In dem Franco-kritischen Film Tod eines Radfahrers des spanischen Regisseurs Juan Antonio Bardem von 1958 ist ein Radfahrer ganz selbstverständlich noch ein Prolet. Die Haupthelden, eine Oberschicht-Frau und ein Bildungsbürger-Mann, fahren ein Automobil und überfahren einen Radfahrer, einen anonymen Mann aus der Arbeiterklasse. Und natürlich begehen sie Fahrerflucht.
Die 50er und 60er Jahre sind eine Zeit der Radsportbegeisterung. Im Westen zieht die Tour de France 100.000e an die Straßenränder, wenn der bunte Pulk der Stahlross-Jockeys sich nähert. Im Osten ist es die Friedensfahrt durch die Volksrepublik Polen, die ČSSR und die DDR, die die Leute nicht nur wegen ihres Anliegens begeistert. Meine Frau Mama war damals ein "Backfisch" und gehörte zu den kreischenden jungen Mädchen, die ihre vorüberflitzenden Helden anhimmelten.
Einer dieser ihrer Helden ist jetzt gestorben: Klaus Ampler, Jahrgang 1940, wie meine Mutter. Der Werftschweißer, Sohn eines Brunnenbauers, war ein typisches Beispiel eines Proletariers, der als Gladiator in Körper-Kämpfen versucht, sich aus dem anonymen Knuffer-Alltag der Arbeiterklasse zu verabschieden. Vor dem Mauerbau hatte er mit einer Profi-Karriere im Westen geliebäugelt, sich dann aber doch für die Karriere in der DDR entschieden. Erst waren Stasi und Sportfunktionäre noch skeptisch, dann aber ging es mit ihm aufwärts, Friedensfahrt-Toursieger, Teilnehmer an Rennen in Ost und West, als Fahrer, später Trainer, Träger des "Vaterländischen Verdienstordens" der DDR. Seinen Sohn Uwe Ampler konnte er zu insgesamt 4 Friedensfahrtsiegen und einer Olympiagoldmedaille führen.
Die Geschichte der Friedensfahrt ist ein Spiegel der Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Element der Versöhnung der osteuropäischen Volksdemokratien mit den "besseren" Deutschen nach dem Nazi-Krieg, Propagandaaktion im Kalten Krieg. 1969, ein Jahr nach dem Prager Frühling wird vorsichtshalber die ČSSR aus dem Tourverlauf genommen. Für 1986 war der Auftakt zur Tour in Kiew geplant. Dann passierte der GAU im nahegelegenen Tschernobyl. Die meisten westeuropäischen Mannschaften sagten ab. Die anderen starteten und fuhren erstmal 4 Rennen in und um Kiew, bevor es dann nach Warszawa ging. Amplers Sohn Uwe war dabei. Nach 1989/90 konnte die Friedensfahrt im Wettlauf um eine für ihre Existenz notwendige ökonomische Wertigkeit immer weniger mithalten. Der Radsport galt in den 2000er Jahren als die Sportart, an der die Entwicklung hin zu einem rein kommerziellen popindustriellen Geschäft am besten abzulesen war. Das wäre mit dem Niveau der sportlichen Anforderungen vielleicht sehr gut, nicht aber mit dem - im positiven wie negativen Sinne - ideologischen Charakter des Ereignisses vereinbar gewesen. 2006 war endgültig Schluss.
Pedalritter wurden sie gern genannt. Pedal-Gladiatoren wäre die treffendere Metapher gewesen. Seit den Neunzigern sind es in erster Linie Pop-Stars, mit allem Drum und Dran, einschließlich der Drogenprobleme, wie man an der Figur des Jan Schur, auch an Uwe Ampler, sehen konnte. Die beiden Grundtypen der Radrenn-Zirkus-Artisten, personifiziert einerseits in einem Lance Armstrong und andererseits z.B. in einem Klaus Ampler, sind keine Ritter. Der eine war eine Art frühkapitalistischer Abenteuer-Unternehmer, der andere ein proletarischer Körper-Held. Interessant ist, dass sie beide auch zur Fahne aufschauten. Der eine fürs Geschäft bzw. zur Selbsttäuschung, der andere fürs Politische, für einen Idealismus (ebenfalls mit Selbsttäuschungsfaktor) und vielleicht/bestimmt auch für die Karriere.
