Der Fremde

Porträt Thomas S. stammte aus normalen Verhältnissen und wurde dennoch zu einem Kriminellen. Nun ist er tot. Unser Autor kannte ihn gut und versucht, sein Leben zu verstehen
Ausgabe 21/2014
Der Fremde

Illustration: Jan Steins für der Freitag

Vor knapp zwei Monaten, am 19. März 2014, wurde Thomas S. erschossen. Er hatte sich ein halbes Jahr zuvor zwischen Gießen und Marburg ein Haus gekauft und begonnen, es zu renovieren. In der Garage stand seine Harley. Gegen 22:30 Uhr muss er Besuch bekommen haben, und dieser Besucher hat dann viermal auf ihn geschossen: dreimal in den Bauch und einmal in den Kopf. Es war so etwas wie eine Hinrichtung. Thomas S. hat sich noch aus dem Haus geschleppt und ist dann auf dem Gehweg zusammengebrochen. Der von Nachbarn gerufene Notarzt konnte nichts mehr tun.

Der mutmaßliche Täter wurde schnell fest- und in Untersuchungshaft genommen. Bei dem Tatverdächtigen handelt es sich um einen 34-jährigen Mann aus der Umgebung, der spielsüchtig sein und jede Menge Schulden haben soll. Ein Arbeitskollege von Thomas S. Auf der Suche nach Gründen und Motiven für die Tat stochert man nun im Nebel. Alles, was bisher vermutet wird, steht in keinem Verhältnis zur Schwere der Tat und vermag die entgrenzte Gewalt nicht zu erklären. Tötungen ohne ersichtliches oder nachvollziehbares Motiv hinterlassen bei Angehörigen und Freunden eine große Ratlosigkeit und Verstörung. Sie können sich das Geschehen nicht aneignen und kommen nicht zur Ruhe.

Thomas S. ist 52 Jahre alt geworden. „Rest in Peace“, haben seine Freunde nach seinem Tod in den sozialen Netzwerken geschrieben. Und: „Thomas hat als Gangster gelebt und ist als Gangster gegangen.“ Ich kenne Thomas S. aus jenem Gefängnis, in dem er Häftling war und ich als Gefängnispsychologe arbeite. Er hat eine Weile an einer Gesprächsgruppe teilgenommen, die ich zusammen mit einer Kollegin angeboten habe. Es ging in der Gruppe darum, die Zusammenhänge zwischen der eigenen Biografie und der kriminellen Entwicklung aufzudecken. Thomas S. berichtete von einer problemlosen Kindheit. Er und seine zwei jüngeren Geschwister seien in einem Dorf bei Gießen zur Welt gekommen. Vater und Mutter arbeiteten als Angestellte in einer Firma in Gießen. Die Mutter blieb nach der Geburt der Schwester zu Hause. Man wohnte in einem Haus, das der Großvater gebaut hatte. Nachdem er den Hauptschulabschluss erworben hatte, begann er eine Schlosserlehre in dem Betrieb, in dem auch der Vater tätig war. 1978 schloss er mit dem Gesellenbrief ab.

Ein männlicher Körper in einem Muskelpanzer

In der Freizeit spielte Thomas S. Fußball und Handball. Im Handball sei er besser gewesen und habe eine Weile in der A-Klasse gespielt. Irgendwann begann er mit dem Bodybuilding und besuchte das erste Fitness Studio in Gießen. An der Wand seiner Zelle hatte Thomas S. ein Bild aus diesen Tagen aufgehängt; er war darauf in einer Schwarzenegger-Pose zu sehen: ein männlicher Körper von einem Muskelpanzer umgeben. Ein Mann als Phallus. Im Fitness-Studio kam er mit Leuten aus dem Rotlichtmilieu in Kontakt. Sie verdienten an einem Tag mehr als er in einem ganzen Monat – ohne sich krummzulegen. Er begann, mit ihnen herumzuziehen und zu feiern. Lernte Frauen kennen, die als Prostituierte arbeiteten, und entdeckte, dass es jenseits der soliden, kleinbürgerlichen Welt seiner Eltern und seines Dorfes noch eine andere gab, von der er nichts geahnt hatte. Diese Halb- und Unterwelt faszinierte ihn.

