langweiliger Idealist, wie Werner Holt aka Dieter Noll nach seinem Ankommen im Aufbaupathos des neuen Deutschland einer war. Christian soll uns die Ankunft im Freiheitspathos des allerneuesten Deutschland vorführen, das uns sonst nur in den Reden des Bundespräsidenten Gauck begegnet.
Viel interessanter ist Richard-Joachim-Werner. Die Geschichte dieser Drei-Generationen-Figur kann man als die Geschichte der DDR lesen, der derart zusammengeschmissene Text ist klüger als die beiden Autoren für sich. Der ideologische Firnis löst sich ab. Wir sehen Hoffnung, Enttäuschung, Dünkel, Verstrickung, Scheitern – und sind endlich ernüchtert.
Goedzak bloggt in der Freitag-Community, die die Turm-Verfilmung diskutiert hat
Der Text in der aktuellen Ausgabe 42 des Freitag erschienen
Kommentare 19
ich bin froh ueber diesen beitrag, auch weil er mir mit dem vorangegangenen weiterhilft:
https://www.freitag.de/autoren/goedzak/von-turm-zu-turm
ich mag ihre perspektive auf richard-joachim-werner, (mochte als jugendlicher auch werner holt ganz allein fuer sich sehr,) und bin nun beinahe gespannt auf herrn tellkamps angekuendigte turm-fortsetzung unter diesem blickwinkel.
zum jetzigen zeitpunkt kommt mir der autor tellkamp, um im bild zu bleiben, wie ein kippenberg des nachwendeostdeutschlands vor. sie deuten an, dass es ihnen aehnlich geht. mit dem naechsten wurf wird sich wohl entscheiden, ob sich dieser eindruck verfestigt oder ob herr tellkamp etwas vom wohlwollen der adenauer-gesellschaft & co aufs spiel setzt und den kreis mit etwas schliesst, dass mehr nach werner, als nach joachim klingt.
"Erklären wir Tellkamp kurzerhand zum Noll-Fortschreiber."
Das ist eine interessante These - das Fortschreiben der alten Sozialisation in neuen Gewändern.
Wie verhält sich das allerdings mit all den Heerscharen von „Born in the GDR“, die nun auf (westlichen) Couchs liegen und sich therapieren lassen J))
Doch ganz unironisch: Ist das der menschliche Makel oder eine spezifisch deutsche Eigenart?
„Die Geschichte dieser Drei-Generationen-Figur kann man als die Geschichte der DDR lesen, der derart zusammengeschmissene Text ist klüger als die beiden Autoren für sich.“ – Du hast es geschafft: die beiden Nolls kommen auf meine Leseliste. Schöner Text. Danke.
Ich werde demonstrativ nichts sagen an dieser Stelle, das würde wieder zu weit führen...
Nur soviel: Manchmal wünschte ich mir eine Welt, in der ich gewissermaßen ganz unschuldig zum Beispiel die angekündigte Turmfortsetzung lesen könnte, ohne noch bevor ich das Buch auch nur aufschlage hundert mal eingetrichtert bekommen zu haben, dies sei nun wirklich der alleserklärende Gesellschaftsroman überhaupt und die öffentlich-rechtlichen Skriptschreiber säßen bereits an einer Umsetzung für den nächsten 3. Oktober. Das wäre so richtig schön.
Nun gut, man kann nicht alles haben, Dir danke ich für das Aufzeigen mancher interessanter Parallele!
Gruß, d.
Ich komme nicht mit. Ich sollte mehr lesen und nicht so viel fernsehen. Schnüff. Was Du geschrieben hast hört sich gut an und ist sicher richtig, aber es wäre Hochstapelei von mir, so zu tun , als ob iches verstanden hätte, aber dafür kannst Du absolut nichts.
"Dieter Noll hat sich so angestrengt – und herausgekommen ist Uwe Tellkamp. Der befreite Christian von 1989, Alter Ego seines Schöpfers, ist ein langweiliger Idealist, wie Werner Holt aka Dieter Noll nach seinem Ankommen im Aufbaupathos des neuen Deutschland einer war. Christian soll uns die Ankunft im Freiheitspathos des allerneuesten Deutschland vorführen, das uns sonst nur in den Reden des Bundespräsidenten Gauck begegnet."
Ein historischer Bogen über Jahrzehnte, punktgenau, mit diesen wenigen, gemessen gewählten Worten, ein Labsal, zum Niederknien. Chapeau! & Danke.
Nicht nur in dieser komprimierten Form tatsächlich ein genialer Einfall. Gut auch Dein Verweis auf den "Eisvogel", den ich vor Jahr und Tag mit ziemlichem Befremden gelesen habe. Was wollte er nur damit, der Tellkamp. Ernst Jünger allein kann es doch nicht gewesen sein. Hat aber so richtig keinen Erfolg gebracht, glaube ich.