Die im Sport als Massenmedium immer auch vorhandene ideologische Komponente (Patriotismus, Nationalismus) tritt spätestens seit dem "Sommermärchen" von 2006 regelmäßig zutage. "Lasst die Fahne auf dem Dach!", jubelte damals der Country-Schlagersänger Gunther Gabriel. Das drückte eine Stimmung aus, wie wir sie seit Sarrazin, PEGIDA und dem AfD-Reset nun auch außerhalb solcher nationaleuphorischen Sportereignisse haben. Sport dient der Völkerverständigung, sagt man. Auch die Friedensfahrt hatte in ihren frühen Jahren, in der Nachkriegszeit also, ganz unbedingt diesen Sinn. Sie war aber, wie es der Sport insgesamt heute immer noch ist, entlang nationaler Raster strukturiert. So konnte sie, wie Sport als Medienereignis es immer noch kann, auch in diesem tendenziell nationalistischen Sinne benutzt werden. Die freudigen Jubler an den Strecken jubelten eben vor allem ihrer Nationalmannschaft zu. Das waren sie noch von früher gewöhnt. Und so war für viele der DDR-Fahrer Manfred Weißleder, der sich bei der Fahrt von 1961 der gewiss unsportlichen Attacken des offensichtlich (aus nicht ganz unerklärlichen Gründen) nicht sehr deutsch-freundlichen sowjetischen Fahrers Juri Melichow mit der Luftpumpe erwehrte, ein Held, weil er es den Russen mal gezeigt hatte. Der Prolet ist nach Marx objektiv ein vaterlandsloser Geselle, der ex-proletarische Gladiator ist es nicht unbedingt.
Ein "homerisches Zerwürfnis" nennt Roland Barthes solche Episoden in seinem Kurz-Essay zur Tour de France (aus den Mythen des Alltags, 1957), die er als "großes Epos" bezeichnet. Es sieht so aus, als wären Tour de France und Friedensfahrt in diesen frühen Jahren tatsächlich so etwas gewesen. Heute ist das Pop und Soap. Der ideologische Gebrauchswert ist entgegen erstem Anschein genauso groß oder größer. Hans-Dieter Schütt wird in der Zeitung Neues Deutschland mal nicht bei einem Schriftsteller oder einer Schauspielerin pathetisch, sondern bei einem Radfahrer, na ja, sentimental. Gehoben sentimental, sollte ich wohl sagen, denn er nennt den Friedensfahrtsieg Klaus Amplers von 1963 ein genauso wichtiges Mai-Ereignis wie die berühmte Kafka-Konferenz, die gut 2 Wochen nach der Auftakt-Etappe "Rund um Prag" daselbst stattfand und die erste Schwalbe des Prager Frühlings gewesen sein soll.
Heute wird der Radsport eher selten noch so wichtig genommen. Aber wir haben ja den Fußball. Das nächste Großgerangel der Nationalhelden, EM genannt, steht ins Haus. Und es gibt schon eine facebook-Gruppe namens "AfD Fußballfreunde der Nationalmannschaft".
Kommentare 20
Als Wessi(besuch) dennoch immer dicht am Geschehen.
Sehr schöner Artikel. Die Fahrradgeschichte ist unegemein spannend. Die SBZ/DDR-Radfahrerbewegung stand ja in der Tradition des Arbeiter-Radfahrerbundes vor der Zeit des NS:
Wenn's Losungswort "Frischauf" erschallt,
frischauf in aller Welt,
dann zeigen wir durch unser Werk,
was uns zusammenhält. Wir wollen frei und einig sein,
Freiheit für jedermann;
wo man für Recht und Wahrheit kämpft,
sind allzeit wir voran,
heißt so schlecht gereimt wie berührend im "Radfahrer-Bundeslied". Die proletarischen Radfahrer waren sehr beliebt bei Demonstrationen (als Artisten, aber auch als Helfer im manifesten Klassenkampf). Die Behörden erfanden in der WR Schikanen (Fahrradkarte, Fahrradsteuer, Straßensperrungen für Fahrräder), die bis heute nachwirken (Kontrollieren der Beleuchtung, der Reflektoren usw. durch unsere Ordnungskräfte).