Eine Weile führte er noch eine Art Doppelleben: Tagsüber ging er arbeiten, nachts trieb er sich im Milieu herum. Seine neuen Freunde nannten ihn etwas abschätzig einen „Halbsoliden“. Er rauchte Haschisch und konsumierte gelegentlich Kokain. In seiner neuen Umgebung waren Statussymbole wie Autos, Uhren und Hunde enorm wichtig, aber mit einer normalen Arbeit nicht zu finanzieren. Thomas S. zog sich aus der ersten Welt zurück und stieg ganz ins Milieu ein. Er übernahm einen Nachtclub und ließ Frauen für sich arbeiten. Er gefiel sich in der Rolle des Zuhälters und Mackers. Als sein Club pleiteging, geriet er in finanzielle Nöte. Um seinen Lebensstil weiter aufrechterhalten zu können, überfiel er Mitte der 90er Jahre gemeinsam mit einem Mittäter einen Geldboten einer Sicherheitsfirma. Die beiden waren massiv bewaffnet und erbeuteten rund 200.000 DM. Thomas S. wurde der Tat überführt, der Mittäter blieb unbekannt.

1996 wurde der bis dahin lediglich geringfügig vorbestrafte Thomas S. zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Er verbrachte vier Jahre in Butzbach, arbeitete in der anstaltseigenen Schlosserei und hielt sich an die Regeln. Zweimal pro Woche ging er mit dem Anstaltspfarrer im nahe gelegenen Wald laufen. Es ist dessen Verdienst, Thomas S. vom Bodybuilding abgebracht und seine Leidenschaft fürs Laufen geweckt zu haben. Im Jahr 2000 wurde er auf Bewährung entlassen. Er arbeitete eine Weile in einem Autoteilegeschäft, später in einer Kopiergerätefirma. Als diese pleiteging, stand er mit seinen Schulden da. Thomas konnte sich nicht vorstellen, „aufs Amt zu gehen“ und von staatlichen Transferleistungen zu leben. Er war noch nicht bereit, sich vom Milieu zu verabschieden, seine Ansprüche zu mäßigen und sich mit einem bescheidenen Leben zufriedenzugeben.

Während der Butzbacher Haftzeit hatte Thomas S. Leute kennengelernt, mit denen er nun in großem Stil Raubüberfälle zu planen begann. Eine zwar ungewollte, aber doch wesentliche Nebenfolge eines Gefängnisaufenthaltes besteht darin, dass Kriminelle andere Kriminelle kennenlernen und ihre Kenntnisse perfektionieren. Ziel der geplanten Raubüberfälle sei gewesen, so viel Geld zu erbeuten, dass man ausgesorgt hätte und in Ruhe seine Geschäfte betreiben könne. Die Männer waren zu fünft und bereiteten ihre Überfälle akribisch vor. Wochenlang wurden Objekte ausgespäht, der Ablauf eines Überfalls eingeübt und Fluchtwege sondiert. Zwei schwer bewaffnete Überfälle auf Geldtransporter brachten schließlich eine Beute in Millionenhöhe.

Die Männer achteten darauf, dass bei ihren Unternehmungen niemand körperlich zu Schaden kam. Dass sie Furcht und Schrecken verbreiteten, gehört zum Geschäft und ist unvermeidlich. Ein Räuber, der zu viel Mitgefühl mit seinen Opfern hegt, wird keinen Erfolg haben. Eine gewisse Härte und Kälte sind unabdingbar. Man muss massive Gewalt glaubhaft androhen, um danach auf sie verzichten zu können.

Statt sich aber nach den erfolgreichen Coups zufriedenzugeben, sagten sich die Männer: „Kommt, Jungs, ein Ding ziehen wir noch durch. Danach ist Schluss.“ Bei den Vorbereitungen zu diesem dritten Überfall aber wurden sie zufällig entdeckt. Ein Mann ging mit seinem Hund spazieren, plötzlich sprang das Tier an einem Baumstamm hoch und schlug an, weil dort eine Schnur herabbaumelte. Der Mann verständigte die Polizei. Die Räuber hatten vorgehabt, einen Baum zu sprengen und auf die Straße fallen zu lassen, um der Polizei nach dem Überfall auf einen Geldtransporter die Verfolgung zu erschweren. Sie wurden noch am Tatort gestellt und nach einer dramatischen nächtlichen Verfolgungsjagd festgenommen. Ein beteiligter Kripobeamter soll danach zu Thomas S. gesagt haben: „Es hat Spaß gemacht, euch zu jagen, Jungs!“