Steh schnell wieder auf! Die Leute gucken schon!
Danke! :-)
Danke, por. - Tja, Du hast den Nachteil, nicht die DDR-Schule besucht zu haben. Sonst wärst Du gezwungen gewesen, "Die Abenteuer des Werner Holt" zu lesen. Das Ding hat für mich als 16-jähriger übrigens zu den angenehmeren Teilen der Deutsch-Pflichtlektüre gezählt.
Unsere Deutschlehrerin hat uns sogar auch eine Parodie (und die wahr sehr satirisch) auf die Noll-Schreibe im Unterricht vorgelesen. Leider hab ich vergessen, von wem die war, und hab es auch nicht wieder rausgekriegt.
Vielleicht weiß es jemand anders? Bitte melden. :-)
Danke!
Die Lektüre könnte sogar ganz unterhaltsam sein, koslowski. Du liest doch auch Krimis. Nimm es als Spannungsliteratur. :-)
Du lässt Dir doch ohnehin nichts eintrichtern, oder?!? Gruß v. g.
Der Freitag-Artikel, auf den Du anspielst, hat mich neulich ratlos zurück gelassen. Zu leugnen ist sicher nicht, dass alle möglichen Neurosen und Traumata als irgendwie direkte oder mittelbare Folgen der Wendeereignisse und Nachwendeentwicklungen bei ost-gebürtigen Menschen vorhanden sind. Insgesamt malt der Text aber ein tendenziell pauschalisierendes Bild, dass meinen Erfahrungen (mit mir selbst, meinen inzwischen erwachsenen Kindern, mit nicht wenigen Freunden und Bekannten) nicht entspricht. Ich denke, auch die "Zonenkinder" sind von ganz verschiedener Art, so wie ihre 'Zoneneltern' ganz verschieden mit den Umständen und auch mit ihren Kindern umgingen.
Dieses Wohlwollen nicht aufs Spiel zu setzen, birgt Gefahren fürs Schriftstellerdasein. Noll ist das beste Beispiel dafür.
Danke fürs Lesen!
Liebe Magda, auch Dir ein dank fürs Lesen. - Ich erlaube mir mal, auf einen Deiner ersten Blogbeiträge hier zu verlinken, der sich ja mit dem 'Turm' beschäftigte. Jetzt eben beim erneuten Lesen fand ich auch den Kommentar von Ingo Ahrend wieder sehr interessant!
Hach, und jetzt hab ich gesehen, dass Du damals in einem Kommentar auch schon über die Ernst-Jünger-Liebäugelei geschrieben hast! :-)
Ich schwör, das hatte ich vergessen! Aber es wird in meinem Unterbewussten gesteckt haben. :-))
Danke für den Link. Das mit dem "Eisvogel" hatte ich selbst auch vergessen. Wobei - Du hast meiner damaligen Tellkamp-Rezension und persönlichen Tellkamp-Rezeption jetzt die Verbitterung genommen, weil er in Deinem Kontext zu ertragen ist.
Die Parodie könnten von Günter de Bruyn stammen. Der hat mal ein ganzes Buch dazu gemacht. "Maskeraden". Von der Zeit würde es hinhauen. Es ist 1966 erschienen.
Danke, Magda, das muss ich mir doch noch mal raussuchen.
das wohlwollen der adenauerstiftung aufs spiel setzen oder nicht, beides birgt gefahren. noll mag als beispiel herhalten, was aus kunst in der nähe der macht werden kann; ich bin da leider nicht so bibelfest.
aber eine entscheidung gegen adenauer und für den rock'n'roll kann eine schriftstellerexistenz - die fleischliche, irdische jetzt; miete, fressen, rechnungen - auch gut in die bredoullie bringen. denken wir an den extremen prestigeverlust des vormals so gefeierten stefan heym im bürgerlichen kulturbetrieb nach 89. wo war da noch begeisterung für das vorher so gefeierte querdenken? seine arbeit als schriftsteller wurde von da an querbeet totgeschwiegen.
oder noch etwas aktueller: wer glaubt noch, dass ein ingo schulze je wieder einen der finanziell interessanten preise kriegen wird, nachdem er angefangen hat, ständig auszusprechen, was denkende sich so denken. wie lange wird man so einen noch oft gegen honorar einladen, seine meinung zu sagen? sagen wir, beim mdr? ihm stipendien verleihen? das feuilleton über ihn schreiben lassen?
will sagen, es ist sicher keine leichte entscheidung, falls man denn je das gefühl hat, eine solche treffen zu müssen bzw. zu können, vor der herr tellkamp da eventuell steht.