Ja, das ist wahr! Man könnte mit der "Reitmaschine" (Laufrad) des Karl v. Drais, in England auch "dandy horse" genannt, beginnen, wo die Zweiradmaschine schon ein Element in einer zumindest symbolischen bürgerlich-gegenkulturellen Bewegung war. Das Fahrrad als serielles, und damit ja auch erschwingliches, Industrieprodukt, gilt heute ja gern als Vehikel technik- und industrieskeptischer "Ökos". Bei den Arbeitern war es ein Element ihrer durchaus technikaffinen Kultur.
Ich habe in der Literatur noch den Begriff "rote Kavallerie" für die radelnden Arbeiter gefunden, die gewerkschaftliche oder politische Arbeit unterstützten.
Kein Sport ohne das absolut notwendige Outfit - moderne Zeiten eben.
Ich hatte einmal ein Erlebnis der besonderen Art.
Der Fährmann einer Gierseilfähre in der Altmark sah einen bunt gestylten Radfahrer über den Deich kommen ... und legte schnell ab.
Einige Tage später traf ich den bunten Radfahrer im Supermarkt und wir kamen ins Gespräch. Er reißt jeden Tag 150 km runter und jedesmal, wenn er an die Fähre kommt, legt der Fährmann ab, um ihn zu ärgern.
Ein Benehmen wie ein Radfahrer! :-)
Karl Drais, nach der zusammengeschossenen Revolution von 1848/49 legte er seinen Adelstitel ab.
Stimmt, danke, das "v." war nicht korrekt. - Karl Drais wusste übrigens ganz konkret, warum er eine bürgerliche Revolution unterstützte. Sein vieljährige, geniale Erfindertätigkeit brachte ihm nur ein, verarmt und verbittert zu sterben, denn es gab kein Urheberrecht und keine Vermarktungsmöglichkeiten z.B. für das Laufrad.
Karl Benz, auch aus Karlsruhe, war da erfolgreicher. Mir war bei der Korrektur der Geist wichtiger, der nach der Revolution 1848/49 in Baden herrschte.
Klaus Ampler? War einer meiner Helden in der ostwestfälischen Provinz zu Beginn der 60er Jahre. Ich sah im Deutschen Fernsehfunk seinen Sieg bei der Friedenfahrt 1963. War kein Radsportfan (träumte vom Führerschein), sah aber gern DDR-Fernsehen, das man bei subtiler Einstellung der Dachantenne in schlechter Qualität empfangen konnte. Die Übertragung des Rennens war für mich attraktiv wegen der authentischen Bilder von Landschaften und Menschen zwischen Prag, Warschau und Ost-Berlin. Hatte seit 1963 den Eindruck, dass im Osten die besseren Radfahrer unterwegs waren.
Radsport und antifaschistischer Widerstand:
Gino Bartali
Ehrung
„…gli è tutto sbagliato, tutto da rifare…“ (Gino Bartali)
In dem Film „Der Assisi Untergrund“ aus dem Jahre 1985 wurde Bartali ein Denkmal gesetzt. Er war während der Herrschaft des italienischen Faschismus als Fahrradkurier für die Untergrundbewegung tätig, die sich für die Rettung von Juden einsetzte. Im Abspann des Films wird seine spätere sportliche Laufbahn erwähnt. Zu Beginn des Jahres 2012 teilte der Weltradsportverband UCI mit, dass Yad Vashem, die israelische „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“, prüfe, ob Bartali für diese Verdienste der Titel Gerechter unter den Völkern verliehen werden soll.[1] Im September 2013 erhielt er posthum diese Auszeichnung.[2][3] Es wird berichtet, dass Bartali als Kurier für den antifaschistischen Widerstand tätig war und Mitglieder der Familie Goldenberg vor der Verfolgung durch Deutsche und italienische Faschisten versteckte. Insgesamt sollen seine Handlungen 800 verfolgte Juden vor der Deportation bewahrt haben.[4] Hierfür wurde ihm im Jahre 2005 bereits durch den italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi posthum die goldene Ehrenmedaille (Medaglia d'oro al Merito civile) verliehen.[5] Teile seiner damaligen Ausrüstung sind beimWallfahrtsort der Radrennfahrer, der Kirche Madonna del Ghisallo und im Museo del Ciclismo in Magreglio, ausgestellt. In Magreglio wurde eine Straße Via Gino Bartali benannt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gino_Bartali#Ehrung
Was für ein blitzgescheiter Beitrag, danke.