Er hat das, was er tat, auch gewollt

Diesmal wurde Thomas S. zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren und vier Monaten verurteilt. Wir begegneten uns in Butzbach wieder. Thomas S. war ein Gefangener, der sich nicht beklagte und in der rauen, männlich geprägten Welt des Gefängnisses gut zurechtkam. Ein unbewusster, quasi-instinktiver Hegelianer, der sich und anderen sagte: „Mit dem Wollen der Tat habe ich auch bereits die Straffolge akzeptiert. Wer die Gesetze überschreitet, ist der wahre Urheber der Strafe, die der Staat über ihn verhängt. Such is life!“ In unserer Gesprächsgruppe hat er gelegentlich andere darauf hingewiesen, dass sie selbst es waren, die den Anlass zu ihrer Inhaftierung geliefert hatten. „Übernehmt die Verantwortung für das, was ihr getan habt“, sagte er oft zu larmoyanten Mitgefangenen. Nur wer gelernt hat zu sagen: „Ich habe das getan, ich habe es gewollt“, kann irgendwann sagen: „Ich werde das in Zukunft nicht mehr tun!“

Mit unserer Gesprächsgruppe im Gefängnis versuchten wir nicht, aus Bankräubern Bankangestellte zu machen. Wir verfolgten eher den Ansatz, jene Kreativität und Intelligenz, die in den Straftaten steckt, auf etwas anderes zu lenken. Wir wollten die Gefangenen dazu ermuntern, ihre unbürgerliche Renitenz so zu organisieren, dass sie nicht wieder als Objekte fremden Willens im Gefängnis landen.

Irgendwann tauchte in Butzbach ein junger Mann auf. Ich nenne ihn Nils. Er war 22 Jahre alt und hatte sich auf eigenen Wunsch aus dem Jugendgefängnis herausnehmen und in den Erwachsenenstrafvollzug verlegen lassen. Acht Jahre zuvor, als 14-Jähriger, hatte er dem Prozess gegen Thomas S. und seine Mittäter als Zuschauer beigewohnt; die Räuber wurden für ihn zu Helden, und Nils beschloss, ebenfalls Gangster zu werden. Obwohl überdurchschnittlich intelligent, ließ er die Schule schleifen und wurde Chef einer Gang, auf deren Konto eine ganze Reihe von Einbrüchen und Raubüberfällen ging. Mit 18 wurde er deswegen zu einer längeren Jugendstrafe verurteilt. Nun, im Erwachsenenvollzug in Butzbach, begegnete Nils zwei seiner ehemaligen Heroen wieder; ein anderer hatte sich noch in der Untersuchungshaft das Leben genommen. Nils wurde Mitglied unserer Gesprächsgruppe, und dort trugen ausgerechnet seine Helden von damals viel dazu bei, ihm den Star zu stechen und ihm klarzumachen, dass er sein Leben ruinierte. „Schau dir an, was aus uns geworden ist! Soll das deine Zukunft sein? Wir wissen inzwischen, worauf es im Leben wirklich ankommt“, sagten sie. „Es gibt nichts Schlimmeres, als sein Leben in Einrichtungen wie diesen zu verplempern.“ Hätte ich Nils das Gleiche gesagt, hätte es wahrscheinlich seine Wirkung verfehlt. Nils lebt inzwischen in Berlin, hat auf der Abendschule sein Abitur nachgeholt, geheiratet und ist Vater eines Jungen. Er hat die Kurve gekriegt, wie man so schön sagt.

Als wir den über 40 Jahre alten Film Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach von Volker Schlöndorff anschauen wollten, erklärte sich Thomas S. bereit, ein Referat über die Geschichte der Räuberbanden in Deutschland und speziell in Hessen zu halten. Ein Referat über seine Vorfahren gewissermaßen: Im Jahr 1822 überfielen acht Tagelöhner, Bauern und Hausierer aus einem Dorf bei Gladenbach einen von Pferden gezogenen Geldkarren, der Steuereinnahmen transportierte. Der Tatort liegt vielleicht 25 Kilometer von Thomas S.’ Geburtsort entfernt, er hat ihn als Kind mit seinen Eltern einmal besucht. Die Kombacher Räuber flogen bald auf, weil arme Leute auffallen, wenn sie plötzlich über Geld verfügen. Sie wurden, sofern sie sich nicht in der Haft das Leben nahmen oder fliehen konnten, im Oktober 1824 öffentlich hingerichtet. Thomas S. hat sein Referat mit großer innerer Beteiligung gehalten.