Und außerhalb des Protokolls und es von Ihnen Geschriebenen: Mich berührt sein Tod, von dem ich auch erst jetzt erfuhr, durchaus.
Auch wenn von der kindlichen Begeisterung nichts blieb. Radsport, Friedensfahrt und natürlich auch Ampler waren in meinem Leben wichtig. Dass es dabei sehr viel mehr als dereinst zu bedenken gibt, schreiben Sie ja-
Aber so isses halt.
Täve übrigens wurde vor wenigen Wochen 85
So wie ich es mal las, das war in analogen Zeiten, wurden nach der Zerschlagung der Revolution Adlige, die wie Drais den Titel abgelegt hatten, gezwungen, ihn wieder zu tragen. Ob das für ihn auch zutraf weiß ich nicht.
Auf jeden Fall sollte der Respekt vor dem Demokraten das “von“ ausschließen.
Und, nicht nur am Rande und mit einer Spur Lokalpatriotismus, Mannheim, die Stadt in der ich zwei Jahrzehnte lebte, hat die Erfindung der Fahrrads und des Autos hervorgebracht.
Und wäre um ein Haar Mozart-Stadt geworden.....
was für eine interessante ansammlung aufeinander verweisender kleinstgeschichten in einem so kurzen bericht. vielen dank. gern gelesen.
Meines Wissens gab es auch ein-, zweimal eine bundesdeutsche Mannschaft, die am Kurs teilnahm. Die waren aber wirklich Amateure, im Sinne von anderweitig berufstätige Freizeitsportler, während die DDR-Rennfahrer von ihren formalen Jobs freigestellt waren, bei mehr als vollem Lohnausgleich. War also schon ein bisschen unfair...
Mir sind allerdings aus der Zeit auch keine deutschen Profis bekannt, die nennenswerte internationale Erfolge erzielt hätten. Ist aber auch nicht mein Hobby, darüber Bescheid zu wissen.
Danke für Deinen Beitrag! Es gab mal Zeiten, wo sowas noch als Arbeiterkultur erforscht und dann in renommierten Verlagen sogar publiziert wurde. Ist wohl vorbei.
Mir ging es ähnlich. Ich war immer ein Sportmuffel, aber meine kindlichen Radsportbegeisterung hat mir die Lust am Radfahren bis heute erhalten. Allerdings nie unter Wettkampfbedingungen... :-)
Danke! Lesen soll Spaß machen - und Schreiben auch... :-)
Apropos, analog lesen, es gibt ein wirklich wunderbares Buch über Karl Drais: Hans-Erhard Lessing, Automobilität. Karl Drais und die unglaublichen Anfänge. Maxime, Leipzig 2003.
Aber vielleicht meintest Du ja genau das.
1975 geboren und in der DDR während der Schulzeit intensiv in Sportvereinen unterwegs, merke ich erst rückblickend, was für einen ungeheuren Stellenwert der Sport in der DDR überhaupt hatte. Wenn ich so zurückdenke, habe ich den Eindruck, dass fast jeder aus dem Schulumfeld in einem Sportverein war. Und ständig Meisterschaften, ob auf Stadt-, Kreis- und Bezirksebene, Spartakiaden usw. Und diese äußerst umtriebige Schau nach den Besten, um sie auf die Sportschulen zu verfrachten (da bin ich im Nachhinein froh, dass es so weit bei mir dann doch nicht gereicht hat).
Ja, der Sport war in der DDR wohl doch zuerst eine Angelenheit der nationalen Wichtigkeit; war die wohl wichtigste Sparte im internationalen Wettbewerb.
Gerne gelesen! Bisher kannte ich aber, wohl altersbedingt, nur den Uwe Ampler.
Umstrittene Äußerungen von Täve Schur: Sportlerlegende verharmlost ...www.tagesspiegel.de › Sportvor 6 Tagen - Umstrittene Aussagen über Doping im DDR-Sport bringen den ehemaligen Sportstar Täve Schur nun in Bedrängnis. von Friedhard Teuffel.
Täve ist ein Held und wird auch immer einer bleiben! Trotz neuer kalter Krieg und Rechthaber!