Bei den armen Leuten von Kombach war es das blanke Elend, aber von welchen Motiven werden Straftaten wie die von Thomas S. oder Nils angetrieben? Von dem diffusen Gefühl, dass das Leben anderswo ist; von der Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der bürgerlich-kleinbürgerlichen Konventionen; von dem Wunsch, aus der Hamstertrommel auszusteigen: Schule, Arbeit, Rente, Tod. Am Grunde vieler Straftaten stößt man auf eine solche antibürgerliche Renitenz. Wie für Ernst Jünger der Krieg kein Mittel war, irgendwelche politische Ziele zu erreichen, sondern Selbstzweck, so trägt auch die Kriminalität von kleinen Gruppen den Zweck in sich selbst. Der Jäger, hat der französische Philosoph Blaise Pascal einmal treffend gesagt, ist nicht am Hasen, sondern an der Jagd interessiert. Pascal abwandelnd könnte man sagen: Gewisse Verbrecher sind nicht oder nicht in erster Linie am Geld interessiert, sondern daran, Banken oder Geldtransporter zu überfallen. Es ist ihre Art, zu leben – und manchmal auch zu sterben.

Sind Verbrecher verhinderte Revolutionäre?

Meine Generation hatte das Glück, ihr Unbehagen und ihren Ekel vor dem bürgerlichen Leben politisieren und in eine kämpferische Auseinandersetzung mit der etablierten Gesellschaft überführen zu können. Wäre Thomas S. zehn Jahre früher geboren worden, wäre ich ihm vielleicht im Rahmen einer Lehrlingsgruppe begegnet, die wir damals in dem Bestreben, uns mit dem Proletariat zu verbünden, organisiert hatten. Er wäre dann möglicherweise ein politischer Kämpfer geworden und hätte seine Abenteuer in der streitbaren Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen erlebt. Und die bot ja durchaus Abenteuerliches. Wie Herbert Marcuse hätten wir damals alle gesagt: „Eine Revolution, die nicht ein wenig Abenteuerlichkeit enthält, ist nichts wert. Alles andere ist Ordnung, Gewerkschaft, Sozialdemokratie, Establishment. Das Abenteuer geht immer darüber hinaus.“

Aber als Thomas S. in die Pubertät kam, war diese Revolte abgeflaut oder in dogmatische Sekten zerfallen, die wenig Abenteuerliches boten. So wandte er sich der Unterwelt zu, die davon mehr zu bieten schien. Zu Anfang meiner Arbeit im Gefängnis hatte ich Bertolt Brechts berühmte Fragen aus der Dreigroschenoper im Ohr: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Ich neigte dazu, in gewissen Straftaten, vor allem in größeren und raffiniert durchgeführten Eigentumsdelikten, verhinderte Staatsstreiche und in Verbrechern missglückte Revolutionäre zu sehen, bis ich begriff: Der Verbrecher ist nicht ein Feind der deutschen Nachkriegsgesellschaft, sondern jeder Gesellschaft. Mehr noch: Der erfolgreiche Parasit muss auf das Wohl seines Wirts bedacht sein, und so hat der Bankräuber in Wahrheit keinerlei Interesse an der Abschaffung des Privateigentums, sondern lebt von und in ihm. Wie eine Made im Speck.

Warum also tun Männer so etwas? Warum ziehen sie in den Krieg? Warum überfallen sie Banken und Geldtransporter? Sie wollen sich der Gefahr aussetzen und sich erproben. Sie wollen wissen, wie stark und kaltblütig sie sind, was sie aushalten. Das Leben als Bandit und Räuber besitzt die Würde der Gefahr. Mit dieser Würde bringt man später dann auch den Knast hinter sich. Es ist eine Lebensform, die dem Stechuhrdrücken und dem Vertikutieren des Rasens ums Einfamilienhaus allemal vorzuziehen ist.

Mir persönlich ist das Männlichkeitskonzept, das im Milieu und im Knast gelebt wird, immer fremd geblieben. Es ist für mich durch die Generation meines Vaters historisch diskreditiert und wegen der Frauenverachtung kein lebbares Modell. Der Literaturwissenschaftler und Publizist Klaus Theweleit hat den Zusammenhang zwischen dieser Form von soldatischer Männlichkeit und dem Faschismus in seinem Buch Männerphantasien aufgezeigt. Aber ich muss dieses Konzept von Männlichkeit verstehen, wenn ich mit den Häftlingen arbeiten will. Es hat seine Anziehungskraft auf junge Männer bis heute nicht eingebüßt.

Respekt, Ehre und Männlichkeit sind für die meisten Gefängnisinsassen wichtige Kategorien, ihre Identität kreist um diese Werte. Sie sind von klein auf von Frauen umgeben, die ihnen sagen: „Seid nicht so laut und grob!“ Aber die Jungs denken: Das ist Frauengerede. Der Psychiater Hans-Ludwig Kröber hat in seinem Essay Töten ist menschlich darauf hingewiesen, dass man der Gesellschaft einen Bärendienst erweist, wenn man die traditionellen Männlichkeitskonzepte ignoriert oder als bloß defizitär stigmatisiert und pathologisiert. Die moderne und von Frauen dominierte weiche Pädagogik versucht, Kindern Aggression auszureden und abzugewöhnen. Gewalt sei böse und müsse vermieden werden.

In jener Lebensphase aber, in der männliche Jugendliche ein Selbstkonzept entwickeln, sind sie von den Rollen des Kämpfers, Kriegers oder Banditen fasziniert. Am nächsten kommt diesem Konzept der Sportler. In beiden Fällen geht es um den Einsatz des Körpers, um das Risiko. Die Anziehungskraft, die bestimmte Subkulturen auf Jugendliche ausüben, liegt weniger in deren Ideologie als in ihrer Gewaltbereitschaft und der Möglichkeit, Aggressionen auszuleben und sich auszuprobieren. Kröber sagt sinngemäß: Ein männlicher Umgang mit jugendlichen Straftätern ist absolut notwendig. Sie müssen spüren, dass man sie nicht zu Mädchen umerziehen möchte, sondern zu selbstdisziplinierten Männern. Sie müssen nach Regeln kämpfen lernen. Sie brauchen Männer als Vorbilder und männliche Paten. Gewalt darf nicht tabuisiert werden, sondern muss in Power umgewandelt werden.

In unseren Jugendgefängnissen sind der Sozialdienst und der Psychologische Dienst häufig weiblich dominiert. Damit wir uns nicht missverstehen: Dass Frauen heute in der einstigen Männerdomäne Gefängnis arbeiten, ist segensreich gewesen und hat zu einer Entbrutalisierung der Umgangsformen beigetragen. Aber ihre Übermacht birgt auch die Gefahr, dass Aggressivität ignoriert oder als tumb abgetan wird. Solche Gefühle verfügen dann aber über keine Ausdrucksformen mehr, ziehen sich in den Untergrund zurück und entfalten ein unkontrolliertes Eigenleben. Sie bleiben roh und unbearbeitet.

Im Jahr 2009 wurde Thomas S. in den offenen Vollzug verlegt und arbeitete auf dem Bau. Ich traf ihn gelegentlich und stellte fest, dass seine Hände von Mal zu Mal rauer und schwieliger wurden. Im Sommer 2012 wurde er von der Strafvollstreckungskammer aus der Haft entlassen. Nach fast zehn Jahren im Gefängnis war er nun wieder ein freier Mann. Er zog zunächst zu seinem Bruder und arbeitete weiter in der alten Firma. Nun wäre es naiv, anzunehmen, einer wie Thomas S. könnte ein rundherum „anständiger“ Mensch werden und bruchlos im bürgerlichen Leben aufgehen. Bestenfalls wird er wieder zu dem „Halbsoliden“, jenem Grenzgänger, der er zu Beginn seiner kriminellen Laufbahn gewesen war. Ein Bein in der Normalität, eins im Milieu. Über ihm schwebte wie ein Damoklesschwert der zur Bewährung ausgesetzte Strafrest. So balancierte er auf einem schmalen Grat und richtete sein Leben auf eine Weise ein, die ihn vor strafrechtlicher Verfolgung schützte. Er plante offenbar, sich niederzulassen und zur Ruhe zu setzen. Warum sonst kauft man ein Haus in einer Kleinstadt? Natürlich keine Ruhe im Sinne einer kleinbürgerlichen Idylle, sondern mit einer Harley in der Garage.

Die Beziehungen von Thomas S. zu Frauen gestalteten sich kompliziert. Mal war er mit soliden zusammen, und es ging schief, dann mit unsoliden, und das ging auch schief. Eine der soliden bekam ein Kind von ihm. Man ging im Streit auseinander; er klagte das Umgangsrecht nicht ein, das sie ihm nach der Trennung verweigerte, und lernte seinen Sohn nie kennen. Wie viele Straftäter kannte auch Thomas S. den Wunsch, an jenen Punkt zurückzukehren, der vor der falschen Abzweigung lag. Wenn es einen solchen Punkt gegeben habe, dann sei es die Trennung von jener Frau gewesen, die nach der Trennung zur Mutter seines Sohnes wurde.

Die ständige Gewalt etabliert Hierarchien

Wie gesagt, am 19. März erschien ein junger Mann und setzte dem Leben von Thomas S. ein Ende. Seine Motive liegen noch im Dunkeln. Im Gefängnis allerdings kursieren zahllose Versionen über die möglichen Hintergründe. Ich erinnere mich an den amerikanischen Spielfilm Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford aus dem Jahr 2007 und mit Brad Pitt in der Hauptrolle. Jesse James lebt unter falschem Namen unbehelligt mit seiner Familie in Missouri, plant mit einer Horde Strauchdiebe einen weiteren Zugüberfall und wird schließlich von dem sehr viel jüngeren Robert Ford erschossen, für den er nur Spott übrig gehabt hatte. Zwölf Jahre nach der Tat wird Ford seinerseits von einem ihm unbekannten Mann erschossen, der wiederum James’ Tod rächen wollte.

Es wimmelt in der Halb- und Unterwelt von Hitzköpfen, die nach Bestätigung und Anerkennung dürsten. Der ständige und scheinbar anlasslose Einsatz von Gewalt dient ihnen dazu, in einer Art fortwährendem Turnier Hierarchien zu etablieren. Die Tötung eines bekannten Kriminellen bedeutet einen Karrieresprung. Es geht im Milieu viel filmischer zu, als man denkt. Der Oxforder Soziologe Diego Gambetta hat die These aufgestellt, dass die Beziehung zwischen Gangster- und Mafiafilmen und krimineller Wirklichkeit keineswegs einseitig sei. Die Filme wirkten, besonders wenn sie Kultstatus erlangten, auf das Milieu zurück. Sie liefern möglicherweise auch Modelle dafür, wie man als junger Gangster von sich reden macht und sich durchsetzt.

Vielleicht wollte der junge Mann Geld von Thomas S. Möglicherweise wollte er den berühmten und erfahrenen Thomas S. aber auch überreden, noch einmal ein großes Ding mit ihm zu drehen. Aber das sind, wie gesagt, bloß Fantasien und Vermutungen. Es kann alles ganz anders und viel prosaischer gewesen sein. So mutmaßen die Ermittler inzwischen, Thomas S. habe Anfang 2014 zusammen mit zwei jüngeren Männern einen Kurierfahrer überfallen. „Die Räuber kamen aus dem Wald und legten einen abgesägten Baumstamm quer über die Fahrbahn“, schrieb die Gießener Allgemeine am 8. Mai 2014. Man vermutet, dass es zwischen den Komplizen wegen der Aufteilung der Beute zum Streit gekommen ist, der dann tödlich eskalierte.

Man muss kein Prophet sein, um dem Mann, der Thomas S. erschossen haben soll, vorherzusagen, dass er im Strafvollzug einen schweren Stand haben wird. Thomas S. war schon zu Lebzeiten in der Parallelwelt des Gefängnisses eine Berühmtheit. Nun wird er erst recht zur Legende.

Götz Eisenberg, geboren 1951, ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Seit Jahrzehnten veröffentlicht er Texte, Essays und Bücher, die sich in vielfältigem Sinne mit den Themen Gewalt und Täterschaft befassen. Zuletzt: Damit mich kein Mensch mehr vergisst: Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind im Pattloch Verlag. Eisenberg arbeitet seit rund 20 Jahren als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach

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